Christian Hufen
Fedor Stepun
Ein politischer Intellektueller aus Rußland in Europa. Die Jahre 1884–1945

 

 

Bereits der Untertitel der Werkbiographie des Kulturwissenschaftlers Christian Hufen über den Intellektuellen, Wissenschaftler und Publizisten Fedor A. Stepun verdeutlicht die persönliche und berufliche Tragik des russisch-deutschen Grenzgängers: Der in Moskau geborene Sohn eines ostpreußischen Kaufmanns war als »Deutscher» innerhalb der russischen Gesellschaft ein Außenseiter. Gleichzeitig wurde er –dessen Umgangssprache Russisch war – während seiner Schulzeit in der deutschen Kolonie Moskaus, in seiner Heidelberger Studienzeit und seit 1922 im deutschen Exil als »Russe« angesehen. Dieser Umstand und die Tatsache, daß Stepun sein Leben lang den sozialrevolutionären Idealen seiner Jugend treu blieb, mögen dazu beigetragen haben, daß er – im Gegen-

satz etwa zu Nikolaj Berdjaev – in seiner russischen Heimat nahezu vergessen ist. Und obwohl Stepun über vierzig Jahre seines Lebens in Deutschland, davon etliche als Hochschulprofessor, verbracht hat, scheinen seine wissenschaftlichen Leistungen hier nicht einmal einem engen Kreis von Fachgelehrten geläufig zu sein. Bestenfalls entspricht Stepun dem Bild, das sich die deutsche Wissenschaft gemeinhin von einem genialischen Dilettanten russischer Tradition macht (siehe dazu den Aufsatz von Christian Hufen: Russe als Beruf. Anmerkungen zu Fedor Stepun, in: Osteuropa, 11/2004, S. 47-62).
Es ist das Verdienst Hufens, Leben und Werk dieses originellen und luziden Denkers dem Vergessen entrissen zu haben. Der Autor verfährt dabei chronologisch und läßt seine Arbeit dort enden, wo Stepuns bundesrepublikanische Nachkriegskarriere beginnt. Strukturell ist dieser Bruch nicht zu erklären, so daß er vermutlich einfach der Fülle des Materials geschuldet ist. Denn Hufen verfolgt den Lebensweg Stepuns unter Nutzung sämtlicher Quellenformen von der Kindheit im Wolgagebiet, den Jugendjahren in Moskau, der Studentenzeit an der Heidelberger Uni­versität, über die Karriere als Offizier während des Ersten Weltkrieges und als Mitarbeiter im Kriegsministerium unter Boris Savinkov bis zu seinem Exil, das ihn erst nach Berlin, dann nach Freiburg im Breisgau und schließlich nach Dresden verschlug, wo er die Herrschaft des Nationalsozialismus überdauern sollte.
Parallel dazu montiert Hufen die intellektuelle Laufbahn Stepuns, dessen irrlichterndes Talent auf vielen Ebenen nach Bestätigung suchte: Er war Essayist und Schriftsteller, dessen mit literarischem Anspruch verfaßte Autobiographie »Vergangenes und Unvergängliches. Aus meinem Leben« (München 1947/50) den Vergleich mit Aleksandr Gercens »Byloe i dumy« sucht, - ein charismatischer Redner und Vortragsreisender, Exilpolitiker und -theoretiker, Autor und zeitweilig Mitherausgeber von Zeitschriften wie No-vyj Grad, dem bekannten russischen Emigrantenjournal, und von 1926 bis zu seiner Entlassung 1937 Lehrstuhlinhaber für das Fach Soziologie an der Technischen Hochschule Dresden.
Alle Aktivitäten Stepuns waren vor allem seinem Lebensthema gewidmet: der geschichtsphilosophischen Deutung der russischen Revolution aus der Perspektive eines christlichen, antibürgerlichen Demokraten, der sich selbst einmal als »nachgeborener Slavophile» bezeichnet hat. Bei ihm finden sich die Topoi der russischen und deutschen Zivilisationskritik jener Zeit wieder: die Dialektik von Zerstören und Neu-Erschaffen in ihrer politischen und sozialen Dimension, die Umdeutung und Neudefinition von Begriffen wie Revolution, Bolschewismus und Sozia­lismus, die völkerpsychologische Kritik an der Maß- und Formlosigkeit der russischen Gesellschaft, Überlegungen zu Amerikanisierung, Massenkultur und Scheitern des Liberalismus, als dessen Hauptursache Stepun den Irrglauben an eine rationalisierbare Welt ausmacht. Im offenen Widerspruch zum deutschen Wissenschaftsverständnis räumt er auf der Suche nach einer »ganzheitlichen Weltanschauung« dem »deutenden Verstehen« den Vorrang vor dem »kausalen Erklären« ein.
