Bernd Blumrich

Linienuntreue

 

Vor Aufregung geöffnete Münder, die Augen weit aufgerissen, um keine Sekunde der Ereignisse zu verpassen. Euphorisch strecken die Menschen Wunderkerzen in die Luft. Es ist der 23. Dezember 1989, für viele der Schaulustigen am Grenzübergang am Düppel in Berlin-Zehlendorf kommt es einem Wunder gleich: Sie werden durch die Absperrung gewunken. Fortan keine Kontrollen mehr.
Im Bildband »Linienuntreue« des Fotografen Bernd Blumrich werden chronologisch die Ereignisse des Wendeherbstes nachverfolgt. Anders als schon häufig publizierte Bilder mit Szenen aus Berlin zeigt dieses Buch die Ereignisse im Umland: Demonstrationen, Mauerabrissarbeiten und Proteste gegen die SED in Potsdam, Kleinmachnow und Teltow.
In ungestellten Schwarzweiß-Aufnahmen porträtiert Blumrich den Zeitgeist: Aufbruchstimmung und Ungeduld, Anarchie und Neuorientierung lassen sich in den Gesichtern der Fotografierten ablesen. Ergänzt werden die Aufnahmen durch persönliche Worte Begleitworte des Fotografen.
Anna Sönnichsen in: »die Kirche – Evangelische Kirchenzeitung« 15, 29. März 2009, S. 4.

 

 

Geschichte wird Erinnerung und Erinnerung zum »Geschichtskonstrukt«. Montiert von hauptberuflichen »Erinnerungsingenieuren« aus Staat, Parteien, Kirche und Wissenschaft. So ist das normalerweise. Doch in diesem Fall ist Geschichte erst einmal Bild geworden. Schwarzweißbild, um genau zu sein. »Geknipst« von Bernd Blumrich, geboren 1950 in Wilhelmshorst, heute wohnhaft in Kleinmachnow. Er ist dort so etwas wie eine Institution mit der Kamera. Nun dürfte er eine solche aber auch für die Zeithistoriker geworden sein. Denn mit seiner Fotoreportage über die beiden Jahre 1989, 1990 in Potsdam, Kleinmachnow und Teltow hat er im Buchformat vorgelegt, was aus einer Hand und in dieser Komplettheit ihresgleichen sucht: eine Wende-Chronik der Verzweiflung und des Mutes, der Euphorie und der Ernüchterung.
Blumrichs Bilder vermitteln alles, was Menschen damals wussten, glaubten oder hofften. Sie zeigen die Trostlosigkeit, aus der sie raus, und die Atemlosigkeit, mit der sie verändern wollten. Sie zeigen ein nie gekanntes Miteinander, aber auch die Frustration über neue (politische) Vereinnahmungen und Entzweiungen.
Blumrich war 1989 immer dabei: beim misstrauisch beäugten Pfingstbergfest im Juni, beim Polizeieinsatz gegen Potsdamer Demonstranten am 4. Oktober, bei den Grenzöffnungen in Dreilinden oder Teltow im November, wo die Bürger den Soldaten spontan mit Schaufeln und Spaten halfen, bei der Besetzung der Potsdamer Stasi-Zentrale im Dezember. Er dokumentiert 1990 die Erschütterung der Besucher im geöffneten MfS-Untersuchungsgefängnis »Lindenhotel« oder die Demontage von Metallstreckzaun und Mauer im Schlosspark Babelsberg. Blumrich traut seinen Bildern. Erklärt und kommentiert wird nur das Nötigste.
Es sind Momentaufnahmen aus der Provinz, keine Frage. Aber sie sind jenen aus der »Heldenstadt« Leipzig und denen aus Dresden, Halle oder Berlin zum Verwechseln ähnlich. Zweifellos ist Blumrichs Band zuvörderst ein Dokument der Regionalgeschichte. Freilich ein einzigartiges. Aber wenn man (frei nach Schiller) darüber nachdenkt, was Regionalgeschichte überhaupt heißt und zu welchem Ende man sie schreibt oder – wie hier geschehen – fotografiert, steht zumindest soviel fest: Weil sie spiegelt, wie sich (Welt-)Geschichte vor der Haustür ereignet und umgekehrt vorführt, wie in der Provinz (Welt-)Geschichte gemacht wird. Diesbezüglich haben Potsdam, Kleinmachnow und Teltow einiges zu bieten.
Frank Kallensee in der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« vom 3. Juli 2007

