Ulrike Gentz

Der Hallenumgangschor in der mitteleuropäischen Backsteinarchitektur
(= Studien zur Backsteinarchitektur, Band 6)

Der Hallenumgangschor, ein wohl unerschöpfliches Thema: Von den nur über neunhundert Umgangschoranlagen in Europa, entstanden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein, seien sie basilikal oder hallenmäßig ausgebildet, hat sich Ulrike Gentz den mitteleuropäischen Hallenumgangschören angenommen; ein überschaubarer Bereich. Zu diesem Raum zählt die Mark Brandenburg, die mit zahlreichen Umgangschören vertreten ist. Für den interessierten Leser ist es aufschlußreich, die Zusammenhänge zu anderen Regionen Mitteleuropas zu erfahren, wie zu Niederschlesien, Böhmen und Altbayern. In die Betrachtung aufgenommen werden die unechten oder reduzierten Umgangschöre in der Lausitz und in Niederschlesien. Die Vorbilder für die steilen Räume der lausitzischen Anlagen in Luckau und Beeskow wurden bislang in Altbayern gesucht. Aufgrund ihrer späteren Entstehung scheiden sie allerdings aus. Die Autorin wendet den Blick in Richtung Niederschlesien, wo sie frühere steile Raumschöpfungen, wie in der Breslauer Sandkirche ausgebildet, findet.
Was der eine unter reduziertem Umgangschor abhandelt, ordnet der andere unter Chorschlußvereinfachung ein. Beide Begriffe scheinen unglücklich gewählt. Den hier gemeinten Typus sollte man als einen eigenständigen bewerten und nicht als Unterform. In einem anderen Bereich lief eine ähnliche und daher vergleichbare Diskussion. Das Schema von Braine wurde in der Vergangenheit kontrovers diskutiert. Die einen klassifizierten es als einen reduzierten Umgangschor, die anderen stritten dies ab und verwiesen auf die Staffelchöre. Wenn wir dem als reduzierten Umgangschor bezeichneten Bauwerk eine eigene Bezeichnung geben, werden wir diesem Typus gerechter werden, als wenn wir ihn nur als nachrangiges Produkt betrachten, weil sich die kleinen Städte einen Umgangschor nicht hätten leisten können und der Kostendruck dazu führte, über Einsparungen nachzudenken. Maßgebend für die Zuordnung einer mehrschiffigen Choranlage zum Typus des Umgangschores kann nur der Umstand sein, daß Freipfeiler den Chorraum umgrenzen. Nur in solchen Fällen sollte man von reduzierten Umgangschören sprechen, wenn Planänderungen Ursache derartiger Vereinfachungen sind oder derartige Vorgänge vermutet werden, wie in Augsburg, Osterburg/Altmark oder in Pershore. Die dreischiffigen Hallenchöre mit einem nur knapp zusammengerückten östlichen Freipfeilerpaar, wie in Sprottau, Wittichenau, Straubing und München, möchten wir noch nicht dem reduzierten Hallenumgangschor zuordnen. Möglicherweise ließen sich Auflösungstendenzen nachweisen, hier gedacht am Ende einer Entwicklungslinie stehend. Die Autorin tritt für einen Formen- und Wissensaustausch von Nord nach Süd ein, dem zunächst ein Erfahrungsaustausch von Süd nach Nord vorausging. Der Norden griff in der Mitte des 14. Jahrhunderts die neuen Entwicklungen aus dem Süden auf, um dann gegen Ende des Jahrhunderts bzw. im darauffolgenden dem Süden seine Entwicklungen zur Verfugung zu stellen. So hält sie es für möglich, daß in St. Martin in Amberg Brunsbergsche Stilelemente, wie die Emporengänge in Stargard/Pommern und Königsberg/Neumark, Eingang gefunden haben. Auch die ungleiche Brechungszahl von Binnenchorschluß und der den Umgang umfassenden Außenwand wird im Süden übernommen. Was Hinrich Brunsberg und seine Architektur im norddeutschen Backsteingebiet ist, ist Hans von Burghausen mit seinen Bauten in Altbayern. Er kann Formen von Hinrich Brunsberg aufgegriffen und umgesetzt haben. Beide Baukünstler erfahren die ihnen gebührende Beachtung. Die als reduzierte Umgangschöre bezeichneten Anlagen scheinen nicht von Hans von Burghausen aus Norddeutschland nach Altbayern eingeführt worden zu sein, da die lausitzischen Anlagen nicht den Standard der großen Architektur aufwiesen. Die Vorbilder werden in Niederschlesien ausfindig gemacht.
