Frank
Böttcher, Cornelia Klauß (Hg.)
Unerkannt durch Freundesland
Illegale Reisen durch das Sowjetreich
Es hat sich als Erklärungsmuster bis in die
Geschichtsbücher hinein erhalten: Fehlende Reisemöglichkeiten jenseits der üblichen
Ferienaufenthalte in Badeorten am Schwarzen Meer oder am ungarischen Balaton
brachten die Bevölkerung der DDR so sehr gegen ihr Regime auf, dass sie
fluchtartig im Sommer 1989 das Land verließen und so zum Zusammenbruch des
Staates beitrugen. Mag dies im Großen und Ganzen auch zutreffen, so tauchen im
Rückblick bei genauerem Hinsehen auch Alternativen zu dieser staatlichen
Reiselenkung und -verhinderung auf. Einige DDR-BewohnerInnen verfügten durchaus
über eigene Ausweichstrategien gegenüber der herrschenden Partei- und
Polizeimacht, so dass auch das Reiseverbot seine Umgeher fand. Sich der
Menschen zu erinnern, die auf ganz besondere Weise vorgeschriebene Regeln
kreativ umgingen, war das Ziel der Filmemacherin Cornelia Klauss, die in einem
Dokumentarfilm und mit einer Ausstellung das Phänomen »Unerkannt durch
Freundesland« (UdF) einem größeren Publikum bekanntmachte. Glücklicherweise
überführte sie Film und Ausstellung dann auch in eine gelungene und äußerst
lesenswerte Buchform. Zwei Jahre nach Erscheinen liegt nun bereits die dritte,
um weitere Beispiele erweiterte Auflage vor.
Worum geht es? Um die bürokratische Existenz der »Reiseanlage für den
visafreien Reiseverkehr«, die Bürgern der DDR erlaubte, »über VR Polen, UdSSR,
CSSR, Ungarische VR auszureisen«. Seit 1969 galt diese Regelung des Transits
durch die Sowjetunion, um vorgegebene Drittländer innerhalb des Warschauer
Pakts zu erreichen. Der Transit war auf 2–3 Tage festgelegt. Die Stasi musste
aber, wie der Historiker Christian Halbrock akribisch belegt, hin und wieder
zur Kenntnis nehmen, dass einige Reisende diese Vorgabe ganz individuell
auslegten: Etwa jene drei Dresdner Studenten, die 1988 von der sowjetischen
Miliz am Japanischen Meer mit einer längst abgelaufenen »Reiseanlage« für den Transit
nach Rumänien aufgegriffen wurden – einem Land, das offensichtlich nicht auf
ihrer Reisestrecke lag. »Zu ihrer Entschuldigung gaben sie an, zur ,Eröffnung
eines Karl-Marx-Denkmals‘ zuvor über Petropawlowsk nach Kamschatka gereist zu
sein.«
Die erforderliche ›Einladung‹ hatten sie sich mit Xerox-Kopien eines
Schriftwechsels zwischen dem Oblast-Komitee des Komsomol auf Kamschatka und
einer DDR-Jugendorganisation selbst gebastelt…
Ob auf Zügen, zu Fuß, im Flugzeug, im Bus, mit dem Moped oder Motorroller, dem
Fahrrad oder einem selbstgebauten Eissegler auf dem Baikal-See – das Erlebnis
fantastischer Landschaften und freundlicher Menschen war für jeden der UdF’ler
der eigentliche Gewinn oft abenteuerlicher Trips bis tief nach Asien oder
Sibirien hinein. »Kein Buch hätte jemals ein so plastisches Bild der
Sowjetunion vermitteln können, wie wir es unterwegs gewannen. Wir lernten
bewundernswerte Menschen kennen, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen, und
verachtungswürdige. Wir begegneten Bürokraten, Denunzianten, Antisemiten,
zynischen Nutznießern der politischen Verhältnisse, aber auch Menschen, die dem
System tapfer ihre Freiheit und Würde abtrotzten.«
Für die Nestflüchter war UdF auch Teil einer Initiation in das Leben als
Erwachsener und einer Einsicht in die unter ideologischen Phrasen verschüttete
Realität. Einige brachten es später als Politiker recht weit, der
Mitherausgeber und UdFler Frank Böttcher gründete den erfolgreichen Verlag, in
dem das Buch »Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich«
erschienen ist. Glücklicherweise ist der Band mit zahlreichen, von den UdF’lern
aufgenommenen, sehr ausdrucksstarken Fotos und im Umschlag mit typischen
Postkarten der Zeit versehen, so dass die lebhaften Erzählungen mit der
Gestaltung des Bandes sich für den Lesenden zu einem differenzierten
Gesamteindruck dieser historischen Reiseform ergänzen. Nachzuholen ist diese
nicht mehr, denn viele der damals innerhalb des Sowjetimperiums ohne Pass
erreichbaren Regionen sind heute unabhängige Staaten und unterliegen eigenen
(oft sehr restriktiven) Passbestimmungen.
Den
vollständigen Beitrag lesen …
Markus Bauer, auf: www.literaturkritik.de
Dies ist ein im wahrsten Sinne des
Wortes spannendes und buntes Buch, denn es entführt uns auf sehr charmante Art
in eine längst vergangene Periode und in Regionen und Landschaften, die zu
einem Staatsgebilde gehörten, das nunmehr seit über zwanzig Jahren verschwunden
ist.
Die Protagonisten, die ihre Reiseerlebnisse zum Besten geben, leben aber in der
Regel noch und erinnern sich lebhaft zurück. Die Vitalität ihrer Schilderungen
ergibt sich nicht nur aus der bis heute in ihrer Narration durchschimmernden
Begeisterung, sondern auch aus dem Umstand, dass dieser umfängliche, bestens
redigierte Band mit zahlreichen Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien ausgestattet
ist, was ihm den Charakter einer außergewöhnlichen Dokumentensammlung verleiht.
Aus dem Editorial von Frank Böttcher und dem Vorwort von Cornelia Klauß, die im
Jahre 2006 den gleichnamigen Film gedreht hat, erfährt man einleitend
Grundlegendes über die Mentalität und Motivation der sogenannten »Transitniks«,
die sich – gefangen im grauen Alltag der DDR – für einige Wochen oder Monate
ein Stück Freiheit nahmen, um in die fernsten Gebiete des damaligen
Freundeslandes UdSSR vorzustoßen. Und zwar illegal und unerkannt und bei
ungesetzlicher Nutzung von Transitvisa, die sie bestenfalls zum Aufenthalt in
den ebenfalls befreundeten, aber wesentlich kleineren und weniger exotischen
Volksdemokratien Bulgarien oder Rumänien berechtigten.
In der Tat war das damalige sozialistische Raum-Zeit-Gefüge, das von der Elbe
bis in den Fernen Osten reichte, trotz zahlreicher Zeitzonen, ein quasi
einheitliches, das sich von dem heutigen fundamental unterscheidet. Denn sowohl
Zeit als auch Raum, den sie sich illegal nahmen, standen unseren Protagonisten
reichlich zur Verfügung. Immerhin hatte man als Student im Sommer zwei Monate
frei oder man kündigte seinen Job, um sich eine Auszeit zu nehmen. Im real
existierenden Kapitalismus wohl eher ein Ding der Unmöglichkeit!
Innerhalb des riesigen Freundeslandes, wo es keine politischen Grenzen gab,
erwiesen sich die Kontrollen der illegal Reisenden zudem als überraschend
lasch. Und selbst wenn man erwischt wurde, fielen die Sanktionen geradezu
harmlos aus. Dazu gesellte sich eine durchweg überbordende Gastfreundschaft der
homines sovietici, die vom Baltikum über Georgien bis hin ins mittelasiatische
Turkestan reichte.
Sicherlich waren die Motive der unerkannt reisenden »Transitniks«
unterschiedlich. Neben christlicher Mission nebst Bibel-Schmuggel oder dem
Kontakt zur mehr oder minder bekannten (oppositionellen) Kunstszene (z.B. Bulat
Okudžava) waren es vor allem Neugier, Fernweh, Abenteuerlust und das Streben,
dem engen, kleinbürgerlichen Rahmen der DDR-Gesellschaft zumindest zeitweise zu
entrinnen, ohne ihn grundsätzlich in Frage zu stellen.
Häufig wird in den Schilderungen hervorgehoben, dass man als weitgereister
»Transitnik« mit einem neuen Selbstwertgefühl in die hermetische, miefige DDR
zurückkehrte, da man sich eine bis dahin nicht gekannte Form der Freiheit und
der Interkulturalität erworben hatte. Fernab von allen offiziösen
Freundschaftsritualen, eben von Mensch zu Mensch. Auf diese Weise wurden in den
entlegensten Teilen der UdSSR nicht selten aus Fremden oder flüchtigen
Bekannten, bei denen man durch Mund-zu-Mund-Propaganda eine vorläufige private
Bleibe fand, Freunde fürs Leben.
Dass es dabei nicht nur darum ging, möglichst weite Strecken zurückzulegen, um
ferne exotische Kulturlandschaften zu entdecken, sondern dass auch ein
vertikaler Anspruch formuliert und realisiert wurde, wird spätestens dann klar,
wenn man sich mit Bergsteigern aus der DDR beschäftigt, die sich aus den
bescheidenen Mittelgebirgen ihrer Heimat auf die Dächer der sozialistischen
Welt trauten. Ihnen hat Kai Reinhart einen bemerkenswerten Aufsatz gewidmet.
Dieser sehr lesenswerte Sammelband, der eine Menge landeskundlichen Materials
über Regionen, Landschaften und Menschen der ehemaligen UdSSR liefert,
berichtet vom mehr oder minder kalkulierten Risiko friedlicher
Grenzüberschreitender, die auf ihren außergewöhnlichen Reisen so manch gut gehütetes
Vorurteil revidieren mussten und auf ihren langen Routen und steilen Touren die
fundamentale Erfahrung einer ideologieund marktfernen, sehr humanen Form von
Begegnung machten, die sie durchweg als enorme Bereicherung verbuchten. Reisen
bildet eben, illegales Reisen erst recht!
Zbigniew Wilkiewicz, in: OSTEUROPA, 62. Jahrgang (4/2012)
Von wegen sozialistische Brudervölker:
Vor der Wende durften DDR-Bürger nicht auf eigene Faust durch die Sowjetunion
reisen. Wer es trotzdem tat, erlebte Abenteuer.