Stepuns Parallelexistenzen, sein Dasein als deutscher Hochschulprofessor einerseits, als russischsprachiger Exil-Autor andererseits, bilden das Gerüst, das Hufen mit der Darstellung der politischen und persönlichen Wechselfälle im Leben des Grenzgängers auffüllt – Wechselfälle, die mitunter großen Einfluß auf Stepuns intellektuelle Produktion nahmen.– Hufen will allen biographischen Aspekten gleichermaßen gerecht werden, will Sozial- und Individualgeschichte, das Allgemeine und das Spezifische »ansprechen« und miteinander verbinden. Dabei bekennt er sich zur »Ikonisierung« seines Gegenstandes, zum offenen Versuch also, die Balance zwischen dem individuellen und dem exemplarischen Leben des Porträtierten zur Darstellung zu bringen. Die Perspektive des Porträtierten ist dabei immer auch Korrektiv der Perspektive des Porträtisten.
In seiner akribischen, oft detailversessenen Aufbereitung des Materials liegt aber auch ein Problem: Winzigen biographischen Einzelheiten folgen Sätze, die die philosophisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen Stepuns mit Zeitgenossen behaupten, in aller Regel jedoch (abgesehen etwa von Stepuns Eurasier-Kritik) nicht ausführen. So scheint mit der nur angedeuteten, im übrigen berechtigten Kritik Stepuns am elitären Philosophieverständnis Berdjaevs vorerst die Chance verpaßt, Stepun gegen den erklärten Anti-Demokraten Berdjaev zu profilieren. Obwohl Hufen die Argumentationslinien der wichtigsten Schriften und Aufsätze mit großer Gründlichkeit nachzeichnet, enthält er sich jedoch – abgesehen vielleicht von der Beschreibung des Soziologie-Begriffs Stepuns oder seiner Auseinandersetzung mit dem religiösen Sozialismus Paul Tillichs – einer klärenden ideengeschichtlichen Einordnung. Dabei vertraut er zu sehr auf das Selbsterklärungspotential, das dem reihenden Beschreiben der Lebens- und Arbeitswelten Stepuns innewohnen soll. Trotz allem werden am Ende die Umrisse eines »Menschenbildes« erkennbar, dessen ambivalente Anteile Hufen nicht vorschnell bewertet: Sie gehören einem Menschen, dessen moralische Urteilskraft sich vor allem gegen den Radikalismus und die Demokratie­feindlichkeit der russischen Intelligencija richtete, dessen Eloquenz und Anpassungsfähigkeit ihm einerseits eine relativ sichere Existenz in Deutschland ermöglichten, andererseits unter der Herrschaft des Nationalsozialismus zu einem Opportunismus gerieten, den er mit seinem »Recht auf Schweigen« nur notdürftig ummantelte.
Doch Hufen macht glaubhaft, daß Stepuns Ausharren in Deutschland – neben äußeren Zwängen – dem selbstgesetzten Gebot entsprang, sich als Christ dem »Bösen« zu stellen, es auf das eigene Gewissen zu nehmen und als »Sünde« vor das Gewissen der Welt zu stellen.
Susanne Pocai in »osteuropa«, Heft 7/2005

 

Fedor Stepuns Wirken trug markante Züge in den beiden Kulturen, in denen er beheimatet war, in der deutschen wie in der russischen. Aus der letztgenannten Perspektive trat er vor allein als ein wichtiger Repräsentant der symbolistischen Kultur, als Autor von Erinnerungen und literarischen Interpretationen […] schließlich noch durch seine Zugehörigkeit zu einer elitären Schicht der literarischen und philosophischen Kreise in der Diaspora hervor. Trotz einer damit verbundenen namentlichen Präsenz in zahlreichen Kontexten der modernen russischen Literatur- und Geistesgeschichte war Stepuns Leben jenseits seiner autobiographischen Prosa, insbesondere seine Jahre in Deutschland, bis vor kurzem nur in sehr groben Umrissen bekannt. Neben einer solchen ›russischen‹ Betrachtungsweise gibt es jedoch in bezug auf Stepun eine weitere, ›deutsche‹ Perspektive, aus der heraus sich sein dialogisches Potential erst adäquat erschließen läßt. In dieser Beziehung hat die Dissertation von Christian Hufen, entstanden in der akademischen Schule Karl Schlegels, Bedeutendes geleistet. Erstmals begegnet man hier einem umfassenden, differenzierteren Bild von Stepuns mannigfaltigem Profil als Philosoph, Soziologe, Literaturkritiker, Schriftsteller. Dem Verfasser ist eine breitgefächerte, inspirierende Darstellung eines komplexen Themenbereiches gelungen. Die beiden erwähnten Überlieferungsstränge, die bislang nur wenig voneinander profitierten, sind in einem vom Verfasser sorgsam definierten Betrachtungsrahmen endlich zusammengebracht. Eine wesentliche Erkenntnis der Untersuchung ist die von Christian Hufen pointiert aufgezeigte Rolle des »transnationalen Netzwerks intellektueller Freundschaften« Stepuns als Grundlage seines Wirkens.
Beachtlich ist die vom Verfasser erstmals erschlossene Quellengrundlage: In der Liste der Archive finden sich neben den deutschen, europäischen und Jerusalemer Nachlässen auch mehrere amerikanische, darunter Stepuns Nachlaß in Yale. Eine Publikation des Briefwechsels mit Ivan Bunin wurde von Christian Hufen in Zusammenarbeit mit dem verdienstvollen Archivar Richard Davies (Leeds) vorbereitet. […] Christian Hufens Werk wird bei allen noch hinzukommenden Untersuchungen über Fedor Stepun im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte einen guten und verläßlichen Leitfaden an die Hand geben.
