Jürgen Israel, Peter Walther (Hg.):

Musen und Grazien in der Mark. 750 Jahre Literatur in Brandenburg

Ein Lesebuch

Richtet die literaturwissenschaftliche Forschung im allgemeinen den Blick vor allem auf die literarisch bedeutsamen Zentren, so reißt doch die Beschäftigung mit der Provinz nie ganz ab. Seit der Gründung der neuen Länder am Beginn der neunziger Jahre erlebt nun der regional interessierte Bücherfreund eine Welle von Veröffentlichungen zur Literatur- und Kulturgeschichte zwischen Elbe und Oder. Am Anfang standen literarische Reiseführer, es folgten verschiedene poetische Annäherungen an das Thema, bis schließlich die Lexikographen mit neuen Standardwerken aufwarteten. Für die Mark Brandenburg und Berlin seien nur die mittlerweile drei Bände zur frühneuhochdeutschen Zeit erwähnt, die Lothar Noack und Jürgen Splett veröffentlichten (Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin 1997–2001). Neu anzuzeigen sind ein Schriftstellerlexikon und eine historische Anthologie, beide entstanden anläßlich einer Ausstellung und auch einzeln zu erwerben.

[…] Ein brandenburgische Literaturanthologie muß natürlich eine ganz andere Konzeption verfolgen als das Lexikon, soll sie zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden. Die Herausgeber Jürgen Israel (Jg. 1944) und Peter Walther verzichteten auf den Anspruch, die in Brandenburg entstandene Literatur zu präsentieren. Statt dessen wird ein Querschnitt durch die Geschichte Brandenburgs im Spiegel der Literatur dargeboten. So sind Sagen über die Entstehung verschiedener Orte aufgenommen, aber auch literarische Verarbeitungen. Neben simplen volkstümlichen Abzählreimen fin­den sich poetische Meisterwerke von Sarah Kirsch und Günter Eich. Die Auswahl hält gut die Waage zwischen Lobpreis der märkischen Musenhöfe in Sanssouci oder Schloß Wiepersdorf und Sarkasmen über die Öde und Zurückgebliebenheit Ostelbiens (Fontäne: »Gott, ist die Gegend runtergekommen!«). Die größte Freude hat der lokal nicht gebundene Leser letztlich an jenen Werken, in denen sich nach Hermann Kasack »das Märkische in das Allgemein-Menschliche steigert«.
Carsten Wurm in »Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie«, Heft 172 (4.2003)

Anläßlich der Ausstellung »Musen und Grazien in der Mark«, deren Titel ein spöttisches Urteil Goethes über das literarische Leben in Brandenburg selbstironisch zitiert, erschien ein zweibändiger, aufwendig gestalteter Katalog als Beigabe für alle diejenigen, die sich für regionalgeschichtliche Literatur und -geschichtsschreibung interessieren. Der 1. Bd. »Ein Lesebuch« versammelt über 170 Texte, die die Vielfalt der »märkischen Dichterlandschaft« spiegeln sollen. Der 2. Bd »Ein historisches Schriftstellerlexikon« enthält »über 2800 Eintrage zu 2059 Schriftstellern, deren Biographien mit 690 ehemals bzw. heute noch eigenständigen Orten in der Mark Brandenburg verbunden sind«, wobei noch lebende Autoren unberücksichtigt bleiben. Aus den knappen, sorgfaltig erstellten Einträgen erfahrt man staunend, wer, wann und wie lange z.B. in Alt-Bork, Jüterbog, Luckau, Werder, Zühlsdorf oder anderswo gelebt hat, und im Lesebuch trifft man auf einige Bekannte und noch mehr Unbekannte des »großraum berlin« (so der respektlose Titel eines Gedichts von Lutz Seiler), der sich als »Mark Brandenburg« gegenüber der Metropole Berlin zu behaupten sucht. Die Frage »Was eigentlich hat man unter »brandenburgischer Literatun zu verstehen?« bleibt trotz des immensen Fleißes und Engagements der Hrsg. ohne Antwort. Immerhin gibt es jetzt ein diesbezügliches Nachschlagewerk und ein Lesebuch, in dem vergnügliche und weniger vergnügliche Entdeckungen zu machen sind. Inge Stephan in »Germanistik«, 43(2002)3/4

