Guillaume
Paoli und Anne Hahn (Hg.)
Sklavenmarkt /
Utopie und Verlust
Zum Werden und Vergehen
einer Veranstaltungsreihe im Unterleib Berlins
Die Sklavenmarktler sind sich treu geblieben geblieben:
Mit »Utopie und Verlust« werden sie bestimmt keinen Erfolg beim breiten
Publikum haben. Die darin veröffentlichten Texte sind allzu unterschiedlich, in
ihrer Intention wie in ihrer Qualität. Neben Arbeiten von bekannten Autoren
stehen Beiträge von Stammgästen, die sich sonst gar nicht oder eher selten
künstlerisch betätigen. Eben keine »runde Sache«. Und das ist gut so: Das Buch
bildet dadurch ein schönes Adäquat für die Veranstaltungsreihe, die genau so und
nicht anders war. Jörn Luther in der »Jungen Welt« am 31.01.2001
In die Freiheit entlassen
Der
vielbeschworene Mythos vom Prenzlauer Berg ist eine komische Sache: Je mehr man
in den Medien über die mythische »Szene« wilder und unbeugsamer Untergrundliteraten
liest, um so lauter bestreiten deren vermeintliche Akteure, daß es eine solche
je gegeben hat. Nach nahezu einhelliger Meinung ehemaliger Ost-Dichter ist der
Mythos einer verschworenen Gemeinschaft von Nischenexistenzen nichts als eine
Erfindung westlicher Medien. An den Stammtischen bestimmter Lokale wird diese
Behauptung ebenso gerne und häufig vorgetragen wie die Feuilletons deren
Gegenteil gebetsmühlenartig repetieren.
Unberührt von diesem eingespielten Ritual traf sich kürzlich eine Gruppe von
Literaten überwiegend ostdeutscher Herkunft in einem Lokal in der Choriner
Straße im Prenzlauer Berg. Zunächst war alles wie immer, wenn sich der
»Sklavenmarkt« trifft: Man las sich lustige und ernste Texte vor, die weißen
Strahlen der Diaprojektoren des Lichtbildkünstlers Jan Sputnik schnitten scharf
durch die von Zigaretten- und Zigarrenrauch dicke Luft, und Wodka machte in
Porzellantäschen die Runde. Und doch war diesmal alles anders, denn der
»Sklavenmarkt« tagte zum letzten Mal. Die hier noch einmal öffentlich
zusammenkamen, nahmen Abschied von einer mehrjährigen Tradition: Immerhin vier
Jahre lang hatte die Lesereihe »aus dem Unterleib Berlins« gelebt und gewirkt.
Geboren wurde der Sklavenmarkt im Jahr 1996. Damals eröffneten die Dichter Bert
Papenfuß und Frank »Willi« Willmann mit einigen Freunden eine Baracke, die
symbolisch zwischen Staatskultur und Marktwirtschaft und sehr konkret zwischen
Volksbühnen-Dependance und Prater-Gaststätte lag, wie sich Mitbegründer
Guillaume Paoli erinnert. Hier konnte man nachmittags auf Klappbänken sitzen
und Flaschenbier trinken, einmal wöchentlich gab es Veranstaltungen, etwa einen
Diavortrag zum ästhetischen Phänomen »Frauen an der Brüstung«. Fortan lasen
hier bekannte Dichter wie Adolf Endler ebenso wie gänzlich unbekannte Autoren,
die sich nicht selten aus dem Publikum rekrutierten. Immerhin knapp 150 Autoren
umfaßt die Liste der Markt-Autoren. Die Qualität der Veranstaltungen war meist
nur schwer vorhersehbar, es gab brillante Vorträge und miserable Abende.
Manchmal traf sogar beides zu, etwa wenn der Dichter Peter »Schappi« Wawerzinek
furios in exzessiver Besoffenheit abstürzte.