Fedor Poljakov, in: Die Welt der Slaven, Jg. XLVIII (2003), H. 1, S. 199/200.

 

In the last few years the name of Fedor Avgustovich Stepun has acquired visibility as member of Russia Abroad's intelligentsia, especially thanks to V. K. Kantor's provocative writings and, more importantly, his publication of Stepun's collected works in Russia, in 2000 (none of these are mentioned in the book under review). Why this belated recognition of a most visible figure in ömigre circles in the 1920s and 1930s, and in the immediate aftermath of World War II? The intensively researched and fact filled dissertation of Hufen on Stepun's life and works before 1940 offers some clues.
F. A. Stepun (born Friedrich August Steppuhn in 1884 in Moscow) was not a »typical« émigré from Bolshevik Russia. Born and raised in an East Prussian entrepreneurial family, settled in Russia in the reign of Alexander H, he received his education in the German school in Moscow and at the University of Heidelberg. Before the First World War he was active as editorial assistant to modish cultural reviews and as a popular Speaker on the lecture circuit in provincial intellectual clubs and groups. He served as a junior officer in the war, and under the Provisional Government he headed the education and Propaganda section in A. Kerensky's ministry of war. After the bolshevik seizure of power in October 1917 and during the Civil War Stepun helped manage his in-laws' estate, and organised local educational and cultural (especially theatrical) activities. His open anti-bolshevism and close connections with »religious idealist« circles led to his expulsion (along with over one hundred prominent intellectuals) from the Soviet Union in 1922. Bi-lingual and bi-cul-tural as a »German Russian«, it was natural for Stepun to settle in Germany. There he completed work for the doctoral degree at the University of Freiburg i. Breisgau (under the sponsorship of E. Husserl) and managed to obtain a professorship in sociology at the Technical University of Dresden.
Out of necessity to earn much needed additional income, as well as from personal inclination, he became a popular lecturer in both German intellectual and Russian émigré circles and traveled over most of Germany, but also to most European cultural centers of Russia Abroad. At the same time he established a close association with the »Sovrmennye Zapiski« (and later with »Novy Grad«), the leading tolstyi zhurnal of the Russian diaspora, furnishing articles and informally advising the editors on matters literary and German. All the while, of course, he was a full time professor giving courses (fully listed in appendix to this volume), directing students, and participating actively in faculty business – until his dismissal by Nazi authorities in 1938.
Stepun's frenetic and varied activities, fully chronicled by Hufen, largely explain his failure to give a systematic exposition of his ideas in book form, and his remaining on the periphery of both German academic and Russian émigré cultural life. This dispersion of attention rather than Hufen's clumsy stress on Stepun's being an »out-sider« – both ethnically and professionally – account, in my view, for the somewhat inchoate and hasty character of his writings and the tentative, at times nebulous and superficial, nay amateurish and derivative, albeit provocative and sporadically insightful, nature of his thinking. Little wonder that his impact was most potent in personal encounters – lectures, informal discussions, and personal correspondence. In short, he was an impressive and dramatic presence, but not an original or influential thinker, Hufen's valiant efforts to show the contrary not withstanding. Hufen's dissertation, however, is most impressive proof of bis diligent archival searches. He has assembled an enormous corpus of Stepun's correspondence with an amazing array of interesting and significant contemporaries, both German and Russian. He has also located the official documentation pertaining to Stepun's legal Status and academic career. The detailed reconstruction of Stepun's course offering and faculty role at the Technische Hochschule in Dresden is particularly instructive – complementing (and in some respects correcting) the information given in Viktor Klemperer's detailed diaries. Hufen's bibliography of published works and monographs shows some disconcerting gaps (like the work of V. Kantor alluded to earlier) which fail even to include some items cited in footnotes.
The core of the dissertation is constituted by a detailed analytical summary (Referierung) of the major articles written by Stepun in the 1920s and 1930s. His three authobiographical books (»Iz pisem praporshchika artillerista«, 1918; »Nikolai Pereslegin«, 1924–1925; »Byvshee i nezbyvsheesia«, 1954) provide much of the material for reconstructing Stepun's early years. His three major intellectual interests and concerns were reflected in the following publications: 1. The revolution of 1917 and Russia under the Soviets – how it happened, the nature of the System, prospects for its future in »Mysli o Rossii« in »Sovremennie Zapiski« 1924–1928. 2. The decline of the Weimar republic and the major features of the Nazi regime in »Pis'ma iz Germanii« also in »Sovremenii Zapiski« 1930–1932, and 3. Reflections on democracy, Christianity, and culture and their future in »Novyi Grad« 1932–1938.