Die Idee
stammte aus einem DDR-Comic und war ebenso reizvoll wie waghalsig: Fix und Fax,
zwei freche Mäuse, basteln sich darin aus Langeweile einen Segelschlitten und
haben einen Heidenspaß, damit über’s Eis zu brausen. Als Kind liebte Uwe
Wirthwein diese Geschichte. Als 27-Jähriger wollte er sie selbst erleben. Er
überredete Freunde, das abenteuerliche Gefährt nachzubauen und auszuprobieren
– und zwar auf dem Baikalsee, dem fernen Sehnsuchtsort, an den Ostdeutsche auf
eigene Faust eigentlich gar nicht hinfahren durften.
So kam es, dass im Sommer 1988 fünf junge Männer aus Dresden Nylonballen über
die Grenze schmuggelten, sich mit 36 Kilogramm schweren Rucksäcken bis nach
Sibirien durchschlugen, dort Bäume fällten und schließlich einen riesigen
Segler mit fünf Meter langem Mast aufs Eis des Baikal setzten. Sie reisten
»Unerkannt durch Freundesland« (UdF) und waren damit Teil einer Bewegung, von
der bis zum Ende der DDR nur Eingeweihte wussten. Hunderte junger Leute
entflohen der räumlichen Enge ihres Landes in den 70er- und 80er-Jahren durch
Schlupflöcher im bürokratischen System. Sie erklommen im Kaukasus schroffe
Gipfel, erkundeten märchenhaft fremde Republiken in Zentralasien, streiften
wochenlang durch sibirische Weiten - irgendwie illegal, aber von überforderten
Behörden oft nur halbherzig aufgehalten. Reisen in die Sowjetunion waren damals
offiziellen Gruppen vorbehalten und für den Individualtourismus tabu. Doch
seit dem Prager Frühling 1968 kam ein Transitvisum zur Anwendung, das eine Durchreise
durch die UdSSR erlaubte, um die unruhige Tschechoslowakei zu umgehen. Nie
wieder abgeschafft, wurde es für viele junge Menschen zur Eintrittskarte in ein
Land, das sich verheißungsvoll über elf Zeitzonen ausdehnte. Wer es schaffte,
nach der Einreise »von der offiziellen Route abzuhauen und ins Landesinnere zu
gelangen, konnte sich danach relativ frei bewegen«, erinnert sich UdF’ler
Frank Böttcher.
Zusammen mit der Dokumentarfilmerin Conny Klauß hat der Berliner Verleger ein
wunderbares Buch herausgegeben, das die Erinnerungen der waghalsigen Reisenden
versammelt. Halb Reisetagebuch, halb Geschichtsdokument, zeigt es mit Liebe
zum Detail und zahlreichen Fotos, was herauskam, wenn DDR-Bürger die Parole von
der deutsch-sowjetischen Freundschaft wörtlich nahmen. Nahezu einhellig
berichten sie von überschwänglicher Herzlichkeit, von offenen Armen, mit denen
sie allerorts aufgenommen wurden. Sie erzählen von Milizionären, die in
Verhören ratlose Fragen stellten und anschließend Fahrkarten in den nächsten
Verwaltungsbezirk organisierten, um die unliebsamen Wanderer möglichst
schnell loszuwerden. Und sie brachten Fotos mit, die ganz und gar nicht zum
Bild von der UdSSR als kommunistischem Paradies passten: zerfallene Wohnhäuser,
bettelnde Rentner, zusammengeflickte Traktoren. Ein Großteil der UdF-Reisenden
waren Bergsteiger, die sich mit Ausrüstung der »Marke Eigenbau« auf den Weg
ins Gebirge machten. Sie schnitten sich Isomatten aus Fußboden-Isolierstoff
zurecht, nähten Schlafsäcke aus westlichen Katalogen nach und verfassten die
Delegierungsschreiben für ihre Expeditionen selbst. Andere interessierten sich
weniger für die Fünftausender als für die Menschen jenseits der Grenze.
Ekkehard Maaß, der zur Gitarre Lieder von Wolf Biermann und Bulat Okudschawa
sang, besuchte auf seinen ausgedehnten Fahrten häufig Dissidenten. In Tiflis
ließ er sich von Regisseur Sergei Paradschanow bewirten, in Kirgisien traf er
Tschingis Aitmatow, der ihn als offiziell linientreuer Schriftsteller mit
muslimischen Gebeten überraschte. Der Thüringer Pfarrer Gernot Friedrich
wiederum fuhr etliche Male in die UdSSR, um versteckte deutsche Gemeinden mit
Bibeln zu versorgen. Außer der Schmuggelware hatte er meist nur ein Stück
Seife und zwei Hemden in einem Stoffbeutel dabei. Eines eint diese Menschen, so
unterschiedlich ihre Motive und Interessen auch gewesen sein mögen: Sie haben
(Reise-)Freiheit nicht gefordert, sondern sie sich einfach genommen – und
gerade deswegen sind sie vielleicht so weit gekommen.
Ulrike Gruska, in: Russland heute,
7.12.2011
Der Titel mit seiner
etwas verqueren Logik macht neugierig. Es verbergen sich darunter 25 Berichte
von Angehörigen eines »letzten Völkchens von Bergsteigern, Aussteigern und
Landstreichern«, die Reiseerlebnisse der besonderen Art zusammengetragen haben.
Der Weg in den Süden oder den Westen ihres Heimatlandes Liliput (DDR) war ihnen
versperrt. So wollten sie das sagenhafte Reich der Brüder im Osten erkunden,
seine hohen Gebirge stürmen, seine weiten Steppen queren und mit seinen
unbekannten Völkern und ihrer Kultur in Berührung kommen. Unterschiedlich waren
ihre Motivationen für dieses illegale Reisen. Es gab dorthin keinen freien oder
gar unbegleiteten Zugang oder eine selbstverständliche Bewegungsfreiheit trotz
Deutsch-Sowjetischer Freundschaft. Es reizte auch der Blick auf die Realität,
über das hinaus, was die politische sozialistische Bildung anbot. Und dann gab
es auch noch den Ruf der Berge, der richtig hohen. Man durfte aber in der
Sowjetunion (UdSSR, SU) nur mit einem Visum und Aufenthaltsgenehmigung
einschließlich behördlich bestätigter Reiseroute, der legendären Marschrut,
unterwegs sein, in überwachten Reisegruppen, an der Hand eines persönlich
Einladenden oder aus anderen genehmigungspflichtigen Gründen. Das war nicht
jedermanns Sache. So suchten einige dieser Regelignoranten Möglichkeiten, im
Transit, z.B. nach Rumänien, die SU randständig für 1–2 erlaubte Tage mit der
Bahn zu durchfahren. Sie nutzten diese Gelegenheit dann aber für wochenlange
ungenehmigte »Ausbeulungen« der Marschrut. So gelangte diese »Transitniks« auf
abenteuerliche Weise in die Täler, das Hinterland und die auf die Gipfel des
Kaukasus, des Fan-Gebirges, des Alai, Altai, Tien-Shan und Pamir, auf die Krim
und an den Stillen Ozean. Sie reisten mit Flugzeug, Zug, Bus, Schiff, viel auch
per Anhalter auf allen denkbaren Fahrzeugen, einer sogar im Helikopter. Sie
mussten aber viel dafür tun, von der Öffentlichkeit nicht als Deutsche bzw.
Ausländer von den Kontrollen der staatlichen Sicherheit und überwachsamen
Sowjetbürgern identifiziert zu werden. Die grundlegenden Schulkenntnisse in
Russisch waren da hilfreich. Sie nahmen unsägliche Strapazen und Risiken auf
sich, um an Inlandfahrkarten zu kommen, einen Schlafplatz zu finden und zu
behaupten, sich zu ernähren. Und dazwischen immer wieder dies fast gewalttätige
Gastfreundschaft von Menschen, deren Wege sie kreuzten. Von Staatssicherheit
(KGB) und Polizei (Miliz) wurden sie fast alle irgendwann einmal aufgegriffen,
eingesperrt und verhört. Es ging fast immer glimpflich aus. Man wusste nicht so
recht etwas mit diesen problematischen Streunern aus dem Bruderland anzufangen.
Weiterschieben aus der Zuständigkeit der regionalen Bürokratie in die nächste
war eine probate Lösung. Die Wanderer profitierten davon. Und so gingen sie
über das Eis von Stalins heiligem Meer Baikal, schwammen auf der wilden Lena,
setzten ihren Fuß auf die Kurische Nehrung , sahen Königsberg (Kaliningrad),
das schöne Wilnius, die märchenhaften Städte Mittelasiens. Es war eine absurde
Freiheit im großen Bruderreich, die sie genossen. Eine besondere
Herausforderung stellte der Zugang in die zahlreichen »geschlossenen«, also
verbotenen Gebiete dar, in denen Ausländer nichts zu suchen hatten. Sie
berichten von ethischen Spannungen, von unvermeidlichen Besäufnissen mit und
ohne Staatsmacht und von Kinderwachsoldaten. Sie bezahlten mit Jeans,
Karo-Zigaretten und Kaugummi. Sie sahen das Elend an den Rändern der
kommunistischen Kommunen, erleben ein Harfenkonzert auf dem Gletscher, leiden
unter Kopfläusen, bekommen fette asiatische Fliegen als Delikatesse in die
Suppe gestreut und wähnen sich in Bahnhofshallen in der Achselhöhle des
russischen Bären.
Eine verschworene oder gar homogene Truppe waren diese UdF-Fahrer nicht. Man
wusste voneinander, kannte sich auch punktuell, half sich gegebenenfalls. Sie
waren nicht der politischen DDR-Opposition zuzurechnen und wollte in der
überwiegenden Mehrzahl nicht für immer außer Landes. Einigen soll allerdings
diese exotische Weise der »Republikflucht« via Mongolei und China geglückt
sein. Zwei Abenteurer versuchten, Alaska zu erreichen, scheiterten aber im
Tiefsten Norden Sibiriens an der Natur und der Staatssicherheit, was ihnen das
Leben gerettet haben dürfte.
