Gustav-H. H. Falke
Johannes Brahms
Wiegenlieder meiner Schmerzen
Philosophie des musikalischen Realismus

Gustav Falke [...] hat von der Literaturwissenschaft gelernt. Am Beginn seines Essays steht die Einsicht, daß sich der Sinn Brahmsscher Kompositionen im Horizont der musikgeschichtlichen Stilbegriffe Klassik und Romantik nicht erschließt. Vielmehr gebe es Gemeinsamkeiten mit der zeitgenössischen Malerei [...] und vor allem Parallelen zur realistischen Literatur. Falke überträgt die Kategorien der Realismusforschung, deren Wurzeln in der hegelianischen Kunstbetrachtung liegen, behutsam auf musikalische Phänomene. Da finden wir einen Brahms, der die romantische Musik aufgreift, um sie [...] zu »entromantisieren«. Wir lernen einen Komponisten kennen, der nicht länger versucht, den Volkston schwärmerisch zu überhöhen, sondern der wie ein bürgerlicher Realist überzeugt ist, im Volkstümlichen liege die »gesunde Mitte« zwischen den Leidenschaften. Wie seine schreibenden Kollegen suche er das Glück im Kleinen, Privaten und versöhne die Affekte ausgiebig mit musikalischen Gesten des Trostes [...] In dieser Sichtweise erscheint auch das Leben des Komponisten als dessen Werk. [...] So, wie die Durchgestaltung mancher Werke sich der Verpanzerung nähere, betreibe der Künstler die Selbst-Einkapselung im Charakter [...] Im musikalischen Spätwerk komme es schließlich zur »Auflösung« des Panzers und zu einem freien Fluß der Klangsprache – eine Erscheinung bereits der europäischen Moderne. Der ästhetische Ausdruck übersteigt die Ordnungen, in denen er gebannt schien. Thomas Zabka in der »Frankfurter Rundschau«

Mein Freund und Kollege spricht vieles aus in seinem zeitgeistfernen, wunderlichen Brahms-Buch; vieles, das andere sich nicht getrauen auszusprechen oder das zu formulieren ihnen der Sprachverfall der musikalischen Hermeneutik verwehrt. [...] Daß aber analytisch gestützte Hermeneutik beim Schreiben über Musik überhaupt wieder möglich werde, scheint der heimliche Antrieb der in die »Feier« des 100. Todestages von Brahms wie ein ungerufener, verstörend später Gast einfallenden Monographie. [...]
Falkes Brahms-Bild, zur gängigen Musikwissenschaft (selbst zu Dahlhaus) konträr, reklamiert »musikalisches Sinnverstehen« sozusagen im Rücken von Brahms the Progressive, um auf diese Weise den konservativen Schönberg mit der an Hegel, Vischer und Fontane entfalteten Figur des poetischen Realismus zu überholen, »poetischen Residuen in der als prosaisch erfahrenen Wirklichkeit«. Das freilich geschieht, wie sich an Einschüben von Interpretationskritik erweist, um – weit über den Anlaß hinaus – den heiklen Trennstrich zwischen Form und Ausdruck, strukturellem und einfühlendem Hören aufzuheben; eine durchaus sinnreiche Anstrengung [...]
Falke setzt als Leitfigur für Brahms' Schaffen, das Schaffen eines Künstlers, dem auch zwanghafte Züge nicht fern waren, den von Brahms sehr bewußt gebrauchten Begriff des Trostes ein. Musik ist für ihn Trost, und als die Urform des Trostes gilt ihm das Wiegenlied. Daraus erhellt sich der Buchtitel. [...] Ein Lob der Empfindsamkeit. Claus-Henning Bachmann in der »neuen musik zeitung«

Für den unterzeichnenden Rezensenten ist das Buch von Gustav Falke mit seinem interdisziplinären Ansatz die methodisch bei weitem »perspektivenreichste Einzelstudie« [...] Aber die zentrale These seines Vergleichs der geschichtlichen Position des Brahmsschen Werks mit der des poetischen Realismus ist sehr anregend und trifft einen Nerv. Die Argumentation mit Theodor Fontane vor allem scheint neue Räume zu öffnen [...] Die Studie sei der Brahms-Forschung, aber auch jedem Brahms-Hörer nachdrücklich zur Lektüre empfohlen. Reinhold-Brinkmann in der »Österreichischen MUSIKZEITschrift«