Ein kalter Winter hatte die frierenden Literaten in das »Theater unterm Dach«
in die Danziger Straße getrieben, spätere Quartiere waren eine weitere Baracke
im Pratergarten und das »Siemeck« in der Rykestraße. Diese Zeit ist heute
vielen in bester Erinnerung, was nicht unwesentlich an den halbierten
Bierpreisen liegen mag, die ein stets durstiges Publikum wie magisch angelockt
hatten. Nachdem man sich jedoch mit dem Prater-Management wegen angeblichem
oder tatsächlichem »Bierschmuggel« überworfen hatte und das Siemeck pleite war,
fand der Sklavenmarkt sein letztes Domizil in der Restaurant-Kneipe »Walden« in
der Choriner Straße.
Hier war die Lesereihe während der vergangenen Jahre heimisch, nun soll Schluß
sein. Die Gründe liegen wie so vieles im Halbdunklen: Manche sagen, eine
zwischenzeitliche Haushaltssperre des Kulturamts Prenzlauer Berg, das
zwischendurch den Förderhahn aufgedreht hatte, habe dazu beigetragen, andere
munkeln von Streit mit der Sklavenabspaltung »Gegner«, die inzwischen im
»Kaffee Burger« in Mitte ihr Hauptquartier gefunden hat. Bert Papenfuß, immer
noch auratisches Zentrum des »Gegner«-Kreises, hält die Zerwürfnisse jedoch für
»unwesentlich«. »Der Sklavenmarkt hatte seine Zeit, es muß auch mal Schluß
sein», sagt er schlicht.
So sehen das seine ehemaligen Mitstreiter im Grunde auch. Schließlich sei das
Scheitern schon im Namen angelegt gewesen, für den ein ironisch-antikapitalistischer
Text »Zur Wiedereinführung der Sklaverei« (1932) des großen Verhinderten Franz
Jung Pate stand. Nach der teils lyrischen und teils prosaischen letzten Lesung
von Autoren wie Annett Gröschner, Bert Papenfuß und Helmut Höge tanzten die
Literaten sehr ausgelassen und handelten so dem »Gelöbnis der Sklaven« zuwider,
das einst besagte: »wir geloben (...) uns im großen kreis stets etwas bedeckt
zu halten und einsicht vor ausgelassenheit ergehen zu lassen.« Mit dem
»Sklavenmarkt« geht zweifellos ein weiterer Teil des »Mythos vom Prenzlauer
Berg« zu Ende. Doch auch dieses Ende, hört man hinter den Kulissen, dürfte
zwangsläufig ein Neuanfang in anderer Gestalt werden – auch wenn jetzt noch
keiner sagen möchte, wie der aussehen wird. Bodo Mrozek im »Tagesspiegel« am
07.01.2001
Ausdehnung durch Reduktion
Die Verwirrung muß noch kleiner werden: Wie die mobile Veranstaltungsreihe
»Sklavenmarkt« ihre Spuren im sub- und hochkulturellen Leben Berlins
hinterlassen hat.
Ende des Jahres wurde die seit vier Jahren bestehende mobile
Veranstaltungsreihe für Literatur, Film und Kunst – der »Sklavenmarkt« –
eingestellt. Sie wurde vom Bezirk Prenzlauer Berg gefördert und gastierte
zuletzt im »Walden« in der Choriner Straße. Genau genommen ging sie aus der
Wendezeitung »Die Andere« des Neuen-Forum-Verlags »Basisdruck« hervor. Dort
tauchten bei den Regimekritikern Klaus Wolfram und Stephan Ret ab 1990 immer
mehr Künstler auf, die mitmachen wollten. Nachdem der »Basisdruck«-Verlag seine
Zeitung eingestellt und die Kneipe »Torpedokäfer« eröffnet hatte, produzierte
diese Autorenschar dann die Monatszeitschrift Sklaven, die sich regelmäßig auch
in der Kneipe präsentierte. Damals konnte man noch nicht ahnen, daß die Wende
sich bis in die Sätze fortsetzte – und der »Sklavenmarkt« etwas künstlerisch
zusammenbrachte, was nicht zusammengehört. Am produktivsten wurde und wird
dieser Spagat von dem Ostwestost-Dichter Bert Papenfuß verkörpert. Verkürzt
gesagt, war es vor der Wende langweilig, eng und muffig, die »Verhältnisse«
schienen bombenfest. Die jungen Autoren experimentierten wie wild dagegen an:
Ihre Texte waren anspielungsreich, kryptisch und beleidigend, aber auch
agitierend. Sie schrieben in und für eine sich ausbreitende linke Szene.