 

 

Der Text wertet die historischen Fotos ziemlich eindeutig. Das fängt schon beim Titel an. »Linienuntreue« heißt der Bildband, der sich mit dem politischen Umbruch der Jahre 1989 und 1990 in Potsdam, Kleinmachnow und Teltow beschäftigt. Aber das Schöne an dem Buch ist, dass sich jeder selbst seinen Reim auf die Bilder machen kann. So bleibt dem Kleinmachnower SPD-Bürgermeister Wolfgang Blasig – seinerzeit Kopf des Neuen Forums in der Gemeinde – nur die Hoffnung, wenn er im Vorwort schreibt: »Ich wünsche den Betrachtern und Lesern dieses Buches, dass nicht Wehmut und leise Enttäuschung überwiegen, sondern der Optimismus und die Hoffnungen der damaligen Zeit in unser heutiges Leben einfließen.« Mit dem heutigen Wissen sei aber absehbar gewesen, dass die ungeheure Sehnsucht nach einer gerechten Welt nicht gänzlich erfüllt werden konnte.
Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) notiert: »Die Rückschau ist in den meisten Fällen sehr subjektiv.« Wenn ich mich an 1989 erinnere, fällt mir der anfängliche Glaube ein, dass es nun einen besseren, demokratischen Sozialismus geben werde. Doch früh mischte sich da die Angst hinein, dass es doch in eine andere Richtung geht – eine Angst, die zunahm und sich schließlich als begründet erwies.
Bernd Blumrich fotografierte Demonstrationen, Versammlungen, den Fall der Mauer und andere Ereignisse. Er lichtete zum Beispiel die S-Bahn ab und Doppelstockbusse, die nun von Potsdam nach Westberlin fuhren. Vor Blumrichs Objektiv standen der Schornsteinfeger, der von der Arbeit weg zur gerade geöffneten Grenze eilte, außerdem Soldaten, Volkspolizisten und Polizeibeamte, oder auch Menschen, die dann zum Teil bis heute das politische Geschehen im Land Brandenburg prägten. Man sieht Rolf Kutzmutz, der später beinahe PDS-Oberbürgermeister von Potsdam geworden wäre, bei einer Diskussion in einem Klub der Volkssolidarität, den heutigen Finanzminister Rainer Speer (SPD) mit einem Plakat und den heutigen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) in der Erlöserkirche. Außerdem zu sehen ist Heinz Vietze – jetzt Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Landtag. Er pflanzte einen Tag vor der Volkskammerwahl im März 1990 eine Linde.
Fröhliche Gesichter entdeckte Blumrich am 23. Dezember 1989 bei der offiziellen Eröffnung des Grenzübergangs Düppel, und an der selben Stelle am 8. April 1990 besorgte Kleinmachnower, die protestieren, weil sie sich davor fürchten, ihre Grundstücke und Häuser an Alteigentümer abgeben zu müssen. Auch der Fotograf Blumrich bekam Probleme. Sein Atelier litt 1990 stark unter »der Übermacht der neuen Warensortimente und Dienstleistungen aus dem Westen«. Er musste fünf Mitarbeiter entlassen, steht in seiner Biografie.
Andreas Fritsche im »Neuen Deutschland« vom 2. Juli 2007

 

 

