Holger Brohm
Die Koordinaten im Kopf
Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik
Rainer Ecken in »Das Historisch-Politische
Buch«, 50. Jahrgang 2002, Heft
6, S. 614
Die Beziehungen zwischen der künstlerischen Avantgarde und der politischen
Führung der DDR waren von Konflikt und Kooperation geprägt. Auf dem Feld der
Auslegung der sozialistischen Sakraltradition wurde um das Wahrheitsmonopol
gestritten. Kooperiert wurde auf dem Feld des Aufbaus des Sozialismus, was
auch in vielen Fällen die Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst nach sich zog.
Die Zensur diente als Machtmittel der politischen Führung, die Grenzen der
Auslegung der sozialistischen Sakraltradition nicht zu überschreiten. Um die
permanenten Grenzkonflikte zwischen künstlerischer Autonomie und politischer
Heteronomie detailliert zu erfassen, bedient sich Holger Brohm der von Bourdieu
entworfenen Konzeption des literarischen Feldes. Damit sollen die schlichten
Dichotomien von Autonomie und Heteronomie aufgebrochen und statt dessen die
komplexe Relation der Akteure und Positionen auf dem literarischen Feld analytisch
erfaßt werden. In Fallstudien über den Aufbruch einer neuen Lyrik-Generation
(Lyrik-Abend der Akademie der Künste Dezember 1962), die Verweigerung der
Druckgenehmigung für den Lyrikband Erinnerung an einen Planeten von
Günter Kunert, die FORUM-Lyrik-Debatte über die Anthologie In diesem
besseren Land (Adolf Endler und Karl Mickel) und Volker Brauns frühe Lyrik
gelingt es Brohm, die verschlungenen Konfliktlinien zwischen den verschiedenen
Zensurbehörden, der Ideologischen Kommission des Politbüros, den Fachgutachtern
der Verlage und den wechselnden Strukturbedingungen des politischen Feldes
nachzuzeichnen. In vielen Fällen dient die Lyrik als Relaisstation, auf der
sich die verschiedenen Akteure, Positionen und Felder treffen, um ihre Dominanzansprüche
geltend zu machen. So diente Kunerts zensierte Lyrik der Parteiführung der
SED 1963 dazu, die Parteisoldaten auf dem politischen wie literarischen Feld
zur Wachsamkeit zu ermahnen, vor ideologischem Verrat und Fraktionsbildung
zu warnen und die Richtlinien für eine modifizierte Kulturpolitik neu zu bestimmen.
Eine strukturelle wie kulturelle funktionale Differenzierung des politischen
und des literarischen Feldes wurde damit verhindert und gleichzeitig eine
ideologische Fixierung auf einen sozialistischen Kanon erreicht, der aber
eine zunehmende künstlerische Verarmung bedeutete.
Klaus Georg Riegel in »Jahrbuch
Extremismus und Demokratie«,
14. Jahrgang 2002, S. 354
[…] Aber
es geht nicht nur um Quantitäten. Das zeigt ein Vergleich mit der späteren
DDR, deren Zensur in den Verlagen, Institutionen und Ministerien für
Kultur und Staatssicherheit ebenfalls mit dem Mittel von Gutachten arbeitete.
Als Gutachter traten dort nicht nur ideologische Parteibeamte vom Schlage
Hans Kochs oder Klaus Höpckes auf, sondern vor allem Autoren selbst,
die […] teils offen, teils anonym für die Zensur tätig waren.
Das machte sie qualifizierter, aber auch anfälliger für die Tendenz
zu einer aufgeklärten Selbstzensur, wenn etwa Gerhard Wolf als einer
der meistbeschäftigten Gutachter tätig war. (Nicht für die
Staatssicherheit, das blieb Uwe Berger und Paul Wiens vorbehalten.)
Auch ihre Gutachten können heute nachgelesen werden. Wie die »Koordinaten
im Kopf« funktionierten, zeichnet Holger Brohm in seiner jüngsten
Studie über Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR-Lyrik der sechziger
Jahre nach. Daß auch diese Zensur unterlaufen wurde und letztlich fiel,
macht Mut.
Hannes Schwenger in »Die Welt / Die literarische Welt« vom
28.12.2002