Einige wenige Erwischte verloren zu Hause ihre Bewegungsfreiheit, erlangten sie
aber dann durch Androhung von Wahlboykott wieder. Die Texte sind keine
literarischen Kostbarkeiten und in der stilistischen Qualität sehr
unterschiedlich. Sie sind mit schwarz-weißen Fotos ausgestattet. Eine sehr
informative Farbfoto-Sammlung ist mittig eingeheftet. Die Einführung zum Buch
spricht der menschenfreundliche Wladimir Kaminer, der von dort kommt, wo sie
hinstrebten. Ob sich in den Berichten auch etwas Nostalgie versteckt, können
nur die Autoren wissen. Spannend sind sie für den Zeitgenossen allemal.
F.TA. Erle, in: Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 22 (2011) 11
Nach dem im Jahr 2010 erschienenen, von Jörg Kuhbandner und Jan
Oelker herausgegebenen Band »Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion«
liegt mit dem hier vorzustellenden Buch aus dem Berliner Lukas Verlag eine
zweite umfängliche Darstellung zur Geschichte privat organisierter
Individualreisen junger DDR-Bürger vor, die sich seit den frühen 1970er Jahren,
unter Rückgriff auf eine Lücke in der auch in Richtung Osten restriktiven
Reisegesetzgebung, abseits offizieller, über das staatliche Reisebüro der DDR
bzw. das FDJ-Reisebüro Jugendtourist angebotener und durchgeführter
Urlaubsreisen eigenständig Land, Leute und Kulturen der UdSSR erschlossen. Der
Sammelband basiert auf zahlreichen Berichten, Interviews und anderen
Materialien, die 2010 als Grundlage für eine viel beachtete Ausstellung
gleichen Namens im Stadtbezirksmuseum von Berlin-Lichtenberg dienten. Mit dem
Außenstehenden auf den ersten Blick kryptisch anmutenden Titel hat es eine ganz
besondere Bewandtnis. Da den Reisenden aus der DDR lediglich ein zeitlich eng
begrenztes Transitvisum nach Rumänien oder Bulgarien als Eintrittsbillet in die
Sowjetunion diente, mußten sie, nachdem sie ihre quasi offizielle Reiseroute
verlassen und das Zeitlimit überschritten hatten, beim Zusammentreffen mit
Miliz, KGB, Militär oder anderen staatlichen Amtsträgern stets mit Problemen
(nicht selten Festnahme, Verhöre, Strafen und schließlich Abschiebung nach
Berlin in die Hände des MfS) rechnen und daher soweit als möglich unerkannt
bleiben. Der aus dieser Situation geborene Name »Transitnik« bzw. »UDF-ler«
(UDF = unerkannt durchs Freundesland) wurde daher bis zum Ende der DDR nicht
zuletzt auch zu einem eigenen Topos für widerständiges Verhalten gegen das von
der SED propagierte und realisierte Gesellschaftsmodell, das den »eigenen«
Bürgern neben vielem anderen auch das Recht auf Freizügigkeit beschränkte bzw.
ganz vorenthielt. Im Unterschied zu oben genanntem Band finden in dieser
zweiten Darstellung nun auch in breiterem Maße Reiseberichte Eingang, die
weniger das Erleben grandioser Landschaften des sowjetischen Riesenreichs aus
der Perspektive des Wanderers oder Bergsteigers in den Mittelpunkt rücken,
sondern die vielmehr eine Vorstellung vom intellektuellen Austausch junger,
unangepaßter Menschen beider Länder vermitteln, die gleichermaßen die
Entwicklung des Sozialismus in ihren Heimatländern kritisch reflektierten und
gesellschaftliche Alternativmodelle offen diskutierten. So geben die Berichte
von Michael Beleites und Stephan Gast eine beredte Vorstellung vom moralischen
und wirtschaftlichen Zustand der Sowjetunion in den 1980er Jahren wie von den
kaum verborgenen ethnischen Frontstellungen – etwa der Gegnerschaft, ja Feindschaft
zwischen Balten und »Russen« –, die bereits zu diesem Zeitpunkt das Ende der
UdSSR vorweg zu nehmen schienen und dem auch in der DDR verbreiteten Bild vom
»Großen Bruder« diametral gegenüberstanden. Die von einem Vorwort des
Herausgebers eingeleiteten 19 Berichte finden in mehreren quellenfundierten
Beiträgen eine gelungene Ergänzung. Christian Halbrock etwa versucht erstmals
das Wirken des MfS in der bzw. auf die Szene der »Transitabweichler« sowie
Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation zwischen MfS und KGB auf diesem
Sektor zu rekonstruieren und kommt dabei zu erstaunlichen Ergebnissen. Nicht
allein daß dem DDR-Staatssicherheitsdienst offenbar nur wenige Informationen
aus der UdSSR zuflössen; das Gros der Erkenntnisse erlangte man auch hier über
eingeschleuste inoffizielle Mitarbeiter. Wohl waren die illegalen
Transitreisenden den sowjetischen Behörden lästig, insbesondere suchte man zu
verhindern, daß aus diesem Personenkreis Bibeln in das Land gebracht wurden
(die Einfuhr unterlag einem Verbot). Trotz der auch in der Spätphase des
sowjetischen Kommunismus gepflegten Spionagefurcht schien man jedoch beim KGB
von der Harmlosigkeit der ostdeutschen Touristen überzeugt, die durch ihren
Erfindungsreichtum und ihre Zielstrebigkeit, sich die »Weiten der Sowjetunion«
bis hinauf auf die 7000er der Hochgebirge Mittelasiens zu erschließen,
allenfalls das offensichtlich weit verbreitete Desinteresse von Miliz,
Straßenaufsicht (GAI) und KGB demaskierten, sich mit Problemen jedweder Art in
der vorgeschriebenen Weise auseinanderzusetzen. Überdies gab es wohl auch
innerhalb des DDR-Staatssicherheitsdienstes einflußreiche Kräfte, die sich
gegen eine weitere Verschärfung der Reisegesetzgebung aussprachen, die in
dieser Konstruktion vielmehr eine Art Überdruckventil für besonders
unternehmungslustige junge Menschen sahen. Ergänzt wird der vorliegende Band
durch zahlreiche Bilder, die einen ganz eigenen Eindruck vom Alltag in der
Sowjetunion der 1970er und 1980er Jahre wie von den teils waghalsigen
Unternehmungen der »UDF-ler« bzw. »Transitniks« vermitteln und bietet damit
einen höchst lesenswerten und spannenden Blick auf ein Stück bislang weitgehend
unbekannter DDR-Geschichte.
Hendrik Thoß, in: Das Historisch-Politische Buch, 59. Jahrgang 2011, Heft 4
Ich hörte Punk in Vilnius
und sah einen Engel in Leningrad – Illegale Reisen durch das Sowjetland, ein
phantastisches wie wahres Sachbuch zu einem abseitigen Thema.
Berlin (Weltexpress) –
Sowjetland, ein phantastisches wie wahres Sachbuch zu einem abseitigen Thema … »Wir
hatten uns in Gursuf verabredet. Dort gab es Weinberge, Wald, abgelegene
Strände und tolles Wasser. Es war so ein Ort, wo sich die Szene, russisch
tussowka, schon immer gerne traf, zeltete, am Lagerfeuer Gitarre spielte, sich
von Weintrauben ernährte und gelegentlich einen Joint herumreichte. Die Leute
kamen aus allen Ecken der Sowjetunion und reisten den Sommer über durchs Land…
Wirklich belastend waren nur die Kopfläuse, die ich bis zum Ende der Reise
partout nicht mehr loswurde.«
Dieses Buch ist ein Sommerbuch. Immer im Sommer machten sich reiselustige
Menschen aus der DDR auf den Weg in die Ferne, in die unerlaubte Ferne
wohlgemerkt. Denn Reisen war in der DDR ein heikles Thema. Da der Westen tabu
war, ging es in Richtung Osten, aber auch hier gab es vielerlei
Einschränkungen. Polen war in den achtziger Jahren kaum bereisbar und nicht
einmal die Sowjetunion durfte man ohne offizielle Erlaubnis und den
Geleitschutz einer Reisegruppe besuchen. Wie überall lockte jedoch gerade das
Verbotene. Unangepasste junge Leute unternahmen mit Hilfe eines Transitvisums,
das nur für drei Tage galt, wochenlange riskante Expeditionen in ein
Riesenreich, das elf Zeitzonen umfasste und gigantische Landschaften versprach.
Im vorliegenden, gründlich recherchierten und mit authentischem Bildmaterial
aufbereiteten Handbuch kann nun nachgelesen werden, wie sich solche Reisen
anfühlten und abspielten. Absurditäten des sowjetischen Alltags und der
Bürokratie und eine schier unglaubliche Gastfreundschaft begegneten so gut wie
allen illegal Reisenden. Tausende Rucksacktouristen unternahmen ab Mitte der
sechziger Jahre bis 1989 Erkundungen auf eigene Faust kreuz und quer durch die
riesige Sowjetunion – immer auf der Flucht vor dem KGB und der Miliz. Manch
einer war dabei tatsächlich auf der Flucht, wie die Geschichte Jürgen van
Raemdoncks zeigt, der mit einem Freund gleich zweimal aufbrach, um von Sibirien
aus nach Alaska übers Eismeer zu fahren. Dass die beiden zweimal an der
gleichen Stelle scheiterten, rettete ihnen wahrscheinlich das Leben.