»Gebt mir ein Visa zu meiner Oma Lisa«, »Bei SED und FDJ sitzen Sie in der letzten Reihe«. Sprüche aus einer versunkenen Welt und doch noch in guter Erinnerung. Es waren die letzten Zuckungen der DDR, als solche Slogans Mauerwände füllten. »Linienuntreue« – Bernd Blumrichs aufwühlende Foto-Text-Dokumentation über Potsdam, Kleinmachnow und Teltow von 1989 bis 1990 – ruft noch einmal das Kribbeln zurück, das entstand, als immer mehr Menschen aus der Starrheit des Systems ausbrachen und ungewohnte Schritte wagten. Zwischen Mut und Angst, Hoffnung und Zweifel bewegten sich die Gefühle, als sie sich zuerst unter das Dach der Kirche, dann auch auf die Straße wagten. »Es bringt das Herzklopfen und die Atemlosigkeit zurück, mit denen damals so viele DDR-Bürger unterwegs waren zu neuen Ufern. Und dabei war noch gar nicht so klar, wo die eigentlich lagen«, schrieb Matthias Platzeck, der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, in seinem Vorwort. Er gehörte damals mit zu den Wendebewegern, die »Argus«-äugig auf dem Pfingstberg ganz praktisch etwas anpackten: Sie begegneten dem Zerfall des Belvederes. Hinter solch’ Idealismus konnte doch nur staatsfeindliches Denken lauern, witterte indes das MfS, und so verwunderte es nicht, dass das kleine Bau-Trüppchen mit der großen Sogwirkung und auch das Plakat des Grafikers Bob Bahra zum 1. Pfingstbergtreffen zum Politikum wurden.
Bernd Blumrich dokumentiert in seinem präzisen Zusammenspiel von Foto und Text, bei dem er oft auf lokale Zeitungsberichte zurückgriff, sehr genau die Ereignisse, die vor 17 Jahren das Eis zum Schmelzen brachten. Der unbestechliche Blick durchs Objektiv zeigt auf unzählige angespannte Gesichter, die sich am 4. Oktober 1989 in der kleinen Babelsberger Friedrichskirche drängen. Sie haben einen Platz ergattert, während Tausende andere trotz massivem Polizeieinsatz draußen in der erwartungsvollen Masse ausharren. Schließlich wird spontan eine zweite Veranstaltung von Pfarrer Stefan Flade ausgerufen. Auf dieser ersten öffentlichen Großveranstaltung der Bürgerbewegungen in Potsdam verliest Annette Flade den Aufruf des Neuen Forums, den in kurzer Zeit Hunderte couragierter Menschen in der ganzen Republik unterzeichneten. Erinnert wird an den brutalen Polizeieinsatz am 7. Oktober auf der Brandenburger Straße, an das öffentliche Anprangern des Wahlbetrugs und schließlich an das Unfassbare: an den Mauerfall.
Höchst interessiert blättert man sich durch die Ereignisse, schaut gespannt in bekannte Gesichter, die damals zu den Motoren des Aufbruchs gehörten und heute fast alle weiterhin politisch eingebunden sind. Einige nunmehr demokratisch gewählt. In diesen Fotos geht es nicht um große Kunst, sondern um das Unwiederbringliche des Augenblicks: Um Lichter tragende Menschenketten, Soldaten, die mit Bagger und Bohrer gegen den Beton angehen, den Ulbricht für die »Ewigkeit« quer durchs Land auftürmen ließ. Fassungslos hält sich eine Frau die Hand vor dem Mund, während sie in der Bertinistraße durch das Loch in der Mauer auf die Weite des Jungfernsees schaut. Postentürme werden zu Aussichtspunkten in ein noch wenig bekanntes Land. Und endlich gibt es auch wieder eine direkte S-Bahn-Verbindung von Potsdam nach Berlin. Die Ereignisse überschlagen sich – und wieder hält man den Atem an.
Natürlich hielt der Kleinmachnower Fotograf auch vor der eigenen Haustür die Kamera mitten hinein in die Ereignisse, ist zur Stelle, wenn sich das Neue Forum formiert, die ZK-Sonderschule nunmehr vom Volk besetzt wird. Neben den vielen Schnappschüssen gibt es in diesem im Lukas Verlag erschienenen Buch auch ästhetisch sehr anspruchsvolle Fotos, wie das von der Grenze entlang der Schwanenallee, den Blick durch den Stacheldrahtzaun am Schloss Babelsberg oder das von der verträumten Glienicker Brücke fünf Jahre nach dem Mauerfall. »Mit dem heutigen Wissen um die Dinge war absehbar, dass die ungeheuren Erwartungen und Sehnsüchte nach einer grunddemokratischen gerechten Welt nicht gänzlich erfüllt werden konnten. Ich wünsche den Betrachtern und Lesern dieses Buches, dass nicht Wehmut und leise Enttäuschung überwiegen, sondern der Optimismus und die Hoffnungen der damaligen Zeit in unser heutiges Leben einfließen«, schrieb Kleinmachnows Bürgermeister Wolfgang Blasig begleitend ins Buch. Gerade auch diese Schwarz-Weiß-Fotos sind ein untrügerischer Erinnerungspflock gegen jede Art von Verklärung.
Heidi Jäger in den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« vom 29. Juni 2007