In der Arbeit werden auch andere in Frage kommende Möglichkeiten der Verbindungen und Kontakte erwähnt. Die neuesten Forschungsergebnisse finden Berücksichtigung. Die frühen Hallenumgangschöre in Spandau und Frankfurt/Oder erfahren eine ausführliche Darstellung. Historische Hintergrunddarstellungen zum architektonischen Schaffen auf den Gebieten der Mark Brandenburg und der Lausitz sowie in Niederschlesien und in Altbayern sind den kunstgeschichtlichen Erörterungen jeweils vorangesetzt.
Der alleinigen
Wanderung von Formen, von Süd nach Nord, erteilt die Autorin eine Absage. Sie schält eine rege Wechselbeziehung heraus. Man übernahm aus anderen Kunstlandschaften, was man gebrauchen konnte und gab seinerseits entwickelte Formen ab. Ein reges Geben und Nehmen.
Fritz Wochnik in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 54 (2003), S. 244–255

Von Kaiser Karl IV. heißt es, daß er Zeit seines Lebens um sich herum Baulärm auszulösen wußte, ohne dabei notwendig selbst an all diesen Bauten direkt beteiligt gewesen zu sein. Auffällig ist dies bei so prominenten Bauwerken wie der Aachener Chorhalle oder deren typenbildender Rezeption im Hallenumgangschor von St. Sebald in Nürnberg. Um 1355 begonnen oder geplant, dem Jahr der Kaiserkrönung Karls IV., zählen beide zu den herausragenden Vertretern der »karolinischen Reichsarchitektur« (Bachmann), ohne daß eine direkte Beteiligung des Kaisers dort belegt wäre. Vor allem dieser »neue« Bautypus des Hallenumgangschors machte in der Folge Karriere, so in der Mark Brandenburg mit dem Übergang der Landesherrschaft von den Wittelsbachern an die Luxemburger, an Karl IV. Als Initialbauten einer in der Folge nahezu flächendeckenden Verbreitung von Hallenumgangschören in der Mark Brandenburg gelten die Marienkirche in Frankfurt an der Oder und die Nikolaikirche in Berlin: Baulärm also auch in der Mark Brandenburg.
Die Ergebnisse einer dendrochronologischen Untersuchung rückten nun ein vermeintlich baukünstlerisches Leichtgewicht in die vorderste Reihe: St. Nikolai in Berlin-Spandau. Auf Altarstiftungen von 1424 und 1432 gründete die Annahme eines Baubeginns im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Mit der dendrochronologischen Datierung des Dachwerks auf 1368/69, zu diesem Zeitpunkt muß die Kirche also zumindest im Rohbau gestanden haben, gehört die Nikolaikirche in Berlin-Spandau zu den frühesten Hallenumgangschören in der Mark Brandenburg. Vielleicht ist es auch »der« früheste – dies vermutet Ulrike Gentz in ihrer Greifswalder Dissertation aus dem Jahre 2001 über den Hallenumgangschor in der Backsteinarchitektur Mitteleuropas. Die Arbeit erscheint als sechster Band der »Studien zur Backsteinarchitektur«, einer von Ernst Badstübner und Dirk Schumann bestens betreuten Reihe, die erste Adresse zum Thema Backsteinarchitektur.