Dieses Buch läßt sich nicht leicht lesen. Sind die Sätze zu gewunden? Ist die Wortwahl zu gesucht? Nichts von alledem. Gustav-H. H. Falke schrieb diesen polemisch gedachten Brahms-Essay so, wie man es von seinen Rezensionen und Musikkritiken her gewohnt ist: mit einer flüssigen Feuilletonfeder. Seite für Seite rutschen die Formulierungen wie von selbst am Leser vorbei. Kaum wird man gewahr, daß man überhaupt liest, hat man – gerade ist eine Seite umgewendet – schon wieder vergessen, was man las, muß zurückblättern und kommt nicht recht von der Stelle. »Dann lesen Sie mein Buch doch mal von hinten«, empfiehlt lächelnd der Autor, als man ihm nach Monaten zufällig begegnet und die liebe Not klagt. Eleonore Büning in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«

[...] das Gleis, auf welches sich Falke begibt, ist jedenfalls ein unbefahrenes, und, dies sei vorweggenommen, die Perspektiven, die sich von ihm her eröffnen, sind von einer Originalität und Aussagekraft, die weitere Arbeiten in diesem Bereich wünschenswert machen. [...]
Die spezifische Darstellungsweise rückt Falkes Text damit selbst in die Nähe eines Kunstwerkes des poetischen Realismus. Daraus läßt sich erklären, daß er manchen Kriterien eines wissenschaftlichen Textes nicht genügt, nicht genügen möchte. [...]
Es gehört zu den stimulierenden Aspekten von Falkes Buch, daß die musikgeschichtlichen Epochenetikettierungen durcheinandergewirbelt und einmal systematisch durchdacht werden (die man in musikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen selten ernsthaft diskutiert, geschweige denn aus der Musik heraus entwickelt). [...] Falke bringt frische, unverbrauchte Gedanken in den musikwissenschaftlichen Diskurs hinein. Heiko Jung in »Musik & Ästhetik«

[...] Nun wäre es nicht das erste Mal, daß die Musikwissenschaft von einem Philosophen entscheidende Anregungen erhält. [...] Falkes Interesse an Brahms [...] führt zu einem umfassenden und durchaus neuartigen Gesamtbild, das im Gegensatz zum Mahler-Bild Adornos den Vorteil historischer Genauigkeit hat. [...]
Trotzdem bleibt die Frage, was denn nun an der Musik im engeren Sinne und nicht nur auf der halbwegs abstrakten Ebene der Verfahren »realistisch« sein könne. Falkes Antwort macht stutzig, den stets auf Noten verweisenden und anhand von Noten nachweisenden Musikwissenschaftler zunächst skeptisch: Dem Abbildhaften der bildenden Kunst und Literatur entspreche in der Musik der Ausdruck. Tatsächlich erweist sich die Einführung dieser Kategorie als Ausweg aus der seltsamen Doppelgesichtigkeit des Komponisten, der von den einen als konservativer Tondichter melancholisch-resignativer Musik interpretiert wird und von den anderen, unter anderem Arnold Schönberg, als ein progressiver Konstrukteur dichtesten motivischen Zusammenhangs. Indem Falke die vermittelnden Kompositionsverfahren als technische Kehrseite von Brahms' Bemühungen um eine psychologisch wahrscheinliche Vermittlung verschiedener Ausdruckswerte auffaßt, gelingt es ihm, und das ist die Parallele zu Adornos methodisch völlig anders vorgehendem Mahler-Buch, Musik als »sinnhaftes Phänomen« zu verstehen. [...]
Was Falke an Parallelen, Entsprechungen zwischen Literatur, Zeitgeist und Brahms' Musik aufspürt, zeugt von bedeutender ästhetischer Empfindlichkeit [...] Falkes interdisziplinäres Verfahren ist an sich nicht neu, wird aber von ihm mit einer Genauigkeit gehandhabt, die durchaus einen qualitativen Sprung bezeichnet [...] Die Bedeutung seines Buches liegt darin, dem Sprechen über Musik einen neuen Weg gewiesen, dem Denken über ihre Inhalte neue Möglichkeiten aufgezeigt zu haben. Peter Uehling in der »Berliner Zeitung«