Diese Situation drehte sich vollkommen um: Es wurde immer ungemütlicher und
unübersichtlicher – und dementsprechend kam den Autoren nunmehr die Aufgabe zu,
die wachsende Komplexität zu reduzieren, sich wie Luhmannisten zu gerieren.
Kurze, klare, wahre Sätze und Geschichten, die auch ein bißchen redundant sein
dürfen. Vor der Wende hatte der taz-Chefideologe Wolfgang Neuß noch gemeint:
»Die Verwirrung muß größer werden!« Jetzt ging es in »realistischen« Häppchen
andersherum. Man könnte von einem bloß auf den Kopf gestellten »Adolf Endler«
sprechen, der ja tatsächlich quasi hinter allen »Sklaven«-Aufständen stand,
aber es mußte ohne Nebensätze abgehen – und partout mit neuen »Faces«. Die
wurden auch gefunden. Die Alten im Westen setzten sich den goldenen Schuß – wie
»Fascho-Kurt«. Oder sie gingen auf schweren Entzug – wie Harry Hass, Claudius
Wachtmeister und Rudolf Stoert. Letzterer meldete sich übrigens gerade mit
einer Wohnungslosengeschichte im Gegner, wie die Zeitschrift Sklave jetzt
heißt, zurück. Aus dem »Sklavenmarkt« heraus entwickelten sich dagegen
inzwischen die Biografien von Falko Hennig und Wladimir Kaminer, die ihre
Texterfolge immer umsichtiger ausbauen und nüchtern um ihre Existenz
herumorganisieren. Letzterer bleibt jedoch mit seiner regelmäßigen
»Russen-Disko«, ersterer mit seinem »Radio Hochsee« dem
»Torpedokäfer«-Nachfolger »Kaffee Burger« in der Torstraße verbunden. Dort ist
Bert Papenfuß nun für das Kulturprogramm verantwortlich. Der Dichter Frank
Willmann, neben den Glücklichen Arbeitslosen und Anne Hahn Mitveranstalter des
»Sklavenmarkts«, meinte zum Schluß, er wolle in Zukunft nichts mehr mit
Papenfuß zusammen machen. Ähnlich äußerte sich auch einmal Anett Gröschner, die
den Übergang vom Sklaven zum Gegner nicht mehr mittat. Gerade veröffentlichte
sie einen Roman: »Moskauer Eis«, davor ein Buch über den Magdeburger FC. Auch
Frank Willmann war dann mit seinem 1. FC Union-Fanbuch sehr erfolgreich.