Die von den Herausgebern verdichteten Zeitzeugeninterviews erzählen
individuelle Geschichten, manchmal reflektiert und genau beobachtet, manchmal
spröde, manchmal lamentierend oder etwas zu prahlerisch, eben vielfältig wie
die UdF-Reisenden selbst. Da trifft Ekkehard Maass singend auf Künstler,
tauscht sich der spätere Landesbeauftrage der Stasi-Unterlagen (Sachsens) mit
litauischen Oppositionellen aus, ein anderer schmuggelt Bibeln und eine andere
erklimmt den Pik Lenin. Bis nach China und in die Mongolei sind die
Ostdeutschen gelangt, nach Swanetien und ans Schwarze Meer, in die asiatischen
Republiken und in verbotene Städte, mit selbstgenähten Schlafsäcken und
Schweißer-Brillen als Schutz gegen die Sonne auf verschneiten Gipfeln. Eine
Truppe segelte über den Baikalsee, eine andere nahm an einem Triathlon in
Odessa teil…
Angeregt durch den bereits 2006 produzierten gleichnamigen Film von Cornelia
Klauß fasste Frank Böttcher die Gelegenheit beim Schopfe, seine eigenen
UdF-Reise Erfahrungen mit mehr als zwanzig weiteren Erlebnisberichten und
einigen Essays als straff lektoriertes und das Thema erschöpfendes Sachbuch in
seinem Lukas-Verlag herauszubringen. Dass der Sohn des Verlags-Chefs und
Mitherausgebers auf einer dieser Reisen in schwindelnden Höhen gezeugt wurde,
ist nur ein weiteres Glitzersteinchen in diesem wahrhaft brillanten Band zur
Zeitgeschichte. Dank an Verlag und Herausgeber für die Fleißarbeit und
wunderbare Kombination von erzählerischer Freiheit, autarker Bebilderung und
behutsam ergänzter Dokumentation!
Dass noch nicht alles auserzählt wurde zum Thema der aufmüpfigen wie
widerständischen Abenteurer made in GDR mag ein Satz aus der Schlusssequenz des
großartig andeutenden Textes von Stephan Gast nahelegen, aus dem bereits
eingangs zitiert wurde: »… Die Strecke führte an Tschernobyl vorbei, ich sah
Malerei in Ionowo, hörte Punk in Vilnius, sah Evangelisten in Tallin, Krishnas
und einen Engel in Leningrad, es war noch allerlei los.«
Anne Hahn, in: Weltexpress.info am 24.
Juli 2011
Reisefreiheit
war eins der großen Themen, als die DDR ihrem Ende entgegentaumelte: 20 Jahre
nach Wende und Wiedervereinigung erscheinen zwei Bücher, in denen Dutzende
ehemalige DDR-Bürger von ihren abenteuerlichen Reisen durch die Weiten der
Sowjetunion berichten.
Wer hätte das gedacht:
20 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung erscheinen zwei Bücher, in denen
Dutzende ehemalige DDR-Bürger von ihren abenteuerlichen Reisen durch die Weiten
der Sowjetunion berichten.
Das eine der beiden Bücher heißt »Transit« und ist derzeit Reisebuch des Jahres
2010 beim Outdoorausrüster Globetrotter. Das zweite Buch ist noch besser, weil
vielfältiger, und heißt »Unerkannt durch Freundesland«. Beide Bücher sind
faszinierende, fette Schmöker randvoll mit Abenteuergeschichten und tollen
Bildern, beide regen zum Träumen an, beide haben die Kraft, neue Generationen
für den Wilden Osten zu begeistern. Beide liefern zudem wichtige Bausteine zu
einem differenzierten Bild der Sowjetunion und der DDR.
Aber der Reihe nach.
Reisefreiheit war eins der großen Themen, als die DDR vor 22 Jahren ihrem Ende
entgegentaumelte. Die meisten Menschen verbinden damit die Vorstellung, dass
Ostdeutsche den Eisernen Vorhang nur sehr schwer überwinden konnten. Das
stimmt, doch waren auch Reisen in die sozialistischen Bruderländer des
Ostblocks nicht so einfach, wie man im Westen gern annimmt. Die
Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien waren in den 70er und
80er-Jahren vergleichsweise einfach zu bereisen. Für Reisen nach Prag reichte
der Personalausweis. Wer nach Budapest, Bukarest, Sofia, zum Balaton, ans
Schwarze Meer oder in die Karpaten wollte, beantragte bei der Polizei ein Visum
und erhielt das gewöhnlich auch. Reisen nach Polen aber waren seit 1981 nahezu
unmöglich. Ebenso Reisen nach Jugoslawien. Auch der größte der sozialistischen
Brüder, die Sowjetunion, war zumindest für private Reisen gesperrt.
Für Reisen in die Sowjetunion brauchten DDR-Bürger ein Visum. Das aber bekam
man nur als Mitglied einer Reisegruppe oder auf persönliche Einladung. Auf
Individualtouristen mit Rucksack, die ihre neugierigen Nasen in die
entfernteren Ecken des Riesenreichs stecken wollten, hatte die paranoide
Sowjetunion keine Lust.
Weil aber der real existierende Sozialismus weit weniger gut organisiert und
kontrolliert war, als man gemeinhin annimmt, gab es auch hier ein Schlupfloch,
das in den 70er und 80er-Jahren Tausende Wagemutige zu spektakulären Reisen
nutzten.
»Es gab so ein Abkommen zwischen der DDR und der SU, und wohl auch nur zwischen
der DDR und der SU und nicht mit den anderen sozialistischen Ländern, dass man
wenn man nach Rumänien wollte, man über Polen und die Sowjetunion im Transit
reisen konnte. Also nicht auf dem kürzesten Weg, über die CSSR und Ungarn, sondern
mit diesem kleinen Umweg.«
Frank Böttcher ist der Gründer und Verleger des Berliner Lukas-Verlag, einer
der beiden Herausgeber des Bandes »Unerkannt durch Freundesland« und in den
80er-Jahren selbst mehrfach in der Sowjetunion gereist.
»Wenn man das Visum bekommen hat, man musste das in der DDR beantragen, dann
war man in dem Land drin und hatte aber nur 48 oder 72 Stunden Zeit, die SU zu
durchqueren. Aber es kam darauf an, sich jetzt unabhängig zu machen, also
abzuhauen von der offiziellen Route. Also sich in einen Zug zu setzen oder zu
trampen. Das war der heikelste Moment der ganzen Reise. Wenn man es geschafft
hatte, 1000 oder 2000 Kilometer ins Land zu kommen, dann sah keiner mehr durch.
Dann konnte man sich da relativ frei bewegen.«
Genaue Angaben darüber, wie viele DDR-Bürger die Ritzen des Systems so frech
und elegant zu nutzen wussten, sind schwierig. Aber es müssen Tausende gewesen
sein. Wie die Reisen organisiert wurden, was man in der Sowjetunion erlebte und
was passierte, wenn die Sache doch aufflog, ist dank der beiden Bände »Transit«
und »Unerkannt durch Freundesland« nun in fantastischem Detailreichtum belegt.
[…]
Was aber war mit Angst, was mit den Gefahren, die jenseits von Gletschern,
hochalpinen Geröllwüsten und zugefrorenen Seen und Flüssen lauerten? Was war
mit Miliz und KGB? Schließlich waren die Reisenden ja oft monatelang komplett
illegal unterwegs. In der bösen Sowjetunion? Nun, allem Anschein nach verflog
die Angst schnell. Man sammelte Erfahrungen und merkte zweierlei. Erstens: Die
Gastfreundschaft der Russen, Kirgisen, Burjaten, Georgier und dutzender anderer
sowjetischer Völker war prinzipiell. Es gab wohl niemanden, der nicht wie
selbstverständlich zum Essen und Übernachten, auf Geburtstagsfeiern und
Hochzeiten eingeladen worden wäre. Oft mehrfach.
Die Gefahr, wirklich übellaunigen Beamten in die Hände zu fallen bestand auch,
aber wirklich Schlimmes ist niemandem passiert.
»Transit« und »Unerkannt durch Freundesland« sind wunderbare Reisebücher. Es
sind auch Bücher über die verblichenen Staaten Sowjetunion und DDR. Beide
erscheinen in diesen Büchern in vielerlei Gestalt. Vor allem aber als wohl
ambitionierte, aber doch inkompetente Diktaturen, deren Reisebeschränkungen mit
etwas Mut, Fantasie und krimineller Energie leicht auszuhebeln waren. Zudem
begegnet der Leser einer ganzen Phalanx cooler, frecher junger Leute, die weder
linientreue Kommunisten noch regimekritische Aufrührer waren. […]
Uli Hufen, in: Andruck, dradio am
17.7.2011
Fraglos ist es ein
ungewöhnliches Buch, das sich hinter dem Titel Unerkannt durch Freundesland verbirgt. Immerhin gibt
der Untertitel illegale Reisen durch das Sowjetreich schon etwas mehr
Aufschluß darüber, was den Leser erwartet. Es handelt sich um Reisen, die aus
dem Rahmen der normalen Gruppenreisen fallen und etwas außerhalb der Legalität
stattfanden. Doch diese Reisen geben nicht nur Aufschluß über das Leben und die
Verhältnisse außerhalb der offiziellen Touristenrouten in der damaligen
Sowjetunion, sondern im nicht geringeren Maße über die Verhältnisse in der
ebenfalls inzwischen untergegangenen DDR. Denn es waren DDR-Bürger, die sich
nicht einfach mit den Reisebeschränkungen zufriedengaben, sondern, wenn sie
schon nicht nach Westen reisen durften, wenigstens den Osten ausgiebig erkunden
wollten. Sie berichten in 25 Beiträgen, auf welchen (Um)Wegen sie dort
hingelangten und was sie dort erlebten.
Zu den Absurditäten in der sozialistischen Völkergemeinschaft gehörte es auch,
daß deren Bürger trotz Völkerfreundschaft und offizieller Visafreiheit nicht so
einfach ins Ausland reisen konnten. Insbesondere für Fahrten ins Mutterland des
Sozialismus waren die Hürden ziemlich hoch. In einigen Fällen kam erschwerend
hinzu, daß sich die hier zu Wort meldenden Reisenden der besonderen
Aufmerksamkeit der Stasi erfreuten, die übrigens im allgemeinen weniger kulant
als ihre sowjetischen Kollegen war. Immer wieder gelang es DDR-Bürgern mit
einem einfachen Transitvisum, von den eigenen Behörden ausgestellt, mit dem
Reiseziel Rumänien oder Bulgarien oder sogar Mongolei jeweils über die
Sowjetunion zu reisen. Dabei legten sie den »Transit«, der an sich auf 48
Stunden begrenzt war, sehr großzügig aus und fuhren ins Baltikum, in den
Kaukasus oder bis Vladivostok, was alles bekanntermaßen nicht auf dem direkten Weg
nach Bulgarien liegt. Als Einstimmung auf den bunten Reigen der sehr
unterschiedlichen Reiseberichte wird eine Groteske von Wladimir Kaminer
vorangestellt. In seiner kurzen Analyse der UdF-Bewegung (Unerkannt durch
Freundesland) zeigt
Christian Hufen einige
Besonderheiten des Phänomens auf. Überproportional scheinen sich die Sachsen
ihr angeschlossen zu haben, und außerdem war der Anteil der Alpinisten sehr
signifikant, weil sie in der Sowjetunion sehr attraktive Ziele fanden. Das
Verhältnis aller zum DDRRegime war recht distanziert, viele gehörten
kirchlichen Gruppen an oder standen Dissidentenkreisen nahe, wenn sie nicht
sogar dazu gehörten. In ihrem Falle traf das im besonderen Maße zu, was man
gewöhnlich mit dem Reisen verbindet. Es erweitert den Horizont, und der war,
wenn man von der Elbe bis zum Stillen Ozean reiste, erstaunlich weit.