Es ist nicht einfach, ein Lesebuch über das Land Brandenburg zusammenzustellen. Wie soll man das eigentlich Märkische, das mit seinen Sand- und Kieferflächen daliegt wie die leere Schale, aus der Bär und Adler, die Weltstadt und die Großmacht, lang ausgekrochen sind, rein von dem absondern, was bloß berlinisch oder preußisch ist? Gehört der Berlinschwabe Brecht mit seinen Buckower Elegien dazu? Oder Walter Rathenau, wenn er mit Kaiser und Großbourgeoisie abrechnet? Die Herausgeber Jürgen Israel und Peter Walther haben diese Fragen bejaht und so dafür gesorgt, daß ihnen ihre Sammlung an den Rändern ein wenig ausfranst. Mit einer gewissen trotzigen Ironie wählt sich die Ausstellung, die zu diesem Band die Veranlassung gegeben hat, den Namen »Musen und Grazien in der Mark«. So hat Goethe seine Parodie über Friedrich August Wilhelm Schmidt betitelt, den dichtenden Pastor von Werneuchen, dem Verse wie die folgenden über eine Dorfkirche gelangen: »Wie schön die Fensterscheiben, rund und düster! / Des Altars Decke, wo die Motte kreucht! / Die schwarzen Spinnenweben, die der Küster / Selbst mit dem längsten Kehrwisch nicht erreicht! / Wie schön der Totenkränze Flittern, / Die hier gestäubt am kleinen Chore zittern!« Auch der Romantiker Tieck hatte es beklagt, daß Schmidt von Werneuchen »alles so durcheinander schön« fände. Doch wer nicht die Bereitschaft mitbringt, Schönheit im Kargen zu sehen, für den ist die Mark literarisch verloren. Nicht erstaunen darf es freilich, daß die Landschaftsgedichte von Peter Huchel; Sarah Kirsch, Günter Eich fast immer einen Zug ins Melancholische haben. Reich an Regen und Krähen Es ist eine gute Gegend, um traurig zu sein. Jeder von den dreien hat ein Gedicht verfaßt, das, nach dem Landsitz, wo Bettina und Achim von Arnim ihre sieben Kinder großzogen, »Wiepersdorf« heißt, Gebilde reich an Regen und Krähen. Die elegische Stimmung von heute gilt der Dürftigkeit von damals, als Arnim seiner Frau brieflich empfehlen muß, den mitgeschickten Kalbskopf nur ja gleich abzukochen, daß er nicht schlecht wird, und Bettina hinwiederum von den Klagen des Theologen Schleiermacher berichtet, der nicht einmal in seinem Schlafzimmer die ihm nötige Ruhe findet, weil man dort nämlich den Braten für die Gäste aufschneidet. Solche Details machen den Reiz von Lesebüchern aus. Es gibt ja immer zwanzigmal mehr lesenswerte Bücher, als man selbst in einem müßigen Leben lesen könnte, und deshalb ist ein dickes Buch mit lauter kleinen Kostproben immer eine willkommene Orientierungshilfe. Schon nach ein, zwei Seiten sieht man ab, daß sich eine nähere Bekanntschaft mit den historischen Romanen des Willibald von Alexis entbehren läßt; und davon, daß Arno Holz, wie es immer heißt, sträflich unterschätzt würde, kann nach Lektüre einer seiner pünktchenreichen Mittelachsenpoesien keine Rede sein. Andererseits aber wird man auf die Spur von Moritz Heimann gesetzt, einem Grübler von kristallener Klarheit, und man lernt Bismarck, was immer man sonst von ihm halten mag, als einen völlig trittsicheren Stilisten kennen. Als Leitmotiv klingt durch viele dieser Texte im Stundentakt das Potsdamer Glockenspiel, »Üb immer Treu und Redlichkeit«, dessen übertriebener altväterischer Schlichtheit ich tief mißtraue. Insgesamt jedoch muß ich zugeben, daß es die konservativen Autoren sind - Reinhold Schneider, Ina Seidel, Wolf Jobst Siedler -, die die lebendigsten Gedanken dieses Buchs geäußert haben: als könnte man Preußen und seine Wiege, die Mark, nur dann plastisch sehen und begreifen, wenn man es, und sei es mit Vorbehalt, liebt.
Nicht ganz organisch verbindet sich mit diesem ein zweiter Band, ein literarisches Lexikon. Seine extrem knappen Artikel vermitteln kaum ein Bild der vielen Autoren, nicht einmal zu einer Bibliographie reicht es. Da die Sortierung nach Ortsnamen geschieht, wird Fontane z.B. in nicht weniger als sechzehn Schnipsel zerhackt; das ist nicht besonders nützlich. Den Konflikt von personalem und räumlichem Prinzip, bei einem solchen Projekt wohl unvermeidlich, hat leider der Raum für sich entschieden. Burkhard Müller in der »Süddeutschen Zeitung« vom 5. November 2002

Das Lesebuch erschien als Bd. I des Katalogs zur Ausstellung »Musen und Grazien in der Mark. 750 Jahre Literatur in Brandenburg«. Es vermittelt mit einer Auswahl aus über sieben Jahrhunderten brandenburgischer Literatur einen repräsentativen Einblick in die vielfältige Überlieferung, die z.T. aus ihren engeren Bezügen zum Werk und zur Person des Autors herausgetreten ist und zum Bestandteil dessen wurde, was man gerne als kulturelles Erbe bezeichnet. Die frühesten erhaltenen Zeugnisse der brandenburgischen Literatur reichen zurück in die Mitte des 13. Jahrhunderts. Neben den Traktaten des Ruppiner Priors Wichmann von Amstein bilden die Verse des brandenburgischen Markgrafen und Minnesängers Otto IV. (mit dem Pfeile) die älteste für Brandenburg bezeugte Dichtung. Mit der Stiftungsurkunde der Viadrina von 1505 und dem Toleranzedikt von 1685 werden zwei Dokumente präsentiert, die für die Region auch wirtschaftlich und politisch von großer Bedeutung sind. In der großen Anzahl von vorliterarischen Zeugnissen, den Sagen, und von historischen Quellen ist viel geschichtliche Erinnerung überliefert, z.B. in Widukinds »Die Eroberung von Brandenburg an der Havel«, Tiethmars von Merseburg »Die Zerstörung Havelbergs und Brandenburgs«, Willibald Alexis' »Legende von der Gründung des Klosters Lehnin«, in der »Sage von dem falschen Waldemar«, »Der Ursprung derer von Ziethen«, »Das Königsgrab bei Seddin« oder »Der alte Fritz geht um«.
Unpolitisch ist die brandenburgische Literatur nicht. Davon zeugen neben dem erwähnten Toleranzedikt aus staatspolitischem Kalkül Armin T. Wegeners »Offener Brief an Adolf Hitler«, die Gedichte Sarah Kirschs und die Lebenserinnerungen von Margarethe Buber-Neumann und Eduard Claudius. Neben weniger bekannten Dichtern und Schriftstellern sind auch so bedeutende Autorinnen und Autoren wie Bettina und Achim von Arnim, Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Gerhard Hauptmann, Richard Dehmel, Peter Huchel und Hermann Kasack mit der historischen Kulturlandschaft der Mark verbunden. Die repräsentative wie abwechslungsreiche Auswahl des Lesebuchs reicht von den frühesten erhaltenen Zeugnissen im 13. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart zu Günter Eich, Franz Fühmann oder Wolf Jobst Siedler. In den vorgestellten literarischen Zeugnissen spiegeln sich die Wechselfälle der regionalen Zeit- und Kulturgeschichte. [
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Fritz Wagner im Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 53(2002)