It cannot be the purpose of this review to give a summary of Hufen's detailed retelling of Stepun's ideas in these articles. I shall limit myself to a few remarks whose aim is not carping criticism, but rather to point our what to expect and what not to look for in the book under review. Hufen gives a consciensciously comprehensive picture of the nature and goal of Stepun's ideas on the three major groups of topics that held his attention between the Russian Revolution and the outbreak of the Second World War. Along the way Hufen points to some similarities and differences with the notions held by Stepun's teachers, associates, or opponents. What is missing, however, is a genuinely »thick reading« of the historical and intellectual contexts. On closer inspection Stepun's cogitations show a direct and close relationship to the political and intellectual disarray of contemporary Europe – a disarray particularly great and, as it turned out, dangerously destructive in Germany and the Russian diaspora. Nor is Hufen's limited conceptual toolkit (e.g. »Außenseiter«, »Exilant«, as well as arbitrary and unhelpful ethnic-religious labelings) adequate explanation for Stepun's mental framework. Hufen is all too eager to offer laudatory (nay, at times, disculpatory) judgements instead of searching criticism – for instance of Stepun's idiosyncratic and vague disquisitions about politics, Christianity, ethics, Russian culture or developments in the Soviet Union.
Too bad that Hufen has been poorly served by his publishers or editors. The number of typographical errors is larger than acceptable, even in today's world. A number of small errrors of fact are less disturbing than some obvious mistranslations that leave a bilingual reader quite puzzled (for example persönlich for bezlichnyi, p. 234; archaisch for iazycheskii, p. 345; Element for stikhiia, p. 226).
Not to leave on a negative note, however, I would stress the importance of Hufen's excellent and detailed reconstruction of Stepun's biography, especially of the Dresden period, as well as the valuable recovery of his correspondence with, among others, P. Tillich, J. Shor, G. Kullmann, I. Bunin, G. Fedotov, M. Vishniak, I. Fundaminski. We look forward to a second volume dealing with World War II and Stepun's public prominence in West Germany in the last two decades of his life. The complete biography would permit a full and critical evaluation of Stepun as thinker and contributor to Russia's culture in emigration.
Marc Raeff in: »Jahrbücher für Geschichte Osteuropas«, 51(2003) H. 4, S. 603f.

»Perhaps one cannot simultaneously be a German professor and a Russian publicist, a theologian in one’s soul and a sociologist at the lectern, an artist by temperament and a moralist by will« (348–349). This passage, from one of the countless unpublished letters that Christian Hufen cites in his enormously valuable monograph, gives a snapshot of the almost impossible task that Fedor Stepun (1884–1964) set for himself.
Stepun was bilingual from childhood, and his great love for both Russian and German culture left an indelible mark on his biography and worldview. As the book's unwieldy but carefully chosen subtitle suggests, no one (Stepun included) could ever quite figure out whether he was German or Russian. This deep allegiance to both nations explains his outsider status in Bolshevik Russia (which deported him in 1922) and Nazi Germany (where he spent all of World War II, often in precarious circumstances).
Hufen traces Stepun’s life and writings from the early years to the end of World War II. Though the sections on his Russian period contain much that is intriguing, the real fascination (and the book’s focus) lies in his life in Germany, both before the revolution (he studied in Heidelberg, finishing in 1910 with a dissertation on Vladimir Solov’ev) and after (he was a professor of sociology in Dresden from 1926 until his dismissal in 1937).
Stepun had an astonishing ability to take on positions for which he was in no way prepared and yet to perform with considerable aplomb. After studying philosophy in Germany (rather unsystematically and without academic aspirations), he returned to Russia, where for a few years he became closely affiliated with the symbolists. With the outbreak of the war, his life changed radically. He became an officer in the tsarist army, a head of propaganda in the provisional government, a director and theoretician of »revolutionary theater« in the early Soviet years, a Russian novelist in emigration, a German sociologist, a bilingual political commentator on matters German and Russian. Stepun was an indefatigable and talented organizer, a prolific writer, a gifted conversationalist, and a charismatic lecturer. These qualities allowed him to thrive in good times and to survive even in the worst of circumstances.
Through his wide-ranging activities, Stepun came to know a vast number of influential people. Though his personal archive was destroyed in the bombing of Dresden, his detailed letters to luminaries of Russian and German culture have survived. Among the recipients were German philosophers and religious thinkers (Heinrich Rickert, Jonas Cohn, Paul Tillich, Richard Kroner, Martin Buber) as well as major scholars, writers, and activists of the Russian emigration (Ivan Bunin, Nikolai Berdiaev, Alfred Bern, Mikhail Karpovich, Mark Vishniak). These letters, supplemented by a host of other archival documents, make Hufen’s book an indispensable source of information, not simply on Stepun, but on the first wave of Russian emigration in general.
At times, Hufen’s detailed summaries of Stepun’s published essays make for slow reading. Not all readers will wish to know so precisely the development of Stepun’s views on the future of Russia or his place in the history of German sociology (he disagreed with Max Weber and many others). But these sections are offset by revealing excerpts from the letters, where Stepun’s focus is considerably sharper than in his publications. Stepun’s powers of observation are remarkable, whether he is recording his impressions of famous contemporaries (e.g., Martin Heidegger) or of specific events (his friend Richard Kroner’s departure from Nazi Germany, his own encounters with Nazi students).
The most intriguing chapters concern the Third Reich. From the very beginning, Stepun had no illusions about Adolf Hitler (and he wrote outspokenly about this in the Russian émigré press), yet he was not eager to make waves once the Nazi dictatorship set in. That he managed to retain his professorial position until 1937 indicates how skillful – and experienced! – he was at maneuvering within a totalitarian system. Existing documentation suggests that Stepun survived largely through camouflage and superficial adaptation rather than through capitulation. He was no resistance fighter, but neither was he an opportunist.