Übrigens reisten nur die wenigsten nach Moskau, was verschiedene Gründe hatte.
Noch immer stimmt der Satz, daß Moskau nicht Rußland ist und wer das
authentische Rußland erleben will, in die Provinz fahren muß. Doch es hatte
sicherlich noch den praktischen Grund, daß dort der rote Zar und seine Häscher
in der Provinz weit weg waren. Die Kontrollen waren weniger streng und wenn man
doch außerhalb von seiner Transitroute erwischt wurde, verlief es meist
glimpflich. In Königsberg fuhr der KGB sogar die beiden »Illegalen« mit dem
Auto spazieren und überwachte sie so nicht nur, sondern schützte sie
gleichzeitig vor dem Regen.
Aufregend für die überwiegend jugendlichen Reisenden aus der DDR war die
Aufbruchsstimmung im Sowjetreich, die sie besonders in den Republiken an der
Peripherie zu spüren bekamen. Das war ein unerwarteter Kontrast zur Lage zu
Hause, was ihnen Hoffnung gab und gleichzeitig zum wiederholten Reisen
anspornte. Dabei mußte man manchmal die DDRBehörden unter Druck setzen, wenn
sie keine Reiseerlaubnis mehr erteilen wollten. Ein probates Mittel war, daß
man schriftlich bei der Partei ankündigte, nicht mehr an der nächsten Wahl
teilnehmen zu wollen. Einer beantragte darüber hinaus den Status des
Staatenlosen, weil man ihm selbst den Personalausweis abgenommen hatte. Diese
Drohungen nahmen die staatlichen Stellen überraschenderweise ernst und man
durfte wieder gen Osten aufbrechen. Wer diese Mutprobe zu Hause bestanden
hatte, war natürlich bestens für das Abenteuer »Sowjetunion« gewappnet. Muß man
noch einmal explizit erwähnen, daß viele der Reisenden der Bürgerrechtsbewegung
nahestanden?
Das Buch vermittelt nicht nur ungewöhnliche Einblicke in den sowjetischen
Alltag, vor allem der 1980er Jahre, sondern auch in die Befindlichkeit der
jungen DDR-Bürger jener Zeit. Die spannenden Reiseberichte werden so auch zu
einem bedeutenden Zeugnis unserer jüngsten deutschen Geschichte.
Klaus Steinke, in: Informationsmittel
(IFB)
In seinem eigenen Lukas
Verlag hat Frank Böttcher »Unerkannt durch Freundesland« verlegt und gemeinsam
mit Cornelia Klauß 2011 herausgegeben. Er reiste selbst erstmals 1983 per
Anhalter und per Bahn über Warschau, Lwow nach Tschetschenien und zum Elbrus. Ralph
Schipke wollte wissen, was er heute vom »UdF«-Tourismus hält.
Warum haben Sie sich in Ihrem Verlag
für Kunst- und Zeitgeschichte der illegalen DDR-Reisebewegung in die ehemalige
UdSSR angenommen?
Das Thema gehört einfach zu meiner eigenen Geschichte. Ja, wir leisteten uns
den Luxus, ein Buch über die persönliche Geschichte zu machen. Ich war selbst
in dieser Art des Reisens unterwegs. Das hat Biografie und Weltbild bis heute
geprägt. Das trägt man mit sich rum. Und ich wusste von vielen, die Ähnliches erlebt
haben. Andere wiederum ahnten absolut nichts von den »UdF«-Reisen. Ein
unbearbeitetes Thema. 2006 gab es dann den Film von meiner Mitherausgeberin
Cornelia Klauß. Den habe ich im Fernsehen gesehen. Es gab – typisch DDR – 1000
Querverbindungen mit Leuten, die ich kannte und die Conny kannten. Als
Filmemacherin gelang ihr nach meinem Gefühl ein guter Zugriff auf das Thema.
Ich gewann sie als Mit-Herausgeberin.
Warum erscheint das Buch im Jahre 2011,
22 Jahre nach dem Mauerfall, 21 Jahre nach der deutschen Vereinigung?
Nur als Kleinverlag kann man es sich leisten, stoisch und ignorant an solchen
Jahrestagen vorbeizuschauen. Wir hätten das gleiche Buch auch schon vor fünf
Jahren bringen können. Aber eine bestimmte Art von Erinnerung braucht
zeitlichen Abstand. Sie muss aber auch noch stark genug in einem drin sein.
Kurz nach der Wende haben wir uns alle mit anderen wichtigen Dingen befasst.
Jetzt war der Zeitpunkt, einen Beitrag zu leisten, aus der ost-west
Schwarzweiß-Malerei heraus zu kommen. Wir wollten der Frage nachgehen: Wieviel
Freiheit konnte man sich nehmen - im Osten?
Welches der Abenteuer – außer natürlich
Ihr eigenes – hat Sie am stärksten fasziniert?
Es gab viele Reisen nach dem Motto »Höher, schneller, weiter«. Alle sind auf
ihre Art beeindruckend. Das übereinstimmende Moment aller war die
Abenteuerlust. Egal, ob man 7000er bestieg oder Untergrund-Liedermacher oder
verkannte Künstler besuchte. Aber am wahnsinnigsten waren Jürgen van Reamdonck
aus Potsdam und sein Kumpel, die gleich zweimal versuchten, über Sibirien nach
Alaska abzuhauen. Das hatte schon suizidale Züge. Das war existenziell und am
heftigsten.
Ralph Schipke, im Nordkurier am 9.7.2011
Während die
meisten DDR-Bürger unter der Reise-Unfreiheit litten, reisten einige Wagemutige
einfach drauflos – und zwar in die sowjetischen Weiten. Offiziell durften nur
organisierte Touristengruppen dort hin, doch die Abenteurer behalfen sich mit
einem Trick: mit einem Transitvisum.
Der Trick funktionierte so: Der abenteuerlustige DDR-Bürger ging zur Polizei
und erzählte, dass er etwa nach Rumänien fahren will. Da es eine günstige
Zugverbindung über die Sowjetunion gebe, möge man ihm doch bitte ein
Transitvisum für die UdSSR ausstellen. Das Dokument verlangte, dass der
Reisende auf kürzestem Wege - innerhalb von 48 Stunden – die Transitroute
zurücklegte. Doch kurz hinter dem Sowjet-Schlagbaum änderte der
Rucksack-Tourist einfach die Richtung - und machte sich auf den Weg ins
Baltikum oder in den Kaukasus, zum Baikalsee oder in Richtung Seidenstraße. Per
Flugzeug, per Bahn oder Anhalter.
[…] Der heutige Rentner und 18 weitere Zeitzeugen haben ihre Reiseberichte
diktiert beziehungsweise selbst zu Papier gebracht – für den Sammelband
»Unerkannt durch Freundesland«. Die amüsanten und teilweise skurrilen Erzählungen
zeigen, wie die DDR-Rucksackfreunde zuerst einmal eigene Schlafsäcke nähten,
eigene Iso-Matten bastelten und eigene Landkarten zeichneten. Hinter der
Grenze, im viel gepriesenen sowjetischen Bruderland, ging das Improvisieren oft
weiter. Die Dresdnerin Iduna Böhning war unter anderem in Russland und Georgien
unterwegs. Sie räumt in ihrem Report ein, dass viele Touren auch Torturen
waren:
[…] Frech kommt weiter. So entdeckten die illegalen Besucher an der
Schwarzmeerküste die ersten Palmen ihres Lebens. Sie wanderten durch den wilden
Kaukasus und besuchten die exotischen Teestuben Usbekistans. Einige »Freaks«
bauten sogar einen Eis-Segler - und jagten damit über den zugefrorenen
Baikalsee. Die Zeitzeugen schwärmen in ihren Reiseberichten vor allem von den
Menschen in der Sowjetunion. Denn die Alternativ-Touristen wurden immer wieder
privat eingeladen - vor allem zum Trinken. Kein Wunder, dass sich in der DDR
die Erlebnisse herum sprachen – und die Heimkehrer bewundert wurden.
Sie strahlten eine ungezwungene innere Freiheit aus, die im grauen und
ängstlichen Umfeld der späten DDR manchmal exotisch, aber immer ausgesprochen
sympathisch wirkte.
Der ehemalige Hallenser Ökoaktivist Michael Beleites vergleicht in dem Buch den
typischen DDR-Oppositionellen mit dem typischen Transit-Touristen, der
unerkannt durch Freundesland, also »UdF« unterwegs war.
Die UdF-Bewegung war eine ganz und gar kampflose Gegnerschaft zum SED-Staat.
Vielleicht wirkten genau deswegen die subversiven Nutzer des Transitvisums viel
freier; sie erschienen vom Naturell der Funktionäre viel weiter entfernt als
viele Dissidenten. Sie haben die Freiheit nicht gefordert, sondern praktiziert.
Die Sowjetregierung hatte allen ausländischen Touristen das individuelle Reisen
verboten – auch um die Armut im Riesenreich zu verheimlichen. Ein Grund für
ständige Visa-Kontrollen. Wurden illegale Touristen erwischt, landeten sie bei
Miliz oder KGB. Allerdings kamen sie meistens nach einigen Stunden wieder frei.
Die Sowjetgenossen setzten sie gern in den nächsten Zug oder Flieger – um sie
aus ihrem Verantwortungsbereich loszuwerden. Auch der DDR-Geheimdienst war
ratlos. Schließlich wollten die Illegalen nicht in den Westen abhauen, sondern
freiwillig ins Herz des kommunistischen Lagers fahren. So zeigen die Herausgeber
Cornelia Klauß und Frank Böttcher in zahlreichen Episoden die Hilflosigkeit der
Staatsorgane auf.