[…] Demgegenüber bietet das Lesebuch eine recht passable Auswahl. Es zitiert Sagen, Briefe, Gedichte, Erinnerungen. Wer weiß schon, daß Alfred Kerr, der Kritiker, auch Gedichte schrieb? Wer weiß, daß Fridericus Rex deutsche Verse ersann? Hier kann er sie nachlesen. Auch Mittelhochdeutsches wird abgedruckt, zum Beispiel von Markgraf Otto IV.; leider stehen seine Strophen nicht in tadelsfreier Transkription. » teils-teils das Ganze« heißt es doppelsinnig in einem abgedruckten Gottfried-Benn-Gedicht, »Sela, Psalmende.« Rolf Schneider in der »Berliner Morgenpost« vom 14. Juli 2002

Der Titel »Musen und Grazien in der Mark« spricht für die Ausstellung über 750 Jahre Literatur in Brandenburg. Die Übertreibung ist ihm gleich anzuhören. Die Selbstironie der Ausstellungsmacher vom Brandenburgischen Literaturbüro wird erst recht deutlich, wenn man erfährt, daß er einem Spottgedicht Goethes auf den stolzen Märker Schmidt von Werneuchen entnommen ist. »Glücklich, wenn ein Deutscher Mann / Seinem Freunde, Vetter Micheln, / Guten Abend bieten kann!«, schreibt der Geheimrat aus dem Weimarischen. Theodor Fontane, der sich bekanntlich bestens auskannte in der Gegend, kam knapp einhundert Jahre später zu keinem freundlicheren Urteil. Er nannte die Märker »neidisch, schabernackisch und engherzig«, sie hätten zudem »den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen«. Solch ein Mensch ist Peter Walther nicht. Der Herausgeber eines Lesebuchs zum Thema und Kurator der Ausstellung erklärt nüchtern: »Die Literatur aus der Mark Brandenburg hat, blickt man auf die deutsche Literatur im Ganzen, stets ein bescheidenes Ansehen genossen.«
Aber was genau ist diese Literatur? Müssen die ihr zugeordneten Dichter dort gelebt haben oder reicht deren Beschäftigung mit der Gegend? Sollten sie dort gar ihre biographischen Wurzeln haben? – Aber dann würden ihre berühmtesten Vertreter recht eigentlich nicht dazugehören: der hugenottische Fontane und Heinrich von Kleist, der altem pommerschem Adel entstammt. Nur nicht wieder engherzig sein, mögen sich die Ausstellungsmacher gedacht haben. Sie widmen sich einer Region, die sich stets in Konkurrenz und oft im Schatten des lautstarken Berlins entwickelte. Selbstbewußt stellen sie diese Beziehung als Vorteil heraus. Und um die Vielfalt der literarischen Entwicklungen zu zeigen, werden auch Texte herangezogen, die einfach nur thematisch passen.
Der Ort, der Kutschstall am Potsdamer Neuen Markt, ist gut gewählt: Der Besucher begibt sich in ein preußisch-kühles Gemäuer. Die karge Beleuchtung ist auf die Ausstellungstafeln konzentriert, die sich in langer Reihe aneinander fügen. Gezeigt wird ein Überblick, geordnet nach Schwerpunkten mit unterschiedlicher Gewichtung. Die »Literarischen Zentren« etwa nehmen viel Platz ein mit der Vorstellung der geistlichen Dichtung und der weltlichen Bildungsstätten im 16. Jahrhundert, mit der Rolle Berlins, dessen Salons zum Teil auf dem Lande ihre Fortsetzung fanden, und mit der großen Bedeutung der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder. Eine Vielzahl fast vergessener Namen erhält neue Bedeutung. Inhaltlich vertiefend arbeitet die Ausstellung besonders beim dritten – »Simplicius in der Mark« – und beim fünften Kapitel – »Mythos Heimat«. Sie erörtert das Verhältnis Kleists, Fontanes, Tucholskys, Klabunds, Ehm Welks, Peter Huchels und Franz Fühmanns zur literarischen Tradition der Region, zu den Menschen und den Zwängen und Freiheiten dort. Da wird aus der vielfach beklagten Einöde plötzlich ein Fluchtpunkt und ein Refugium. Im Raum sind einige kleinere Schaukästen aufgebaut für alte Drucksachen, Briefe und ähnliche Dokumente. Ein originelles Fundstück ist der Arbeitsplan Franz Fühmanns, mit dem er 1968 ein zunächst mit Verve vorbereitetes Projekt »Auf den Spuren Theodor Fontanes« organisierte. Er »stolpere durch eine Geschichte, die so ziemlich das Gegenteil meiner Tagträume ist, obwohl sie in Maximen Bedeutendes hervorgebracht hat«, schrieb er in sein Tagebuch. Fühmann, der in Ost-Berlin wohnte, aber in einer Blockhütte in Märkisch-Buchholz Ruhe zum Arbeiten fand, der hier auch begraben ist, fühlte sich trotz aller Nähe nicht heimisch genug in der Gegend, um neue »Wanderungen« zu verfassen.
Er ist übrigens mit drei Einträgen im »Historischen Schriftstellerlexikon« vertreten, das begleitend zur Ausstellung erschienen ist. Fühmann steht unter Märkisch-Buchholz, unter Fürstenwalde, wo er Anfang der 1980er Jahre mit geistig Behinderten arbeitete, und unter Neuruppin, wo er nach Fontane suchte. Mehr als 2000 Autoren sind verzeichnet, nach Ortschaften sortiert und deshalb oft mehrfach genannt. Bei Fontane kann man da also eine Weile blättern. Die biographischen und bibliographischen Angaben sind äußerst knapp. So unpraktisch das Lexikon ist, so anregend ist das Lesebuch. Es präsentiert mit Sagen, mundartlichen Versen, Spottgedichten, Romanauszügen, Geschichten, Briefen die ganze Breite der in 750 Jahren entstandenen Literatur und erweist sich als verführerische Einladung zum Lesen. Cornelia Geißler in der »Berliner Zeitung« vom 11. Juli 2002