Michael Wachtel (Princeton University), in: Slavic Review, Vol. 61 No. 3 / Fall 2002

Im Verzeichnis lieferbarer Bücher figuriert Fedor Stepun (1884–1965) heute nicht mehr, sein Name ist aber Antiquariatsbesuchern durchaus geläufig. Auf verstaubten Regalen findet man noch immer seine Bücher mit den etwas pathetischen Titeln »Vergangenes und Unvergängliches«, »Dostojewski. Weltschau und Weltanschauung« oder »Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution«. Es ist schade, daß ein hellsichtiger Zeitzeuge wie Stepun, der zunächst in Moskau die Etablierung der bolschewistischen Diktatur und später in Dresden die Machtergreifung der Nazis miterlebte, fast vollständig in Vergessenheit geraten ist. Friedrich Steppuhn wurde als Sohn eines Rußlanddeutschen in Moskau geboren; erst später entschloß er sich zur Russifizierung seines Namens. Das Philosophiestudium absolvierte Stepun zunächst in Heidelberg, dann in Freiburg bei anerkannten Großen des Fachs wie Wilhelm Windelband, Emil Lask und Heinrich Rickert. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Stepun als Offizier auf russischer Seite – eine Rolle, die in mehrfacher Hinsicht problematisch war: Stepun war loyaler Untertan des Zaren und gleichzeitig überzeugter Kriegsgegner; er verstand sich als Russe, gehörte aber auch dem deutschen Kulturkreis an. Nach der Oktoberrevolution geriet Stepun bald in Opposition zu den Bolschewiki. 1922 befand sich sein Name auf der Liste mit über hundert Intellektuellen und Professoren, die auf Lenins Geheiß aus Sowjetrußland ausgewiesen wurden. Nach einigen schwierigen Jahren als freier Publizist gelang es Stepun 1925, eine Soziologieprofessur an der Technischen Hochschule Dresden zu bekommen. Zu seinen berühmtesten Kollegen zählten hier der Theologe Paul Tillich und der Romanist Victor Klemperer. In den dreißiger Jahren paßte sich Stepun – ohne sich jedoch als Nazi oder Antisemit zu kompromittieren – an den Zeitgeist an und bot Vorlesungen über »Volk, Rasse, Kultur« oder Carl Schmitt an. Trotz diesen Zugeständnissen wurde Stepun 1937 aus dem Hochschuldienst entlassen, weil er die offizielle deutsche Sicht nicht teilte, daß es sich beim Bolschewismus um eine jüdische Verschwörung handle. Nach dem Zweiten Weltkrieg übersiedelte Stepun nach München, wo er an der Universität eine Professur für Rußlandkunde übernahm.
Mit der Dissertation von Christian Hufen liegt nun erstmals eine Biographie dieses wichtigen Denkers vor, der als russisch-deutscher Grenzgänger auch heute noch lesenswerte Interventionen zur politischen Gesellschaftskultur verfaßt hat. Hufens Darstellung ist detailliert und kenntnisreich, scheint dem Verfasser aber gegen Ende aus dem Ruder gelaufen zu sein. Die fast 600 Seiten starke Arbeit bricht nach dem Jahr 1945 unvermittelt ab, ohne einen Grund für diese Beschränkung anzugeben. Trotz diesem Mangel bietet Hufens Buch eine lohnende Innenansicht der prekären ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ulrich M. Schmid, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 6./.7 April 2002

Ein Jahr nach der Verteidigung seiner Dissertation legt Christian Hufen diese nun als Buch vor. Es ist der erste und in jeder Hinsicht gelungene Versuch, wesentliche Teile des Werkes und Zeiträume des Lebens einer im eigentlichen Sinne des Wortes merkwürdigen Persönlichkeit nicht in Zeitschriftenbeiträgen, sondern in einer großen monographischen Abhandlung darzustellen. Dies ist keine »Fleißarbeit«, wie Hufen die Leipziger Dissertation Fedor Stepuns über Solowjew, veröffentlicht im Jahre 1910 in der in Leipzig erscheinenden »Zeitschrift für Philosophie«, nennt, sondern eine außerordentlich gründliche und umsichtige, sachverständige und zuständige Forschungsleistung, zu deren Veröffentlichung man Autor und Verlag nur gratulieren kann.