»Unerkannt durch Freundesland« ist voll aufregender Geschichten über eine
liebenswerte DDR-Subkultur. Die Erinnerungstexte sind mit eindrucksvollen
Privatfotos bebildert. Historische Aufsätze sowie »Ein kleines ABC des
sowjetischen Tourismus« runden die Kapitel ab. Entstanden ist ein Poesiealbum
ostdeutscher Rucksacktouristen, produziert mit viel Liebe für's Detail. Kein
Wunder: Der Berliner Verleger und Mit-Herausgeber Frank Böttcher war einst
selbst illegal im Sowjetreich unterwegs. Eine erste Anthologie über das bislang
unbekannte DDR-Thema ist bereits im vergangenen Jahr in einem Radebeuler Verlag
erschienen: Sie heißt »Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion« und
liest sich ebenso spannend, auch wenn sie weniger Begleit-Texte hat. Beide
Werke gehören ins Bücherregal von Weltenbummlern, DDR-Interessierten und
Historikern. Unbedingt!
Jens Roßbach, in Andruck am 23.05.2011
»Njet«, bellten die Wachtposten an der polnisch-sowjetischen
Grenze. Sie wollten zwei Ostdeutsche auf Mifa-Fahrrädern mit Dreigangschaltung
auf dem Weg nach Rumänien nicht durchlassen, denn Radfahrer waren nicht
vorgesehen. Mit viel Diplomatie und Beharrlichkeit schafften es Michael Jahnke
und sein Freund schließlich doch, über die Grenze gelassen zu werden. Direkt
verboten war Radfahren ja nicht, und nach Spionen sahen die beiden mit ihren
DDR-Pässen nicht aus. Hätten die Grenzer geahnt, was sie in Wahrheit vorhatten,
wären sie vermutlich gleich eingebuchtet worden.
Die Studenten verließen nämlich bei erster Gelegenheit die vorgeschriebene
Transitroute und begaben sich illegal nach Kiew und Odessa am Schwarzen Meer;
später strampelten sie weiter nach Bulgarien, insgesamt eine Strecke von rund
3000 Kilometern. Was sie taten, war verboten. Sie radelten am gewaltigen
Dnjepr-Strom entlang, grüßten freundlich auf Russisch Milizionäre und Soldaten,
bei Pannen wurde ihnen geholfen, überhaupt gab es viel Gastfreundschaft, und in
Odessa hatten sie ein unverschämtes Glück. Dort nahmen sie an einem Wettkampf
teil, ihre Identität wurde ruchbar, der KGB kam auf den Plan. Aber dessen
lokaler Chef drückte ein Auge zu. Im früheren Ostblock küssten sich die
Oberbonzen, sogar auf die Lippen wie Honecker und Breschnew, der Begriff
»sozialistische Völkerfreundschaft« wurde in Festreden, aber auch bei
Brigadeabenden geradezu gummiartig wiederholt. Die Wirklichkeit sah anders aus.
DDR-Bürger durften ohne Genehmigung nur in die Tschechoslowakei reisen, manche
kannten in Prag jede angesagte Kneipe. Für Ungarn, Bulgarien und Rumänien war
ein Visum nötig, auch wenn man nur zum Plattensee oder an die Schwarzmeerküste
wollte. Polen und die Sowjetunion durfte man nur mittels Reisegruppe kennen
lernen. Das war seltsam, denn von der Sowjetunion lernen hieß doch Siegen
lernen. Aber es gab einen Trick – das Transitvisum! Wer es bekam, der durfte
durch Polen, Weißrussland und die Ukraine nach Rumänien fahren. Das Visum war
nur zwei Tage gültig, aber es soll Tausende gegeben haben, die daraus zwei
Sommermonate machten.
Wer erst mal eingesickert war, benahm sich möglichst unauffällig und hatte ein
Riesenland zum Bereisen. Die Lücke im Überwachungssystem ermöglichte es. Manche
aber von denen, die es übertrieben, wurden nach Schikanen ausgewiesen, als
Spione verfolgt, saßen im Gefängnis, wurden vor Gericht gestellt, mussten gar
mit dem Todesurteil rechnen. Wie Pfarrer Gernot Friedrich, der auf 20 Reisen in
die Sowjetunion Bibeln mitnahm, die er christlichen Gemeinden übergab. Das war
Schmuggel, aus seiner Stasi-Akte ist ersichtlich, dass man den Gottesmann, der
unerschrocken weiter Gottes Wort verteilte, durch eine bestimmte medizinische
Behandlung »zersetzen« wollte. Dazu kam es durch die Wende 1989 nicht mehr.
Die Dokumentarfilmerin Cornelia Klauß und der Verleger Frank Böttcher berichten
in ihrem Buch vom Fernweh der DDR-Bürger, das nicht gestillt werden konnte. Der
Westen war tabu, im Osten war man überwacht – aber der Osten, das hieß auch
Weite bis nach Mittelasien, die Mongolei, China. Es gab Gebirge von über 5000
Meter Höhe im Kaukasus, in Kirgistan und Tadschikistan, höher als die
unerreichbaren Alpen, endlose Steppe und tiefe Wälder.
Michael Beleites, der sich wochenlang unerlaubt unter dem klaren Himmel Litauens
bewegte, schreibt in seinem Text über die Ausbrecher ins Bruderland: »Sie haben
die Freiheit nicht gefordert, sondern praktiziert.« Die Bewohner des kleinen
Landes, eingehegt von einer unerbittlichen Ideologie und geplagt von einer
perfiden Bürokratie, waren so reisefreudig, weil sie es nicht sein sollten. Sie
hatten sich gefälligst mit Ostsee, Harz und Erzgebirge zu begnügen. Aber sie
wollten in die große weite Welt.
Das Buch »Unerkannt durch Freundesland« gibt diese Stimmung in Reiseberichten,
Essays, Interviewprotokollen wieder, unter den vielen Fotos sind tolle
Schnappschüsse, etwa vom kurzbehosten Gernot Friedrich, der an seinen
Gepäckträger am Fahrrad ein DDR-Kennzeichen montiert hatte. Aber auch von
Reisenden, die es mit dem Rucksack und auf krummen Wegen in exotische Regionen
wie Usbekistan oder Kasachstan schafften. Wunderbare Geschichten von
Dissidenten auf Zeit, von Trotz und Abenteuer.
Roland Mischke, in: Mainpost am 27. April
2011
Die Heiterkeit geht in spontanen Applaus über, als der Gründer der
Potsdamer Bergsteigersektion Ulrich Henrici vergnügt aus dem Nähkästchen eines
Dokumentenfälschers plaudert. Um im Jahr 1982 Europas höchsten Berg, den Elbrus
im Kaukasus, sogar mit bürokratischem Segen erklimmen zu können, hatte er sich
zuvor einfach farbige Stempelkissen besorgt und bei Stempel-Gottschalk in
Potsdam gleich zehn verschiedene phantasievolle Stempel anfertigen lassen, die
er alle auf einen Briefbogen von »Turbine Potsdam« drückte und wahllos mit
AllerweItsnamen unterschrieb. Fertig war das Legitimationsschreiben, das ihn
zum Mitglied einer offiziellen Wanderexkursion machte und zugleich enorm großen
Eindruck bei den russischen Beamten hinterließ.
Es sind Anekdoten wie diese, die am Mittwochabend im Waschhaus Klub aus der
einfachen Lesung ein lebhaftes Event machen, zu dem mehr als 150 Gäste strömen,
sodass allen, die schlichtweg nicht mehr in den Raum passen, kurzerhand eine
zeitnahe Wiederholung der Veranstaltung in Aussicht gestellt wird.
Henrici, der bis zur Wende, dank seiner gewieften Tricks, insgesamt 19 Mal
illegal in die Hochgebirge der Sowjetunion reiste und so auch den 7000 Meter
hohen Pik Lenin im Pamir-Gebirge bestieg, ist zweifellos einer der
prominentesten Autoren des kürzlich erschienenen Sammelbands »Unerkannt durch
Freundesland - Illegale Reisen durch das Sowjetreich« (Lukas Verlag). Die
beiden an diesem Abend ebenfalls anwesenden Herausgeber, die Dokumentarfilmerin
Cornelia Klauß und der Verleger Frank Böttcher lassen in ihrem Buch ganz
unterschiedliche Zeitgenossen von ihren Reisen berichten, die sie als
DDR-Bürger in den 70er und 80er Jahren auf eigenes Risiko durch das weite Land
des »großen Bruders« unternommen hatten.
Erlaubt war dies nicht und nur mit Hilfe eines zwei Tage gültigen Transitvisums
möglich, das die Reise von Polen bis nach Rumänien gestattete und das man
einfach ablaufen ließ, sobald man sich auf sowjetischem Boden befand. Nunmehr
fern der vorgeschriebenen »Marschroute« erkundeten die Abenteurer individuell
und oft wochenlang das riesige Land mit seinen Farben und fremden Kulturen,
seiner Pracht, aber mitunter auch seiner erschreckenden Armut. Und während
immer wieder ergriffen von den Menschen dort und ihrer geradezu überwältigenden
Gastfreundschaft geschwärmt wird, laufen im Hintergrund die vielen Farbaufnahmen,
mit denen das Buch reich bebildert ist, als Diashow an der Wand: schroffe,
karge und malerisch satte Landschaften, mal Ruinen, dann klotzige Prunkbauten,
allerhand Accessoires und bannende Nahporträts.
War man als Rucksackreisender auch vor der Miliz auf der Hut, so blieb man doch
eine auffällige Erscheinung, die selbst vor einem Verhör beim KGB nicht sicher
war, wie es dem Fotografen Robert Conrad geschehen ist. Nur sind seine
Schilderungen überraschend trocken und witzig. Hielt man ihn aufgrund gelochter
DDR-Bustickets, die sich noch in den Tiefen seiner Taschen fanden, anfangs für
einen Spion, so fing man bald an, sich mit ihm über Mädchen und Autos zu
unterhalten, bevor man ihn bewirtete und dann unbehelligt gehen ließ. Selbst
die Stasi habe sich gegenüber so eigensinnigen »Transitreisenden«
verhältnismäßig tolerant verhalten, sagt Cornelia Klauß. Es habe eher eine
gewisse Entnervtheit geherrscht, denn ein strenges Strafmaß gegolten.