Der erste Band, das »Lesebuch«, verbindet in idealer Weise Unterhaltung und Bildung, denn jeder wird dort Neues und Interessantes finden – vom historischen, auch politischen Text bis zur ergreifenden, aber auch der zarten Lyrik, von Kirchenliedern über Balladen bis zu politischen Satiren, von Märchen und Sagen über Briefe bis zur packenden Erzählung. Die gute Auswahl reicht von der Stiftungsurkunde der Viadrina von 1505 bis in die neueste Gegenwart. Sie wird mit einem bisher ungedruckten Rundfunkvortrag meines Vaters, Hermann Kasack, von 1928 eröffnet, der zu dieser Edition sehr gut als Vorwort paßt. Kaum ist einmal ein Text so zeitgebunden, daß er nicht gleichnishaft zeitlose Bedeutung hat. Unter den weit über hundert Beiträgen des »Lesebuchs« befinden sich welche von Achim von Arnim, Bert Brecht, Horst Bienek, Otto von Bismarck, Adalbert von Chamisso, Günter Eich, Friedrich II., Theodor Fontane, Peter Huchel, Sarah Kirsch, Heinrich von Kleist, Jochen Klepper, Helmuth Graf von Moltke, Friedrich Nicolai, Michael Praetorius, Walther Rathenau, Rudolf Alexander Schröder, Erwin Strittmatter, Ludwig Tieck und Gerald Zschorsch.
Anlaß für die beiden Bände ist eine aktuelle Ausstellung in Potsdam. Das Lexikon, der zweite Band, bietet erstmals Informationen zu 2059 Schriftstellern und deren Biographien, die mit Orten in der Mark Brandenburg verbunden sind. Voraussetzung für die Aufnahme – im Unterschied zum Lesebuch – war es, daß der jeweilige Autor sein Leben abgeschlossen hat, während – ebenfalls im Unterschied zum Lesebuch – die literarische Qualität keinen Maßstab bildet. Verfasser von Gelegenheits- und Gelehrtendichtung, rhetorischen Lehrhilfen, Gebrauchsliteratur, aber auch von Fachliteratur mit poetischem Anspruch sind ebenso berücksichtigt wie Theologen, Historiker und Philosophen, deren Werke über die Grenzen des Fachs hinaus gewirkt haben. Vollständigkeit wurde insbesondere im Bezug auf das 16. und 17. Jahrhundert nicht erstrebt. Es entspricht dem Nachschlagebedürfnis und der Quellenlage, daß besonders viele Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts vertreten sind. Das Lexikon, das auf 73 Nachschlagewerken und historischen Darstellungen basiert, erfüllt alle wissenschaftlichen Bedingungen für eine rasche Information und für weitere Forschung. Die Ordnung ist alphabetisch nach Orten. Die mit Potsdam verbundenen Autoren nehmen z.B. 86 Spalten ein, die mit Werder (Havel) verbundenen wie Christian Morgenstern drei Spalten (»Die Galgenglieder von M. gehen wahrscheinlich auf den Galgenberg bei Werder zurück«). Als Autoren, bei denen sich »Herkunft, Thematik und literarische Ausdruckskraft auf eine – mit Blick auf ihre Bedeutung für die Literatur in Brandenburg – ideale Weise verbinden«, nennt der Herausgeber »Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Peter Huchel und Hermann Kasack«. Heinrich von Kleist ist mit Frankfurt/Oder verbunden. Theodor Fontäne wird im Zusammenhang mit 15 Orten genannt. Peter Walther bietet stets wesentliche biographische Fakten, zögert aber auch nicht, gelegentlich zu werten, nennt z.B. Paul Gerhard richtig den »bedeutendsten deutschen protestantischen Kirchenlieddichter des 17. Jahrhunderts«.
Die beiden Bände »Musen und Grazien in der Mark« sind ein wichtiges und in dieser unpolitischen Weise erst seit der Wiedervereinigung mögliches Dokument. Lesebuch und Lexikon ergänzen sich ideal. Wer vom Lesebuch ausgeht, findet im Lexikon die biographische, topographische und historische Einordnung, wer im Lexikon nachgeschlagen hat, kann sich dann die nüchternen Informationen im Lesebuch lebendig machen, jedenfalls immer dann, wenn es sich literarisch lohnt. Es lohnt sich! Wolfgang Kasack im »Neuen Deutschland« vom 9. Juli 2002

Die Mark Brandenburg ist den Deutschen nie die Landschaft der Seele geworden. Der Rhein, der Schwarzwald und die Kreidefelsen vor Rügen haben das Rennen gemacht. Jetzt wird der Mark durch eine Ausstellung in Potsdam und eine zu ihrem Anlaß erscheinende Edition ihr alter widersprüchlicher Zauber wiedergegeben. Peter Walther und Jürgen Israel haben in herkulischer Anstrengung 750 Jahre Literaturgeschichte in Brandenburg rekonstruiert – von den wunderbaren Liebesgedichten Otto IV. über die faszinierend absurden Sagen und die Heroen Fontane, Kleist, Arnim bis zu Huchel, Fühmann und Eich. Man lernt kennen: ein frommes Land der Innerlichkeit, das nur schwer zu christianisieren war; eine öde Gegend, zur Flucht anstachelnd und doch Refugium innerer Emigration; Heimat der Vernunft, wo Utopien staatstragend wurden und zugleich der schwärzeste Pessimismus gedieh. Wer nicht bis zum 28. Juli in den Potsdamer Kutschstall kommen kann, kauft die beiden Bände im Berliner Lukas Verlag. J.L. in »DIE ZEIT« vom 27. Juni 2002