In vier großen Abschnitten werden Leben und Wirken Stepuns zwischen 1884 und 1939/45 behandelt: »Biographie und Werk (1884–1922)«, »Neuanfang im Exil (1922–25)«, »Wissenschaft und zweisprachiges Wirken (1925–33)«, »Kultur im Zeitalter der Diktaturen (1933–39)«. Die Lebenszeit zwischen 1939/45 und 1965 wird nur gelegentlich erwähnt; das ist schade, denn Stepun hat in den zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland in sehr verschiedener Weise von sich reden gemacht, wie Hufen »im Gespräch mit Wissenschaftlern« erfuhr: »Begriffe von ›letzter Bildungsbürger‹, ›kalter Krieger‹ oder ›genialer Dilettant‹ machten den Spurensucher aufmerksam auf die in Fachkreisen ausgeprägte Geringschätzung seiner Entdeckung. In Ostdeutschland war Fedor Stepun nach 1945 so gut wie unbekannt. Es blieb einem westdeutschen Lehrstuhlanwärter vorbehalten, kurz nach 1990 daran zu erinnern, daß Stepun einmal in Dresden gelebt hat und dort an der Technischen Hochschule 1926–37 Professor für Soziologie war. Über die Lehrveranstaltungen selbst wie überhaupt zum damaligen Wirken Stepuns wußte freilich auch dieser Kundige kaum etwas zu berichten.» Zu diesen einleitenden Bemerkungen sind später noch einige Anmerkungen zu machen.
Die beeindruckende und verdienstvolle Studie Hufens wird vervollständigt durch Abbildungen, Literaturhinweise, Bibliographien Stepun 1909–40 und 1945–65 (Auswahl) sowie das Verzeichnis der von ihm an der TH Dresden zwischen 1926 und 1937 gehaltenen Lehrveranstaltungen.
Friedrich August Steppuhn, der sich später Fedor Stepun nennt und im Jahre 1925 bei seiner Übersiedlung nach Dresden als »Recitator Johannes Bellmann« anmeldet, wurde am 19. Februar 1884 in Moskau geboren und starb am 23. Februar 1965 in München. Er war ein in vieler Hinsicht zwiespältiger und zwielichtiger, doppelgesichtiger und widerspruchsvoller Mensch. Hufen betont, daß er »kein russischer Emigrant«, sondern »ein zweisprachig und grenzüberschreitend agierender Exilbewohner, ein ›Exilant‹« war. Allerdings gewinnt man bei längerer und gründlicherer Beschäftigung mit diesem eigenartigen Leben den Eindruck, daß Stepun im Grunde weder mit dem philosophisch-politischen Topos noch mit dem soziokulturellen Habitus der Emigration und/oder des Exils, des Emigranten und/oder des Exilanten zurechtkam; ebenso erscheinen die ›russische Selbstverwandlung‹ und ihre dann über Jahrzehnte mit zum Teil erheblichem öffentlichen Aufwand betriebene Selbstdarstellung ›als Russe‹ mehr als Kleid denn als Haut.
Er will kein Emigrant, sondern ein Exilant sein und bewegt sich dennoch zwischen Emigration und Exil (Personen, Kreisen, Orten, Institutionen) derart häufig und heftig, daß der Eindruck entsteht, er sei ständig auf der Suche nach einer nicht verlorenen, sondern noch gar nicht gefundenen Identität. Seine Lebenshaltungen sind eine einander oft ausschließende Mischung aus ›bürgerlichen‹ und ›nichtbürgerlichen‹ Attitüden; er bezeichnet sich nicht als Intellektueller, strebt aber nach dem Ansehen, ein solcher und zwar einer von hohen Graden und außerordentlicher intellektueller Präsenz, Potenz und Kompetenz zu sein. Das Bemühen um einen akademischen Status und professorale Privilegien, wenigstens als öffentliche Würde, sind unübersehbar. Hervorzuheben sind »sein charakteristischer Drang zur Wissenschaft bzw. nach (kultur-)politischer Praxis Er ist, wie Hufen festhält, »politischer Intellektueller«, jedoch eigenartiger Weise weder an jenem Typus orientiert, der sich in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts über die Dreyfus-Affaire in Frankreich herausbildete, noch an jenem, der im Rußland der siebziger Jahre ›ins Volk ging‹.
Der Drang nach öffentlicher wissenschaftlicher wie politischer Wirkung (ver)führt Stepun in schriftlichen und mündlichen Äußerungen verschiedener Art dazu, die Grenzen zwischen Erdachtem und Erlebtem nicht selten verschwimmen zu lassen.
Das Leben und Wirken Stepuns wären für sich genommen noch nicht sonderlich herausragend; ein besonderer Gewinn entsteht jedoch dadurch, daß Hufen über diese Darstellung ein höchst interessantes und informatives Bild der Zeitgeschichte, insbesondere des geistigen und wissenschaftlichen Lebens in Deutschland und darüberhinaus zwischen 1922 und 1937, der akademischen und universitären Verhältnisse, des Innenlebens und der Außenwirksamkeit intellektueller Kreise und Zirkel unterschiedlicher Art gelingt, verbunden mit wesentlichen biographischen Hinweisen zu bedeutenden Persönlichkeiten des politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Lebens der Zwischenkriegszeit. Insofern liegt hier ein höchst verdienstvoller Beitrag zur Kulturgeschichtsschreibung und zur Geschichte der Kulturwissenschaften vor.
Der außer dem Anhang rund fünfhundert Seiten umfassende Text soll hier weder referiert noch in einem engen Sinne rezensiert, vielmehr mit einigen Anmerkungen versehen werden.