Um so mehr überrascht es zu sehen, wie es Gustav Falke – um es vorwegzunehmen: in überzeugender und überausanregender Weise – gelingt, die geistesgeschichtliche Nähe aufzuweisen, in der Brahms und Fontäne zueinander stehen. Ausgehend von Problemen der Brahmsdeutung unternimmt Falke den anspruchsvollen Versuch, so etwas wie einen Epochenstil des poetischen bzw. »musikalischen Realismus« zu entwickeln. [...]
Mit bemerkenswerter Umsicht stellt Falke immer wieder so scheinbar naheliegende Fragen wie die, warum Brahms dann noch nicht wie Schönberg komponiert habe, und schält so das hermeneutische Kernproblem seiner Untersuchung heraus: die Frage nach dem nämlich, was an der Form Ausdruck, am Ausdruck Form sei und wie deren Konstellation vor dem Hintergrund von Brahms' spezifischer Zeitgenossenschaft (Biographie, Musikgeschichte, Gesellschafts- und Geistesgeschichte) als sinnhafter Ausdruck verstanden werden könne. Die gedankliche Einheit der gegensätzlichen Momente von Brahms' Komponieren herauszuarbeiten und in ihrem kunst- und werkgeschichtlichen Wandel darzustellen ist Hauptziel von Falkes Untersuchung.
Sein Verfahren ist folglich ein hermeneutisches, doch da die musikalische Hermeneutik Falke zufolge auf einem unterentwickelten methodischen Stand sich befindet, holt er sich Anregung bei der literaturwissenschaftlichen Realismusforschung und beim Werk Fontanes. [...]
Falke, der über die Phänomenologie des Geistes seine Dissertation geschrieben hat, stützt seine Konstruktion erkennbar auf die Geschichtsphilosophie und Ästhetik Hegels. [...] So versteht Falke den Realismus als Abgeleitetes, als Vergegenwärtigung einer »Entzweiung«. Er erliegt dabei nicht der doppelten Versuchung vieler hegelianisierender Arbeiten, nämlich die Kunstgeschichte retrospektiv zu homogenisieren und für die Folgezeit beim bloßen Aufweis der Entzweiung stehenzubleiben: Falke arbeitet an den einzelnen Ausdrucksfiguren sehr differenziert heraus, was dort wie als Entzweites gestaltet ist.
Gegenstand der modernen Kunst ist mit Hegel der Konflikt zwischen der »Poesie der Herzen« und der entgegenstehenden »Prosa der Verhältnisse«. Der Fokus der Vermittlung, die die Werke leisten, hat sich verschoben von der unanschaulich gewordenen Totalität auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, auf die Frage, wie die Objektivität im Individuum erscheint. Dem korrespondiert eine für die Nach-48er typische Änderung der Lebenshaltung: Der poetische Realismus ist bereit, sich – entgegen den eigenen Identifikationen – von den Verhältnissen überzeugen zu lassen. Jeglichen Extremen mißtrauend, wird das Maßvolle gesunden, tätigen Lebens zum Maßstab, auch zum Maßstab ästhetischer Vermittlung. Dies ist für Falke der Punkt, an dem geistesgeschichtliche, biographische und ästhetisch-formgeschichtliche Aspekte konvergieren.
Falke interpretiert die musikalischen wie die literarischen Werke dieser Epoche als virtuelle Subjekte, ihre Formen als »Identitätstechniken«. Die kompositorische Gestaltung versuche sich gleichsam der Einheit eines Lebenszusammenhanges zu vergewissern, wobei diese Einheit dem poetischen Realismus zunehmend zu einer fragmentarischen werde, zu einer Koexistenz auch des Divergenten, Abgebrochenen, Zufälligen. Der poetische Realismus arbeitet an einer Neubestimmung von Individuation unter Bedingungen einer immer stärker funktional differenzierten Gesellschaft.