Dann aber ist es wieder Ulrich Henrici, der alte Hase und Star des schier
endlosen Abends. Hochstimmung und Freude allenthalben, als er von besoffenen
Piloten berichtet oder von Leuten, die allen Ernstes seine Frau kaufen wollten.
Auch das Essen in den kirgisischen Dörfern sei seltsam. Durchweg Delikatessen
zwar, doch es sei überaus schwierig, stinkende grüne Leber zu essen,
Fliegensuppe und Hammelfleisch mit Maden, die beim Kauen knacken.
Daniel Flügel, in: Potsdamer Neueste Nachrichten am 15.04.2011
[…] Hunderte, vielleicht sogar tausende DDR-Jugendliche sind in den
70er und 80er Jahren auf eigene Faust illegal durch die Sowjetunion gereist.
Diese Freiheit haben wir uns einfach genommen. So unstillbar groß war unser
Fernweh. Für mich gilt sogar: Wäre dieses Schlupfloch in den Osten nicht gewesen,
hätte ich mit meinem Ausreiseantrag in den Westen nicht bis Ende 1988
gewartet.
Die Abenteurer von damals sind heute in die Jahre gekommen. Zwei von ihnen
haben nach 1989 einen Buchverlag gegründet. Unabhängig voneinander haben sie
nun eine Vielzahl von Erlebnisberichten in Buchform publiziert. Jörg
Kuhbandner brachte schon 2010 den Titel »Transit. Illegal durch die Weiten der
Sowjetunion« heraus, in , dem vor allem Bergsteiger ihre Tagebücher
ausbreiten. Und Frank Böttcher lässt in dem breiter angelegten Sammelband
»Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich« die
Zeitzeugen in sorgfältig redigierten
Texten über ihre Erlebnisse erzählen.
Offizielll ließen wir uns von den DDR-Behörden eine 48-stündige Durchreise
durch die Sowjetunion genehmigen, die man ohne offizielle Einladung und ohne
geführte Gruppe gar nicht bereisen durfte. Als Zielländer gaben wir Rumänien
oder Bulgarien an. Entscheidend war, dass auf der zweisprachigen »Reiseanlage«
zum Personalausweis die UdSSR als Transitland nicht durchgeixt wurde. Nicht
alle Kreisdienststellen der Deutschen Volkspolizei genehmigten den Transit
durch die UdSSR. Ich musste mich deshalb einmal von Naumburg nach Leipzig
ummeiden.
War man erst mal drin in der Sowjetunion, bestand die Herausforderung darin,
sich einfach abzusetzen und als Vagabund unterzutauchen, was leichter gesagt
war als getan, denn Ausländer durften am Schalter keine Fahrkarte kaufen oder
gar in einem Hotel absteigen. Dort bestand stets die Gefahr, sich den Behörden
auszuliefern. Da viele Sowjetbürger auch nicht perfekt russisch sprachen,
gaben wir uns oft als Balten aus. Oder wir behaupteten, wir hätten unsere
Reisegruppe verloren oder wir seien Sportler aus der DDR und unterwegs zu
einem Alpinistenlager.
Die fast 1000 Seiten der beiden Bücher stecken voller kurioser Anekdoten,
Reflexionen und zeitgeschichtlich aufschlussreicher Schilderungen und ergeben
ein facettenreiches Sittenbild. Viele Autoren schreiben über ihre Expeditionen
von damals mit einem ungläubigen Schmunzeln. Denn das waren die
hervorstechenden Merkmale der Fernwehkranken: Dreistigkeit und Naivität,
Chuzpe und Unschuld. Mit dem inneren Druck des DDR-Bürgers, der sich ewig
zurückgesetzt fühlte, wollten wir dem engen Land entkommen. Es war äußerst
strapaziös und aufreibend, den wilden Osten zu erkunden. […]
Aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht machten wir in der Sowjetunion
einschneidende Erfahrungen. Der Einzelhandel in dem sonst so
durchreglementierten Riesenland war nicht völlig verstaatlicht, Bauern boten
auf Märkten ihr Gemüse feil. Auf jedem Bahnhof standen alte Mütterchen, die
selbstgebackenes Fladenbrot und Früchte gegen einen hektisch ausgehandelten
Preis durch die Zugfenster reichten. Am meisten faszinierte mich aber, dass ich
einen Vielvölkerstaat bereiste, für dessen kulturelle und religiöse Vielfalt
mir jede Begrifflichkeit fehlte. Vieles verstand ich gar nicht sofort,
schließlich war es meine erste Begegnung mit dem islamisch geprägten Orient,
mit merkwürdigen Ritualen und verlockenden Düften.
[…] In der DDR bildeten wir eine informelle Szene, die sich selbstironisch
»UdF« nannte. Diese Abkürzung für »Unerkannt durch Freundesland« war auch
eine Anspielung auf DSF, die staatlich verordnete »Deutsch-Sowjetische Freundschaft«.
Doch Individuaireisen und eine private Begegnung von Menschen waren in der
politischen Kultur des sowjetisch geprägten Sozialismus einfach nicht
vorgesehen.
Wir UdFler trafen uns meist im Winter in unseren Hinterhof-Wohnungen, um
unsere Erfahrungen auszutauschen und die nächsten Reisen zu planen. Wir zeigten
uns Dias, konkretisierten selbstgezeichnete Landkarten und Wegbeschreibungen,
gaben uns Tipps hinsichtlich der Ausrüstung und erzählten uns, unter welchem
Vorwand sich das Transitvisum in der DDR und auch Flug- oder Schiffstickets in
der Sowjetunion auftreiben ließen. Der Sowjetstaat war ein lächerliches,
bürokratisches Monster. Nicht einmal die Geheimdienstler konnten mit Bestimmtheit
sagen, wie ein gültiges Einreisevisum aussah. Manche von uns haben sich eine
sogenannte »Marschrut« mit russischen Schreibmaschinen selbst aufgesetzt.
Besonders gut machten sich runde Stempel. Vor allem der eine mit der
Aufschrift »Kinderkreissparkasse« aus einem Spiel verfehlte bei sowjetischen
Amtspersonen seine Wirkung nicht. […]
Wenn ich heute die Berichte meiner UdF-Kollegen lese, merke ich, dass ich
gegen sie ein Waisenknabe war. Ich bin nicht wie Uwe Wirthwein zum Baikalsee
gefahren, um dort mit einem selbstgebauten Eissegler die Ufer abzufahren. Ich
war nicht wie Heinz Heilmann in Kamtschatka. Und ich habe auch nicht wie
Ekkehard Maass die Freundschaft mit georgischen und russischen Dissidenten
gesucht. Auch fehlte mir die Unverfrorenheit eines Frank Schlüter, der den
Behörden eine »Wissenschaftliche Pamir-Expedition der Karl-Marx-Universität
Leipzig« vorgegaukelt hat.
Einer der Veteranen der UdF-Szene, der Bergsteiger Ulrich Henrici, lebt heute
als Rentner in Beelitz. Mit anderen brachte er das Kunststück fertig, im
Kaukasus bei der Besteigung des Elbrus eine offizielle DDR-Mannschaft zu
mimen. Am kommenden Mittwoch wird er neben zwei anderen Abenteurern bei einer
Veranstaltung im Potsdamer Waschhaus seine Erlebnisse zum Besten geben.
Insgesamt ist Henrici 19 Mal in die Sowjetunion gefahren, »immer illegal«.
Beim Abstieg von dem 7134 Meter hohen Gipfel Pik Lenin sind ihm 1989 beide
Füße erfroren. Dass er geborgen wurde und ihm die Füße nicht amputiert worden
sind, verdankt er der Menschlichkeit der Russen, die ihn als Ausländer im Krankenhaus
privilegiert behandelten. Zurück in Potsdam, wurde ihm dann ein rettendes
neues Medikament aus Amerika besorgt.
Karim Saab, in: Märkische Allgemeine
Zeitung am 9./10. April 2011
[…] Dem Westleser sei erklärt, dass DDR-Bürger die Sowjetunion nur
per Pauschalgruppenreise besuchen konnten. Individuelle Visaanträge wurden
grundsätzlich abgelehnt. Eine Lücke blieb im Grenzregime: das Durchreisevisum,
gültig für 48 Stunden. Wer sich eine Reiseroute via Polen und Sowjetunion nach
Rumänien bastelte, gelangte ins Rote Reich. Einmal dort, konnte man die
48-Stunden-Frist ignorieren und das gewaltige Land durchmessen, immer auf der
Hut vor staatlichen Organen. Man musste nur irgendwann kurz in Rumänien ankommen,
zwecks Grenzstempel im Visum.
Nicht sehr viele DDRler wagten das große »Go East«. Einige aber suchten jene
Freiheit, die ihnen westwärts versperrt war, in der entgegengesetzten Richtung.
Sie stellten die Propagandafloskel von der Völkerfreundschaft auf die Probe und
fuhren ins Baltikum, nach Georgien, auf die Krim. […] Wieder daheim, hängten
sie ihre Abenteuer nicht an die große Glocke. Aber sie kannten einander. Sie
trafen sich, zeigten und bewunderten die Fotos, tauschten Erfahrungen und
Adressen aus und fieberten dem nächsten Aufbruch entgegen. Dieser lose Bund von
Gleichgesinnten nannte sich UdF: Unerkannt durch Freundesland.
»Im Geiste von Jack Kerouac on the roadzu sein, davon waren wir – die
ostdeutschen Nachfahren der Achtundsechziger – angefixt.« So schreibt die Herausgeberin
Cornelia Klauß und zitiert Tucholsky: »Wer die Enge seiner Heimat begreifen
will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.«
Dieses prächtig bebilderte Reise-und Geschichtsbuch ist ein oppositionelles
Werk der besonderen Art. Es dokumentiert nicht die Forderung nach Freiheit,
sondern bezeugt, wie sich Menschen Freiheit nahmen. Die wagemutigen UdFler
diskutierten nicht über das wahre Leben im falschen — sie lebten es. Denn
nichts deprimierte im SED-Staat stärker als das Gefühl, die eigene Zeit zu
vergeuden und zu altern, ohne zu leben. […]
Christoph Dieckmann, in Die Zeit am 7.