Das zwiespältige Verhältnis Stepuns zu Emigration und Exil, Emigranten und Exilanten wird von Hufen ausführlich beschrieben und wurde oben erwähnt. Die Beweggründe für dieses Verhalten werden angedeutet, bleiben jedoch unklar. Möglicherweise war Stepun der Ansicht, daß die Wahl des ›individuellen‹ Exils statt der ›kollektiven‹ Emigration größere Spielräume der Selbstdarstellung ermöglichte; sein öffentliches Verhalten weist jedenfalls darauf hin. Manche seiner ›Landsleute‹ im Zentrum der russischen Emigration, in Berlin und hier wiederum in ›Charlottengrad‹, haben ihn mit höchst gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen. Das betraf wohl auch den Kern seiner Identität: die eigenartige Mischung aus deutscher Herkunft und angenommenem, beanspruchtem Russentum.
Stepun hat Bedeutungen und Wirkungen mancher seiner politischen und wissenschaftlichen Aktionen und Ambitionen wohl überschätzt. Dies geschah wahrscheinlich weniger aus Aufschneiderei oder Unaufrichtigkeit, sondern aus einer nicht zutreffenden Wahrnehmung ihn umgebender Wirklichkeiten. Der Beginn seiner akademischen Karriere an der TH Dresden und der Verlauf bis zu ihrem Ende sind von merkwürdigen Begleitumständen und Vorkommnissen, Deutungen und Vermutungen umgeben, an deren Zustandekommen er wohl nicht unbeteiligt war. Die Teile »Professur in Dresden«, »Öffentliches Arbeiten in Deutschland (1926–32)«, »Exilrussischer Kulturpolitiker (1930–32)« gehören zu den interessantesten Passagen in dem ohnehin lesenswerten Buch. Hufen verweist auf wissenschaftsgeschichtliche Ereignisse, wie die bereits damals entstandene (und nach 1990 unter völlig anderen Umständen erneut sichtbare) Auseinandersetzung zwischen der altehrwürdigen Universität Leipzig und der noch um akademischen Status und entsprechendes Profil ringenden Technischen Hochschule Dresden.
Er macht darauf aufmerksam, daß »Stepun ... zu den wenigen Emigranten aus Rußland (gehörte), die einen Lehrstuhl an einer deutschen Hochschule erhielten. Als russischer Soziologe in Deutschland und deutscher Professor mit sowjetischem Paß war er zweifellos ein Ausnahmefall im Bildungssystem der Weimarer Republik und in der deutschen akademischen Tradition Gezeigt werden zeit-, insbesondere kulturgeschichtliche Ereignisse und Gestalten, deren Behandlung bis heute aussteht.
Über Stepuns Verständnis von ›Soziologie‹ als akademischer Disziplin, die theoretische Substanz, die methodische und didaktische Antage seiner Lehrveranstaltungen kann man sagen, daß sie grosso modo dem entsprachen, was damals thematisch – wenn überhaupt – als ›Soziologie‹ an deutschen Universitäten erschien. Während der Zeit Stepuns in Dresden bemühten sich, allerdings auf sehr verschiedene Weise, beispielsweise Alfred Weber um die Behandlung der »Kulturgeschichte als Kultursoziologie«, Leopold von Wiese um Beziehungslehren und Anfänge von Feldforschungen, Karl Mannheim um die vor deutschen Dozenten entwickelten »Gegenwartsaufgaben der Soziologie« und der Fassung ihrer im Grunde (kultur)soziologischen »Lehrgestalt« sowie darum, die ›Lage des Fachs‹ überhaupt erst einmal zu bestimmen und ›Soziologie‹ gewissermaßen ›lehrbar‹ zu machen. Am Verzeichnis jener an der TH Dresden von Stepun gehaltenen Lehrveranstaltungen fällt eine bemerkenswerte Themenvielfalt und das Erscheinen von Bindestrich-Soziologien auf; insgesamt ist eine deutliche Orientierung auf kultursoziologische Themen zu erkennen, was offenbar mit der damals auch an der TH Dresden entstandenen Absicht zusammenhängt, einen grundständigen Studiengang Kulturwissenschaften zu entwickeln und einzuführen.
Eigenartig ist sein Verhalten zu jenen Gruppierungen russischer Intellektueller, die sich zwischen 1920 und 1930 (mit Nachläufern bis 1938) in Sofia, Prag, Wien, Paris als Eurasier bezeichneten und mit dem Eurasismus die vorläufig letzte Version der Suche nach der ›russischen Idee‹, Antworten auf die ›russischen Fragen (wer ist schuld, was tun, wohin?)‹ hervorbrachten. Fürst Trubeckoj, während seiner Tätigkeit an der Universität Wien und bis gegen Ende der zwanziger Jahre der Inspirator der Bewegung, war Stepun aus seiner Moskauer Zeit bekannt; er hatte Verbindungen zu anderen Eurasiern wie Fürst Svjatopolk-Mirskij, Florovskij, Suvcinskij, Karsavin und anderen. Seine oberflächlichen Äußerungen lassen die Vermutung zu, daß er die unterschiedlichen, gegensätzlichen Ansätze des Eurasismus entweder nicht gründlich genug zur Kenntnis genommen hat oder daß sie ihm in bestimmter Hinsicht nicht verständlich waren. Das ist insofern eigenartig, als der Eurasismus – wenn auch nur für ein Jahrzehnt – die einzige eigenständige geistige Bewegung russischer Emigranten beziehungsweise Exilanten war, in der versucht wurde, in der Tradition der bisherigen russischen Kontroversen wenigstens ideelle Muster zu ihrer Überwindung durch Verschmelzung beziehungsweise zu ihrer Verschmelzung zum Zwecke der Überwindung zu finden. Dieser mitunter einigermaßen an- und aufregende, wenngleich sich schließlich selbst ad absurdum führende Versuch beeindruckte den »exilrussischen Kulturpolitiker« Stepun jedoch nicht nachhaltig. Das betrifft auch die »Heimkehrerbewegung«, die von Svjatopolk-Mirskij unter den Pariser Eurasiern als »Verband für die Rückkehr ins Vaterland« mitbegründet wurde; der Fürst wurde Mitglied der Kommunistischen Partei, kehrte 1937 in die UdSSR zurück und starb 1939 im Lager.