Zentrale ästhetische Bedeutung gewinnen in der realistischen Literatur die Realien, die elementhaft die Wirklichkeit vertreten und auf die die Figuren reagieren, wenn sie nicht statt der Figuren sprechen. Hinsichtlich der Realien ist Falkes Analogisierung von Musik und Literatur wohl am problematischsten, sicher am verblüffendsten: »Dem Abbildhaften in Literatur und bildender Kunst entspricht in der Musik das Ausdruckshafte«. Von der Plausibilität dieser Entsprechung hängt auch die Triftigkeit der von Dahlhaus übernommenen Bezeichnung »musikalischer Realismus« ab. Man darf aber das Ausdruckshafte nicht als Realie verstehen, sondern als funktionale Entsprechung zu den Realien realistischer Literatur. Und daß damit etwas historisch Spezifisches bezeichnet ist, stützt Falke durch den Vergleich mit Musikformen, die zwar auch Ausdruck haben, worin aber nicht ihre primäre Bestimmung liegt: Im Unterschied zu diesen kann »die Epoche des Realismus musikalisch durch die psychologische Wahrscheinlichkeit des Ausdrucks charakterisiert werden«.
Was die Formen anbelangt, in denen Literatur und Musik mit dem Ausdruckshaften umgehen, kann Falke in jedem Falle mit einer bestechenden Fülle von Parallelen und Analogien aufwarten: auf der Ebene künstlerischer Selbstäußerungen beispielsweise der antiromantische Impuls, die Abneigung gegen alles Überschwengliche, Dämonische und Dogmatische, die Skepsis gegenüber dem bloßen Einfall. Leidenschaften und subjektive Perspektiven müssen im Werk ausbalanciert werden. Der musikalische Realismus ist notwendigerweise ein psychologischer Realismus, insofern er den Übergang von Ausdruck zu Ausdruck plausibel motivieren und die Einheit des Charakters in der Vielheit der Affekte finden muß. »Die Mannigfaltigkeit der Affekte tritt zu einem Kosmos zusammen, in dem sich der aufmerksame Hörer hin- und herbewegt. Und indem er vergleichend die Affekte, in denen er sich wiedererkennt, aufeinander bezieht, wird er ihrer bedrängenden Unmittelbarkeit gegenüber in Freiheit gesetzt. Es ist eine Art Katharsis. Der Hörer geht getröstet nach Hause«.
Die Art und Weise, in der Falke etwa die Stellung einzelner »Ausdruckscharaktere« im Werkganzen analysiert und mit Fontanes erzählerisch objektiver Perspektivierung in Analogie setzt, ist durchweg überzeugend. »Der Reichtum an harmonischen Nebenstufen bei Brahms und Wagner ist analog dem stofflichen Reichtum des realistischen Romans«. Als Brahms' Komplement zur Verklärung – »Der Verklärungsbegriff ist ein Schibboleth unter Realismusforschern« – stellt er den musikalischen Trost herauf. Bei Brahms und bei Fontäne weist er verwandte Formen einheitsstiftender Verklammerung auf, die der erwähnten Tendenz zur Dissoziation entgegenwirken.
[...]
Doch auch so hat Falkes Buch alle Tugenden eines gelungenen Essays. Er führt seine These in klarer Disposition und Kontur durch und beleuchtet sie immer wieder von bedeutsamen Fragen aus. Die Werke und künstlerischen Verfahren werden als Sinngestalt verstanden, die eine Stimmung oder eine Haltung zum Leben verkörpern. Diese zu verbalisieren, benutzt Falke Metaphern, Assoziationen und Vergleiche, die man im Einzelfall stilistisch heikel finden mag, doch kommt diesem Essay durch die Eindricnglichkeit seiner Werkbeschreibungen das nicht hoch genug zu achtende Verdienst zu, neben dem Intellekt die (ästhetische) Sinnlichkeit anzuregen. So erscheint im neuen Zusammenhang auch das aus der Forschung Bekannte auf anregende Weise neu. Christian Klug in den »Fontane Blättern« Nr. 67/1999