April 2011, Nr. 15
[…]
Ohne Genehmigung durften DDR-Bürger nur in die Tschechoslowakei reisen. Der
Westen-war tabu, Polen und die Sowjetunion waren lediglich für Reisegruppen
offen. Für Bulgarien, Rumänien und Ungarn brauchte man eine Erlaubnis. Wer sich
daran hielt, besuchte bis zum Überdruss Prag. die rumänische Schwarzmeerküste
oder den Plattensee. Wer sich auf Abwege begab, gelangte bis nach Mittelasien.
China und in die Mongolei, wie der Band eindrucksvoll belegt. Authentische,
teils in Form von Interview-Protokollen verfasste Reiseberichte, Essays und
eine Vielzahl von Fotos ergeben ein gewichtiges Zeitdokument.
[…]
Wer so unterwegs war, machte etwas Unerlaubtes und nahm doch nur die Parole von
der sozialistischen Völkerfreundschaft beim Wort. Die Antriebe waren
unterschiedlich – Neugier, sportlicher Ehrgeiz, aber auch jener urmenschliche
Drang, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn Grenzen zu überschreiten und den
eigenen Horizont zu erweitern, wie es der Naturschützer und spätere sächsische
Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Michael Beleites formuliert: »Wer in
der Natur nie einen klaren Horizont sieht, kann ihn vielleicht auch in seiner
Biografie und in der Perspektive seines Landes nicht finden.« Seine Wochen
unter dem leuchtenden Himmel Litauens kommen ihm vor wie eine Therapie. Gerade
in diesen Horizonterweiterungen liegt das immanent Politische der illegalen
Reisen. Sie offenbarten eine hanebüchene Bürokratie, einen beschwerlichen
Alltag und eine teils bittere Armut, die es aus ideologischer Sicht gar nicht
geben durfte. Und sie sorgten für Distanz zum Staat. So gesehen waren Reisende
sogar weiter als Dissidenten. Beleites schreibt: »Sie haben die Freiheit nicht
gefordert, sondern praktiziert.«
Die Obrigkeit reagierte entsprechend hart. Ein Schulaufsatz mit allzu ehrlichen
Ferienerlebnissen, und das Abitur war verbaut. Selbst mit dem Tod wurden die
Reisenden bedroht. So erfuhr etwa der Pfarrer Gernot Friedrich, der bis zur
Wende etwa 20 Mal in die Sowjetunion gereist war und Bibeln zu christlichen
Gemeinden geschmuggelt hatte, aus seinen Stasi-Akten von Plänen, ihn durch eine
falsche medizinische Behandlung zu »zersetzen«. Trotzdem macht nicht etwa Bitterkeit
den Grundton der Buchbeiträge aus, sondern durchweg Dankbarkeit für das
Erlebte, die Begegnungen, die Gastfreundschaft. Es ist der Triumph derjenigen,
die die Welt angeschaut haben, über eine engstirnige Weltanschauung.
Jochen Temsch, in: Süddeutsche Zeitung
Nr. 61, 15. März 2011
Dass es jungen DDR-Bürgern unmöglich gemacht wurde, in den Westen
zu reisen, ist bekannt. Doch selbst Trips ins große Bruderland Sowjetunion
gestalteten sich schwierig. Der Verleger Frank Böttcher ließ sich von den Restriktionen
nicht abschrecken und trampte 1983 als damals 23-Jähriger Student über Polen
und die Ukraine allein und illegal durch den Kaukasus und nach Tschetschenien
bis ans Schwarze Meer. Jetzt hat er seine Geschichte aufgeschrieben.
Die Gesetzeslücke: Während meines Urlaubs
im rumänischen Fogarasch-Gebirge 1982 begegnete ich zwei DDR-Urlaubern, die mir
von ihren spektakulären Erlebnissen während ihrer Reise in die Sowjetunion
berichteten. Sämtliche Informationen, wie eine solche Unternehmung anzugehen sei,
waren einzig auf informellem Weg zu erlangen. Es gab ja damals keinen
Reiseführer. Wie viele andere Reiselustige machte ich mir eine Lücke im Gesetz
für den visafreien Reiseverkehr, das eine Durchreise durch die Sowjetunion in
Richtung Rumänien erlaubte, zunutze.
Der vermeintliche Spion: Die
Sowjetunion war mit dem Phänomen individueller Reisen überfordert. Diese Art
Reisen gab es einfach nicht. Zu groß waren auch die Bedenken, etwa vor
möglicher Spionage. Ich hatte damals keine Ambitionen, auf diese Weise eine
Flucht in den Westen zu arrangieren. Für mich zählte nur die Freiheit, allein
zu reisen und fremde Kulturen zu entdecken. Natürlich war auch Leichtsinn
dabei. Und ein gewisses Risiko, von Behörden oder dem KGB erwischt und aus dem
Land ausgewiesen zu werden, musste man auch einkalkulieren. Mehr noch hatte ich
Angst, Ärger mit der Uni zu bekommen. Schließlich wollte ich Lehrer für
Kunsterziehung und Deutsch werden.
Gefahrensucher: Im mingrelischen
Teil Georgiens fuhr ich in einem Bus mit, dessen Fahrer eindeutig ein
Wahnsinniger war. Alle anderen, die uns begegneten, übrigens auch. Vor den
uneinsehbaren Kurven der oft unbefestigten Piste wurde lediglich gehupt, ehe
man sie durchpreschte und grundsätzlich schnitt. Wenn ich aus dem Fenster
schaute, erblickte ich direkt neben mir, jedoch ein paar hundert Meter tiefer,
viele Autowracks. Heute bin ich kein Abenteuertourist mehr, sondern fahre in
die Toskana. Nach Russland sehne ich mich aber nach wie vor.
Marcus Klose, in: Frankfurter Rundschau
Nr. 36 am 12./13. Februar 2011
Für DDR-Bürger war das Reisen eine überschaubare Sache. Es gab
Nahziele wie Ahlbeck, Wernigerode oder Oberhof, und es gab Fernziele wie die
rumänisch-bulgarische Schwarzmeerküste, Prag oder den ungarischen Balaton. Zum
»großen Bruder«, in die Sowjetunion, kam man nur per Gruppenreise und der
Westen war eh tabu.
Trotzdem gab es eine Lücke im System. In den 70er/80er Jahren gelang es
einigen, zumeist kritischen, jungen Leuten, die Sowjetunion illegal und auf
eigenes Risiko zu befahren. Ober ein offizielles Transitvisum von Polen nach
Rumänien reiste man in die damalige UdSSR ein – und blieb dort statt der
erlaubten achtundvierzig Stunden dann Wochen oder gar Monate. So ging es nach
Sibirien, Mittelasien und sogar bis in die Mongolei. Diese Wagemutigen galten
in der alternativen Reiseszene als die heimlichen Helden.
Die Dokumentarfilmerin Cornelia Klauß und der Verleger Frank Böttcher, der
selbst ein Transitreisender war, setzen in ihrem Buch »Unerkannt durch
Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich« der so genannten
»UdF-Bewegung« nun ein Denkmal. Auf 445 Seiten gibt es Abenteuer satt. Es
sind fünfundzwanzig Geschichten von besonderen Menschen, die über eine bloße
Reisebeschreibung hinausgehen. In Interviews, Schnappschüssen, Erzählungen,
Schulaufsätzen und mit künstlerischer Fotografie tut sich ein authentisches
Zeitdokument auf, das es in dieser komplexen Betrachtungsweise, noch nicht
gab.
Da erzählt beispielsweise der Rostocker Mathias Jahnke wie er an der
polnisch-sowjetischen Grenze den völlig perplexen Grenzern gegenüberstand. Er
und sein Freund reisten auf Mifa-Spörträdern ein. So etwas hatte es dort noch
nicht gegeben. Die Schiffbaustudenten schafften es trotzdem per Rad bis Kiew,
den Dnepr runter nach Odessa, dann weiter durch Rumänien, 3000 km mit dem Rad.
Der Pfarrer Gernot Friedrich aus Zeulenroda schmuggelte Bibeln in die deutschen
Gemeinden in der Sowjetunion, reiste tausende von Kilometern nur mit einem
Nylonbeutel, getarnt als ganz normaler Bürger. Ulrich Henrici aus-Beelitz
bestieg den Pik Lenin im Pamirgebirge mit 7134 Metern und erfror sich Hände und
Füße, Robert Conrad aus Greifswald setzt sich illegal von seiner
Jugendtouristgruppe ab und wurde schließlich der Spionage verdächtigt.
Die Motive der Reisenden waren unterschiedlich, mal war es Neugier, die Lust
am Entdecken, dann sportlicher Ehrgeiz. Der Liedermacher Ekkehard Maaß wollte
die Dichter kennenlernen, deren Lieder er sang. Er traf Bulat Okudshawa,
Aitmatow und Rasputin, übersetzte in Russland Biermann-Lieder. Jürgen van
Raemdonck dagegen wollte in den Westen, über Sibirien, das Polarmeer, den
»Point Ho-pe« in Alaska erreichen. Er stahl ein kleines Boot, schipperte damit
auf dem östlichsten Fluss Sibiriens, der Kolyma, bis das Schiff unter ihm in
einer Stromschnelle versank. »Wir waren Verrückte und wollten es auch bleiben«,
schreibt van Raemdonck.
Eine unglaubliche Weite tat sich für die Reisenden auf, fremde Völker und
Kulturen, die Karten mangelhaft, verbotene Städte, eiskalte Milizionäre, aber
auch die legendäre Gastfreundschaft der einfachen Leute. Diese Reisen waren
nicht ungefährlich und wurden von der Stasi sehr genau beobachtet, wie der
Historiker Christian Halbrock in seinem Beitrag berichtet. Er hat die MfS-Akten
zum Thema »Transitabweichler« untersucht. Im Großen und Ganzen wurden sie
aber als Ventil geduldet und verloren nach der Maueröffnung völlig ihren Reiz.
Dieses Buch mit seinem Facettenreichtum offenbart bereits den Mut einer
Generation, die schließlich die politische Wende im gesamten Ostblock
einläutete.
Dolores Kummer, in: Ostseezeitung Rostock 5./6. März 2011