Mit »Anpassung und Widerstand (1933–37)« überschreibt Hufen diese Jahre im Leben Stepuns, man hätte auch von ›Irrungen und Wirrungen‹ sprechen können. Der »Grenzgänger« geistert hier etwas schemenhaft durch die nationalsozialistische Zeit; die folgenden Jahre zwischen 1937 und 1945 kommen nur noch andeutungsweise vor, und schließlich befindet er sich gegen Kriegsende in einem illustren Kreis von Hitlergegnern am Tegernsee, zu dem etwa Carl Neumann, Ludwig Erhard, Wilhelm Furtwängler, Herbert v. Dircksen und andere gehörten. Dieser Teil der Studie hinterläßt andere Eindrücke als die vorangehenden: Die Darstellungen der Haltungen Stepuns zum Nationalsozialismus beziehungsweise seines Verhaltens bis 1937 und danach sind undeutlich. Das wäre möglicherweise anders, wenn sich der Autor entschlossen hätte, Leben und Wirken Stepuns zwischen 1937/45 und 1965 wenigstens mit einigen klaren Strichen zu skizzieren. Er erklärt, warum dies nicht geschehen ist; das muß man – wenn schon nicht akzeptieren, so doch – respektieren.
Eingangs wurde auf zwei noch notwendige Anmerkungen hingewiesen: Die Erwähnung des »kundigen westdeutschen Lehrstuhlanwärters« – siehe auch den Abschnitt »Erste Vorlesungen im Fach Soziologie (1926–28). Quellenlage und Forschungsstand« – ist keine Empfehlung. Der Anwärter bemühte sich in Leipzig und in Dresden erfolglos um Soziologie-Lehrstühle und begründete dies ziemlich aufdringlich und vordergründig damit, hier gewisse personelle Traditionen selbst fortsetzen zu wollen. Seine, wie Hufen meint, »originelle und streitbare Stepun-Interpretation« (S. 217) war weniger von eigener Leistung und Sachverstand als von dem Ehrgeiz bestimmt, sich mit der Inanspruchnahme dieser ›Wiederentdeckung‹ für Leitfunktionen in der Wiederbelebung der westdeutschen Soziologie und deren Übertragung auf die wissenschaftliche Trümmerlandschaft im Osten Deutschlands zu empfehlen, was dem »Kundigen« bekanntlich gründlich mißlang. Auch die erwähnte Stepun-Forschungsstelle und die -Konferenz brachten letzten Endes nichts.
Was den Bekanntheitsgrad Stepuns in den beiden Deutschland betrifft, so bleibt folgendes festzuhalten: Im Westen verschwand er nach seinem Tode aus dem öffentlichen Bewußtsein, das ohnehin vorzugsweise aus Wahrnehmungen seiner öffentlichen Auftritte in bestimmten geographischen und politischen Regionen entstand. Im Osten war er über die verschiedenen Fassungen seiner Autobiographie jenen Wissenschaftlern bekannt, die sich über Jahrzehnte mit russischer Emigration und russischem Exil (Philosophie, Literatur, Historiographie, bildende und darstellende Künste usw.) beschäftigten sowie jenen, die in Lehrveranstaltungen die Anfänge russischer Historiographie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, akademischer Philosophie und Soziologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (insbesondere Kareev, Kovalevskij, Lavrov, Sorokin – der übrigens im Jahre 1922 wie Stepun mit 161 Wissenschaftlern ausgewiesen wird – und andere) beziehungsweise Wahrnehmungen der russischen Revolution, Sowjetrußlands, der UdSSR in Kreisen russischer wie nichtrussischer Intellektueller behandelten – von philosophischen über geschichts-, kultur- und politikwissenschaftlichen bis zu soziologischen und anderen Sichtweisen, die Ansichten Stepuns eingeschlossen.
Die Studie von Christian Hufen schließt eine Lücke und ist ein eigentlichen Sinne des Wortes ein Desiderat; eine noch ausstehende Geschichte der Kulturwissenschaften wie insbesondere auch der Kultursoziologie in Deutschland gerade in der Zeit zwischen den Weltkriegen wird diese in vieler Hinsicht anregende Arbeit berücksichtigen müssen.
Wolfgang Geier, in: Kultursoziologie 01/2001