Ahrensfelde hat nur den Jugendbuchautor Franz Lichtenberger (1881 bis 1942) zu bieten. Altdöbern bringt es auf drei Eintragungen mit dem dichtenden Lehrer Dietrich Koenemann (1824 geboren, Todesjahr unbekannt), mit dem Verfasser astrologischer Kalender, Albin Moller (1541 bis 1618), und der Schriftstellerin Erika Siebrands, die 1954 den Roman »Ein Mann namens Schmidt« und 1978 die Gedichte »Kirschblütenschnee« veröffentlichte. Man muß diese Namen nicht kennen, kann sie aber nachschlagen. Für Perleberg gibt es schon zwölf Einträge; unter anderen wurde Hubert Fichte hier geboren. Insgesamt bietet das historische Schriftstellerlexikon mehr als zweitausend Autorennamen, die mit 690 Orten in Brandenburg verbunden sind. Zusammen mit einer Anthologie und einer Hörbuch-CD ist der Band zur Potsdamer Ausstellung »750 Jahre Literatur in Brandenburg« (F.A.Z. vom 12. Juni.) erschienen.
Der Literaturbegriff, der dieser opulenten Sammlung zugrunde liegt, ist so breit gefaßt wie möglich: Verfasser von Gelegenheits- und Gelehrtendichtung, rhetorischen Lehrhilfen und Enzyklopädien finden Eingang. Streng genommen hätte der Herausgeber Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro sich auch gleich selbst eintragen können. Bescheiden ließ er jedoch Walther von der Vogelweide den Vortritt, der die Ortschaft Doberlug-Kirchhain im Elbe-Elster-Kreis in seinem Lied »Winterqualen« als »Toberlu« erwähnte. Auch an solchen Hinweisen fehlt es nicht; in Brandenburg, mit Aufmerksamkeit nicht gerade verwöhnt, ist jede Erwähnung berichtsrelevant.
Auch geographisch ist die Sache nicht einfach. In 750 Jahren haben sich die Grenzen des Landes mehrfach verschoben. Das Lexikon basiert auf der größtmöglichen Ausdehnung und umfaßt auch Regionen, die heute nicht mehr zu Brandenburg gehören: die Landkreise Stendal und Salzwedel im Westen, die Gebiete jenseits der Oder mit Crossen, Sorau, Soldin oder Landsberg an der Warthe im Osten. Seltsam, daß der Hinweis auf Christa Wolf fehlt, die in Landsberg geboren wurde. Auch für Kleinmachnow, wo sie in den sechziger und siebziger Jahren wohnte, verschweigt das Lexikon ihre Anwesenheit, obwohl sich in ihrer Literatur genügend Hinweise zu diesen Orten finden lassen. Ordnungsgemäß verzeichnet sind dagegen die Kleinmachnower Wolf-Freunde Walter Janka und Maxie Wander oder Anna und Friedrich Schlotterbeck aus Groß-Glienicke.
Mühsam wird die Lektüre dann, wenn man sich auf die Spuren bewegungsfroher Naturen begibt. Fontanes Anwesenheit wird für fünfzehn Ortschaften nachgewiesen – und das ist nur eine kleine Auswahl. Bei Heinrich von Kleist muß man an acht verschiedenen Stellen nachsehen, beginnend mit dem Geburtsort Frankfurt an der Oder. Im Fürstenzimmer des Jüterboger Rathauses ereignete sich die historisch verbürgte Beschlagnahmung zweier Pferde, die Kleist seiner Novelle »Michael Kohlhaas« zugrunde legte. In Kolkwitz besuchte er seine Schwester auf dem Gut des Schwagers von Panwitz, um mit ihr nach Wormlage zu reisen. Unter dem Stichwort Wormlage (Oberspreewald-Lausitz) ist dann zu erfahren, daß Kleist sich hier im Oktober 1807 auf dem Landgut der Familie von Schönfeldt aufgehalten habe. In Neustadt an der Dosse soll ihm während eines Spaziergangs am Flüßchen Schwenze die Idee zum »Prinzen von Homburg« gekommen sein. In Potsdam wohnte er in der Nauener Straße 5 und bezog am 1. Juni 1792 Quartier bei Frau von Linckersdorf.
Sonst noch Fragen? Nicht nur für Kleist, sondern grundsätzlich fehlt Berlin als Bezugspunkt und Aufenthaltsort so vieler märkischer Dichter. Das hat Methode und Notwendigkeit. Das Nachschlagewerk hätte alle Maßstäbe gesprengt, wenn Berlin noch über das sechzehnte Jahrhundert hinaus als Teil Brandenburgs begriffen worden wäre. Doch auch inhaltlich ist brandenburgisches Geschriebenes etwas anderes als Berliner Literatur, ja sie ist ihr mit ihrer Bevorzugung der Natur, der Ruhe, des bewußten Rückzugs aus der Metropole direkt entgegengesetzt. Davon gibt das Lesebuch einen Eindruck, der von Widukind und der Eroberung Brandenburgs an der Havel im Jahr 928 bis zum Lyriker Lutz Seiler reicht, der, wie vor ihm Erich Arendt und Peter Huchel, in Wilhelmshorst zu Hause ist. Er ist mit dem Gedicht »grossraum berlin, ein« vertreten, einem Genrebild ländlichen Lebens am Stadtrand, das so beginnt: »letzte-kolonien-geruch & schwerer / einsatz an den lauben: manche / hängten schütten glocken, an / den taschen hart & gross gestossne spät- / heimkehrer mäntel, wir / hatten noch Stanniol, mal Stores in / den kirschen, flaschen, wo man hintrat, auf / die kurzen, braunen Hälse.« Jörg Magenau in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (Berliner Seiten) vom 19. Juni 2002

Anm. des Verlags: Das Fehlen u.a. von Christa Wolf erklärt sich aus der Entscheidung des Autors, grundsätzlich nur bereits verstorbene Personen aufzunehmen.