Mitteleuropa meint hier: die Mark Brandenburg, die Lausitz, Niederschlesien und Altbayern. Sehr weit gefaßt ist dagegen der Terminus »Hallenumgangschor«, der auch die Dreiapsidenchöre der Marienkirchen in Prenzlau und Herzberg einschließt, denn diese erlauben »durch ihre im Chorbereich geöffneten Seitenapsiden die Assoziation der Öffnung eines Binnenchores in einem Umgang«. Gentz spricht von »Hallenkirchen mit reduzierten Chorumgang«. Sie tut das auch dann, wenn wie in der Jakobskirche in Straubing ein Hallenumgangschor voll ausgebildet ist, aber keinen aus einem regelmäßigen Polygon gebildeten inneren Stützenkranz aufweist. Tatsächlich, so Gentz, besetzten in diesem unregelmäßigen dreiseitigem Schluß »die zwei östlichen Rundpfeiler grundrißgeometrisch eine Gerade, die konisch von den axial angeordneten, westlichen Freistützen auf die Choraußenwand zuführt«; gegen diese Auffassung spricht freilich der Verlauf der Scheidarkatur. Mit diesen Beispielen sollten die Schwierigkeiten einer begrifflichen Abgrenzung deutlich geworden sein, deren weite Auslegung aber konstitutiv ist für das erklärte Ziel dieser Arbeit, »unter Berücksichtigung der gegebenen historischen, ökonomischen und bauarchäologischen Voraussetzungen, einen umfassenden kunstgeographischen Überblick über die wahrscheinlichen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge der diversen mitteleuropäischen Backsteinlandschaften zu verschaffen«. Das ist der Verfasserin mit dieser historisch fundierten und erstmals auch die sonst nur am Rande erwähnten Bauten vor allem Niederschlesiens und der Lausitz umfassenden Arbeit auch glänzend gelungen, gerade weil sie den Blick (wieder) öffnet auf einstmals im Mittelalter kulturell eng verknüpfte Kunstregionen, deren Verbindungen durch die Geschichte der Neuzeit aber aus dem Blickfeld geraten sind.
Zu ihrer Vorgehensweise erläutert Gentz: »Die methodischen Grundlagen dieses primär auf vergleichende kunstlandschaftliche Architekturverbindungen konzentrierten Beitrages bilden jedoch weniger die bauhistorischen und funktionsbedingten Studien einzelner Kirchenbauten, [...] sondern vor allem die bauanalytischen Untersuchungen der jeweiligen Grund- und Aufrißgeometrien.« Damit stellt sie nach all den ikonographielastigen und den Gerstenberg'schen Einheitsraumgedanken nachspürenden Arbeiten wieder eine Besonderheit dieser Bauten in den Vordergrund: ich meine die nicht radiale Disposition der Chöre, die Divergenz zwischen innerem und äußerem Polygon, Gentz spricht von »ungleichzahligen Chorschlüssen«, deren Einwölbung ja erst die jochübergreifenden Gewölbelösungen, ausgehend von den so genannten Zweiparallelrippengewölben des Prager Domchores, ermöglichten.
Ganz anders noch im ersten Hallenumgangschor in Verden an der Aller (1273–1313) mit seiner radialen Ausstrahlung eines inneren 5/10 Chorschlusses mit Halbjoch auf die ebenfalls über fünf Seiten eines regelmäßigen Zehnecks gebrochene Außenwand in der Nachfolge der klassischen Kathedralen Frankreichs, insbesondere der Kathedrale von Reims, also eines basilikalen Vorbilds. Eine Nachfolge der Verdener Lösung findet sich einzig im Hallenumgangschor von St. Marien in Stendal zu Beginn des 15. Jahrhunderts, also erst hundert Jahre später. Verden an der Aller steht damit zwar am Anfang aller Hallenumgangschöre in Deutschland, läßt sich aber kaum als »gestalterischer Ausgangspunkt« ansehen, dem dann »zwei aufeinanderfolgende rezessive Phasen« folgten. Es führt kein Weg von Verden nach St. Sebald in Nürnberg und zu den Hallenumgangschören mit divergierenden Polygonen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; vielmehr setzte mit St. Sebald etwas neues ein, das in der Folge unabhängig von französischen Vorbildern zum führenden Bautypus in der städtischen Backsteinarchitektur avancierte, in der Mark Brandenburg, in der Lausitz, in Niederschlesien und in Altbayern. Diese Wege nachgezeichnet zu haben, ist das große Verdienst dieser Greifswalder Dissertation.
Leonhard Helten in »sehepunkte«