Auf dem »Sklavenmarkt« ging es natürlich demgegenüber stets um einen »dritten
Weg« – um Ausdehnung durch Reduktion genaugenommen, wobei die Verdichtung nur
eine Möglichkeit von mehreren darstellt. Es beteiligten sich auch
Defa-Dokumentaristen, Dorothee Wenner vom Berlinale-Forum und jede Menge
Musiker, inklusive Peter »Schappi« Wawerzinek. Und nebenbei gelang im
Pfefferberg noch eine »Messe für Geldbeschaffungsmaßnahmen« zu Ehren von Arno
Funke alias Dagobert sowie eine fast regelmäßige Video-Monatsschau, die zuletzt
von André Meier herausgegeben wurde. Viele Mitwirkende landeten bei den neuen
Literaturagenten, auf den Berliner Seiten der FAZ oder in der
»Prater«-Volksbühne. Ein Reader namens »Utopie und Verlust« (erschienen im
Berliner Lukas Verlag) versammelt jetzt noch einmal diese und andere
»Sklavenmarkt«-Nutzer auf ein und derselben Oberfläche. Helmut Höge in der
taz (Berlin lokal) Nr. 6337 vom 04.01.2001
Utopie und Verlust
Irgendwann im
Sommer 1996 haben mich meine damaligen Nachbarn überredet, meine angestammten
Friedrichshainer Gefilde einmal zu verlassen und mich bei einer
»Sklavenmarkt«-Veranstaltung in einer Baracke der Pratergartens davon zu
überzeugen, daß es sogar im Prenzlauer Berg noch so etwas wie subversive Kultur
jenseits orange angemalter Kollwitzplatz-Kneipen gibt. In provisorischer
Atmosphäre auf Holzbänken und bei vertretbaren Bierpreisen wohnte ich einem
direkt überzeugenden Dia-Vortrag mit Musikeinlagen bei, der sich später als die
Gründungsveranstaltung der Glücklichen Arbeitslosen herausstellte.
Guillaume Paoli, einer der damalligen Darbietenden sowie
scheinschlag-Redakteurin Anne Hahn haben als langjährige Mitorganisatoren des
Sklavenmarktes Autoren, Stammgäste und Quereinsteiger aufgefordert, gemeinsam
ein Buch zu verfassen, um die Veranstaltungsreihe würdig zu beenden.
Herausgekommen ist ein 115 Seiten starkes Werk mit dem Titel »Utopie und
Verlust – Zum Werden und Vergehen einer Veranstaltungsreihe im Unterleib
Berlins«, das insgesamt 27 Autoren, Zeichnern und Fotografen ein Forum bietet.
Die versammelten Bilder, Gedichte, Essays und Prosastücke stehen auf den ersten
Blick etwas unvermittelt nebeneinander, was dem Buch aber keineswegs schadet,
sondern eher die Vielseitigkeit des Sklavenmarktes zum Ausdruck bringt.
Initiiert wurde die Reihe ursprünglich, um der inszwischen eingeschläferten
Zeitschrift »Sklaven« eine weitere Plattform hinzufügen, wobei sich beides gegenseitig
befruchten sollte. Von den Redakteuren des Sklavenmarktes sowie dessen
Nachfolgeprojektes »Sklavenaufstand« sind mit Annett Gröschner, Renate Koßmann
und Bert Papenfuß immerhin noch drei an dem Buch beteiligt. Tatsächlich hatte
sich der Sklavenmarkt recht früh verselbstständigt, seine Unabhängigkeit
gegenüber den beiden Zeitschriften auch behauptet und eine Art
Sklavenmarkt-Gemeinde herausgebildet. Eine gute Idee der beiden Herausgeber war
es deshalb, auch die Stammgäste nach einem Beitrag zu fragen.
Neben Autorenlesungen schälte sich als zweiter Schwerpunkt der
Veranstaltungsreihe die Aufführung von Dokumentarfilmen heraus. Derartiges kann
in einem Buch naturgemäß nur am Rande eine Rolle spielen. Torsten Schulz'
anekdotenhafte Erzählung über die Entstehungsgeschichte seines Films »Kuba
Sigrid«, ein Porträt einer Frau, die einen Kubaner heiratete, mit ihm nach Kuba
zog, schließt diese Lücke und ist dabei sogar fast so lebendig wie der Film
selber.
Ein schönes Buch ist es geworden und ein Zeitdokument über eine der
interessantesten Veranstaltungsreihen im Berlin der 90er ohnehin. Dirk
Rudolph im »scheinschlag« 12/00