»Wiese, Wasser, Sand / Das ist des Märkers Land / und die grüne Heide, / das ist seine Freude«. Nicht von Gustav Büchsenschütz, der die brandenburgische »Nationalhymne« (»Märkische Heide, märkischer Sand«) schrieb, stammt dieser Vierzeiler, sondern von einem unbekannten Autor. »Alter Märkischer Spruch« ist er betitelt. Nachzulesen in »Musen und Grazien in der Mark«, in der es auch einen Heilreim aus Forst wie »Heile, heile, heile! / Die Katze hat vier Beine, / der Hund hat einen langen Schwanz, / morgen ist es wieder ganz« zu lesen gibt. Aber die Musen und Grazien haben Brandenburg glücklicher Weise zu ganz anderen literarischen Erzeugnissen inspiriert, teilweise zu sehr beglückenden. Im Lukas Verlag Berlin erscheint dieser Tage ein zweibändiges Werk über 750 Jahre Literatur in Brandenburg. »Musen und Grazien in der Mark« nennen es die beiden Herausgeber Jürgen Israel und Peter Walther. Des Dichters Schmidt von Werneuchen Almanach »Kalender der Musen und Grazien« (von Goethe kräftig parodiert) stand Pate bei der Namensgebung der Bücher und der Ausstellung.
Die Exposition wird am kommenden Dienstag im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (Kutschstall am Neuen Markt) eröffnet. Die Potsdamer Schriftstellerin Helga Schütz wird ihr Manuskript »Liebesbriefe und Edikte« lesen. Die Ausstellung, die vom Brandenburgischen Literaturbüro in Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg veranstaltet wird, zeigt auf Text- und Bildtafeln einen Überblick über die reiche Literaturlandschaft der Region. Ausgewählte Erstausgaben und seltene bibliophile Kostbarkeiten sind ebenfalls zu sehen. Lesungen am 23. Juni und am 14. Juli (11 Uhr) im Kutschstall mit Werken von Heinrich Alexander Stoll und Jochen Klepper sowie am 29. Juni (19 Uhr) mit Bruno Ganz (»Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik« von Heinrich von Kleist) im Theaterhaus Am Alten Markt gehören zum Veranstaltungsprogramm.
Eine mehrjährige wissenschaftliche Arbeit, die von Ausgrabungen einiger kostbarer und skurriler Texte begleitet wurde, liegt der Ausstellung und den beiden Büchern zugrunde. Ein Lesebuch sowie ein Lexikon sind das bleibende Resultat. Haben Jürgen Israel und Peter Walther das Lesebuch gemeinsam herausgegeben, so ist Peter Walther für das historische Schriftstellerlexikon (lebende Autoren fanden darin keinen Platz) allein verantwortlich gewesen. Hierbei haben ihm aber eine ganze Reihe von kenntnisreichen Persönlichkeiten beraten und unterstützt, besonders Regionalhistoriker, die sich beispielsweise in der Niederlausitz oder in der Uckermark bestens auskennen. Im Vorwort gibt der Herausgeber die topographische Grundlage für die Erfassung der Orte bekannt: »Das Land Brandenburg in seiner heutigen Ausdehnung, die preußische Provinz Brandenburg 1815–1945, das Gebiet der Altmark bis zu seiner Ablösung von Brandenburg-Preußen 1806 sowie Berlin (inklusive der 1920 eingemeindeten Gebiete) bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts«. 2800 Einträge zu 2059 Schriftstellern, die mit Städten und Dörfern in der Mark Brandenburg in Beziehung standen, sind im Lexikon aufgenommen. Die Orte sind alphabetisch geordnet. So findet man unter Ahrensfelde im Kreis Barnim den ersten Namen: Franz Lichtenberger (31.8.1881–7.11.1942). Er war Jugendschriftsteller, schrieb Bücher über das Leben der Pflanzen und Bäume, über Graf Zeppelin. Die letzte Eintragung gilt David Trommer (1663–?), der in Züllsdorf (Kreis Elbe Elster) lebte. Der Pfarrer verfaßte ein Geistliches Singspiel über ein alttestamentliches Thema, über die Verehelichung Isaaks und Rebekkas. Zwischen diesen beiden Namen findet man Autoren, über die man heute ebenfalls kaum etwas weiß geschweige sich in ihren literarischen Ergüssen auskennt. Bei den meisten Schriftstellern sind die biografischen Notizen recht kurz. Das deutet daraufhin, daß das Wissen über sie oftmals im Dunkeln blieb. Aber spannend ist es allemal, im Lexikon zu blättern, in Bezug für die Regional- und Literaturgeschichte.
Schaut man beispielsweise unter dem Ortsnamen Potsdam nach, so findet man weit mehr als 500 Eintragungen. Fast jeder Schriftsteller, dessen Besuch – und war er noch so kurz – fand Aufnahme. So Johannes R. Becher, der 1927 und 1928 in einer Pension im Park Babelsberg wohnte, oder Casanova, der im Sommer 1764 sich am Hofe Friedrichs des Großen aufhielt. Fontanes Besuche in Potsdam werden jedoch nicht erwähnt. Dafür gibt es einen Hinweis, daß sich eine Büste des Dichters auf dem Bassinplatz befindet und es ein Theodor-Fontane-Archiv in der Landeshauptstadt gibt. Es wäre natürlich unzureichend, wenn damit die Informationen über Fontane erschöpft wären. So erfährt man unter Neuruppin, seinem Geburtsort, mehr über den wichtigsten Schriftsteller der Mark Brandenburg.
Natürlich hat Fontane im Lesebuch einen Ehrenplatz erhalten, so mit seinem wohl berühmtesten und sogar volkstümlichen Gedicht »Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«. Als er dies 1889 schrieb, da gab es bereits schon 637 Jahre brandenburgische Literaturgeschichte. Die Geburt der Dichtung kann man in der Mark im 13. Jahrhundert ansiedeln. Markgraf Otto IV. (man nannte ihn auch Otto mit dem Pfeile) schrieb ein wunderbares Winterlied, in dem sich Melancholie und Hoffnungsvolles vereinen.
In der Mark Brandenburg findet man keine klassische Epoche wie etwa im Thüringischen, aber Paul Gerhardt, Gotthold Ephraim Lessing, Ewald Christian und Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann, Reinhold Schneider, Gertrud Kolmar, Günter Eich, Peter Huchel, Ehm Welk, Franz Fühmann, Bertolt Brecht, Erwin Strittmatter oder auch Lutz Seiler sind klingende Namen und stehen für spannungsvolle Überlieferungen von dichterischer Kunst. Von ihnen und von einer Reihe anderer Schriftstellern sind Kostproben schriftstellerischen Tuns im Lesebuch aufgenommen.
Doch nicht alle Autoren, die in den sechs Abteilungen»« aufgenommen wurden – sie haben mehr chronologischen Charakter – können auf literarische Qualität pochen. Manche, so wird ganz deutlich, haben hierbei nur den zeitgeschichtlichen Anspruch zu erfüllen. Zum Beispiel der Bericht des Mönchs Widukind aus dem Jahre 928 über die Eroberung von Brandenburg an der Havel oder der Potsdamer SPD-Politiker Hermann Maaß mit seinem bewegenden Brief, den er acht Tage am 12. August 1944 vor seiner Hinrichtung an seine Frau schrieb.
Für alle, die sich mit der Literatur und mit der Geschichte des Landes Brandenburg beschäftigen, sind beide Bücher wichtige Kompendien.
Klaus Büstrin in den »Potsdamer Neuesten Nachrichten« vom 24.05.2002

Wo nur Sand ist, können Poeten auch nur Sand reimen. Sein Urteil begründete der Fürst aller deutschen Dichter 1796 mit ein paar Spott-Strophen: »Sagt mir nichts von gutem Boden, / Nichts vom Magdeburger Land! / Unsre Samen, unsre Toten / Ruhen in dem leichten Sand. / Selbst die Wissenschaft verlieret / Nichts an ihren! raschen Lauf, / Denn bei uns, was vegetieret, / Alles keimt getrocknet auf.« Die Verskunst des braven Pastors Schmidt aus Werneuchen war es, die Goethe zu dieser parodistischen Abreibung anregte. Brandenburg hielt der Olympier für eindeutig literaturuntauglich, und der Titel seiner Schmähung sollte von den Zeitgenossen getrost für blanke Boshaftigkeit genommen werden.
»Musen und Grazien in der Mark«? Lachhaft. Dort roch es höchstens nach Sauerbier und Mist – »o wie freut es mich, mein Liebchen, / Daß du so natürlich bist ...« Andererseits: Ohne Goethes Gemeinheit wäre der Nachwelt der naivste Lobpreis märkischer Landschaft gewiß verloren gegangen. Insofern tritt also der Literaturwissenschaftler Peter Walther nun gleichermaßen mit dem Weimarer und gegen ihn an, wenn er seine Potsdamer Ausstellung »Musen und Grazien in der Mark« nennt und in ihr zeigt, daß es wirklich keine brandenburgische Literaturgeschichte gab und gibt, trotzdem aber gewichtige Literaturgeschichte in Brandenburg geschrieben wurde und wird.
Einen gerafften Überblick über 750 Jahre verspricht die Exposition, die kommenden Dienstag im Kutschstall Am Neuen Markt eröffnet wird. Mehr nicht. Aber das ist schon viel, weil dies so noch nie gewagt wurde. Obwohl bekannt war, daß Mark und Muse immer irgendwie miteinander konnten und im hohen Chor der Weltliteratur nicht bloß Ententeichprosa und Grasmückengesänge vorzutragen hatten. Namen wie Arnim, Fontäne, Kleist, Hauptmann und Huchel standen dafür ein, und auch Voltaire, Tucholsky oder Brecht haben hier mitnichten nur belletristische Gänseblümchen vom kargen Boden gepflückt. Wer jedoch nach der zweiten und dritten Reihe im heimischen Club der toten Dichter fragte, der erfuhr bisher bestenfalls Fragmentarisches. Walthers Versuch einer möglichst kompletten »Bestandsaufnahme dessen, was welche Orte mit welcher Literatur verband und welche Texte dort jeweils produziert wurden«, dieser Versuch ist neu.
»Die Idee wurde während der Fontäne-Feier 1998 geboren«, erzählt der 37jährige. »Wir«, das sind das in Potsdam ansässige, aber – wie das Firmenschild verrät – brandenburgweit agierende Brandenburgische Literaturbüro und dessen Filiale, die durch Walther selbst vertretene Geschäftsstelle »Märkische Dichterlandschaft«. Fontane – und das soll’s gewesen sein? Walthers Recherchen für einen von ihm noch im Jubiläumsjahr vorgelegten literarischen Heimatführer hatten anderes zutage gefördert. »Im Lexikon-Kapitel des Buches waren bereits 200 Stätten aufgelistet und 450 Autoren, die mit diesen in Beziehung standen. Wenn man so will, war das eine Art Zwischenbericht.« Und, wie sich jetzt herausstellt, Material, auf dem sich bestens »aufbauen« ließ.
Mit Literaturausstellungen hat es stets eine eigene, eher schwierige Bewandtnis, denn gewöhnlich sind sie aufgehängte Kataloge. Leselust setzt freilich auch der von Walther von vornherein für den mobilen Weiterverleih projektierte und 100 laufende Meter lange Schautafelfries voraus. Aber Besucher von Literaturausstellungen dürften wohl ohnehin Leser sein. Hier erwartet sie nun eine von dem um 1300 minnesingenden Markgrafen Otto mit dem Pfeile über den romantisch für »Undine« schwärmenden Baron Fouque bis hin zu dem Kahlschlaglyriker Günther Eich reichende Chronik, einschließlich Abbildungen, Textbeispielen und Kurzkommentaren. »Dieser Längsschnitt wird aber um Querschnitt-Themen erweitert«, beruhigt Walther etwaige Zeitschienen-Allergiker. Unter der Überschrift »Literarische Zentren« ist dann das Nötige über den über den Scholaren Ulrich von Hutten in Frankfurt (Oder) zu erfahren oder über den Kirchenlied-Verfertiger Paul Gerhardt in Lübben. Deutlich gemacht wird allerdings auch, daß ohne Berlin in Brandenburg keine Zeile von Bedeutung zu Papier gebracht worden wäre. Die Begegnung mit den Stars Kleist und Fontäne ist dann übrigens der Abteilung »Mythos Heimat« vorbehalten.
»Das Ganze war nie als Ausstellung für Philologen konzipiert«, bekennt Walther klipp und klar. Den Sponsoren des Unternehmens, Kulturministerium und Mittelbrandenburgische Sparkasse kamen hauptsächlich für das 30000-Euro-Budget auf, war an einem auf Breitenwirkung zielenden »volkspädagogischen Ansatz« gelegen. Dennoch kann das Gesehene vertiefen, wer vertiefen möchte. Extra zur Ausstellung hat Walther nämlich ein nunmehr 600 Stätten und 2000 Autoren verzeichnendes Lexikon ediert und außerdem noch ein formidables »Lesebuch«. Die Beiträge aus letzterem hat Christian Brückner überdies auf CD gesprochen, die ebenfalls zu erwerben ist, aber vorher auch an den sechs Hörstationen in der Ausstellung getestet werden kann.
Originales? Die Handschrift eines um 1400 verfaßten Osterspiels kann Walther präsentieren, Korrespondenzen von Kleist, Hauptmann oder Celan, ferner die Notizbücher, die Fontane während seiner »Wanderungen« benutzte. Ach ja, und Goethe ist auch dabei, mit einem – logisch – Absagebrief an den in der Niederlausitz lebenden Dramatiker Ernst von Houwald.
Frank Kallensee in der »Märkischen Allgemeinen« vom 24.05.2002

Das historische Schriftstellerlexikon »Musen und Grazien in der Mark« und das gleichnamige Lesebuch gehören zu jenen Büchern, die im Sinne Lessings »weniger erhoben« als »fleißiger gelesen« werden sollten. Denn beide Bände liefern vieles, was zum besseren Verständnis von Brandenburgs Kultur der letzten sieben Jahrhunderte jenseits periodisch aufsteigenden Preußenkults beitragen kann: nämlich wichtige Texte verschiedener Epochen und Genres sowie knappe Fakten zu mehr als 2000 Autorinnen. Der Berliner Lukas Verlag stattete beide Werke, die bereits 2002 als Katalogbücher zur Ausstellung »750 Jahre Literatur in Brandenburg« erschienen, solide aus. Seitdem sind sie nicht nur beim Potsdamer Publikum gefragt.
Der Buchtitel geht auf die Gedichtsammlung ›Kalender der Musen und Grazien‹ (Leipzig, 1796) des viel gescholtenen märkischen Pfarrers Friedrich Wilhelm August Schmidt zurück. Goethe, Tieck und Schlegel verspotteten ihn. Wieland, Jakob Grimm und Fontane hingegen liebten seine derb-humoristischen Reime. Unter der Ägide dieses märkischen Originals – Fontane spricht spitz vom »märkische[n] Poet[en] par excellence« – ist eine Auswahl literarischer und historischer Texte Brandenburgs besorgt worden. Sie gibt der mehr oder minder unterschätzten märkischen Literatur erkennbare Konturen.
In den hier zusammengetragenen Werkauszügen bedeutender AutorInnen, genannt seien Bettina und Achim von Arnim, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Peter Huchel, Paul Gerhardt, Theodor Fontane, Hermann Kasack und Heinrich von Kleist, spiegeln sich auf unverwechselbare Weise Landschaften, Liebesgeschichten, Schicksale, Bauwerke, Ereignisse und Figuren wider, die dem historischen und heutigen Brandenburg entstammen. Chronologisch werden Sagen, Gelegenheitsgedichte, Romanauszüge, Briefe, Tagebuchnotizen, Testamente, Erinnerungen, Essays und Kurzgeschichten präsentiert. AutorInnen-Abbildungen sind den Texten beigefügt. Die Herausgeberkommentare fallen erfreulicherweise zurückhaltend aus. Leserinnen können berührende Gedichte von Gertrud Kolmar und Inge Müller entdecken. Brecht und Benn bieten Heiter-Hintersinniges. Wolf Jobst Siedler, Günter de Bruyn und Lutz Rathenow überraschen mit einer angenehmen Frische in ihren Texten. Bei einer Nachauflage des Lesebuchs wären Werke weiterer namhafter Autorinnen wünschenswert: Moses Mendelssohn, Gleim, Fritz Reuter, Rudolf Pannwitz und Georg Heym. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Das »historische Schriftstellerlexikon« zu Brandenburgs 750jähriger Entwicklung will keine Literaturgeschichte sein. P. Walther bemüht daher weder eine Theorie noch ein Modell. Das Lexikon nicht mehr lebender Autoren stellt auf 349 Seiten sehr knappe literarhistorische Sachangaben zusammen. In 2800 Einträgen werden 2059 Schriftsteller vorgestellt. Brandenburgs Orte bilden das alphabetische Ordnungsmuster. Die Autorenartikel liefern bis auf einige Ausnahmen bündige biographische und bibliographische Angaben. Der Informationswert der Artikel wird bestimmt durch Hinweise zur Gattung und Entstehung wichtiger Werke sowie durch Verweise auf aktuelle Sekundärliteratur. Leider werden Erst- und Teildrucke nicht unterschieden. Uraufführungen und Inszenierungen bleiben egalisiert. Das sind aber nur Feinheiten. Auffällig ist jedoch ein gewisses Ungleichgewicht bei der Darstellung werkgeschichtlicher und biographischer Angaben. Da wird beispielsweise im Artikel zum Erzähler und Reiseschriftsteller Eduard Boas (1815-1853) achtzeilig über seine Werke berichtet, während einzeilig Biographisches erwähnt wird; übrigens ohne Angabe politischer Ambitionen. Dem gegenüber beschreibt der Artikel zu dem Schriftsteller Herbert Scurla [1905-1981, Humboldt-Biograph] achtzeilig dessen Werke und zählt siebenzeilig die Details seiner Beamtenlaufbahn im nationalsozialistischen Regierungsapparat auf. Die unterschiedliche Gewichtung sagt freilich nichts über die literarische Güte der Autoren aus. Und doch wird hiermit ein unterschiedlicher Maßstab bei werk- und lebensgeschichtlichen Darstellungen angelegt. Ob es allerdings den 200jährigen »Musen und Grazien« des märkischen Poetenpfarrers gefallen hätte, hier und da etwas unausgewogen präsentiert zu werden, überlasse ich allen, die Brandenburgs wirklich reiche Literatur erkunden möchten und deshalb auf die Lektüre dieser beiden Büchern nicht verzichten sollten.
Burkhard Stenzel, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte, Bd. 15 (2009).