Richard Klein
My Name It Is Nothin´
Bob Dylan: Nicht Pop Nicht Kunst

Wenn Philosophen, die sich bislang mit Studien zu Adorno, Heidegger und Wagner hervorgetan haben, plötzlich über Popmusik publizieren, müssen sie mit manchem rechnen. Ein höfliches Stirnrunzeln der Insider, ob Fan, Kritiker oder Popmusikologe, gehört fraglos dazu, steht die philosophische Bemühung um das Populäre doch nicht unbegründet unter dem Verdacht, entweder elegant über letztlich nicht ernst Genommenes zu sprechen oder aber auf die Einholung ihres Gegenstands in den Bereich des Komplexen, Hintergründigen und Kunsthaften – und damit am Populären selbst vorbei – zu zielen. Zu den zahlreichen Büchern, die anlässlich des 65. Geburtstags von Bob Dylan auf den Markt kamen, gehört auch die knapp 400 Seiten umfassende Monographie von Richard Klein, die in der beachtlichen Fülle biographisch-anekdotischer Dylan-Literatur durch ihren dezidiert akademischen Ansatz und Anspruch auffällt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Publikationen orientiert sie sich nur am Rande an lebensgeschichtlichen Umständen und schreitet die einschlägigen Stationen der Dylanschen Karriere stattdessen konsequent am »Werk« ab. Zu ihm rechnet Klein nicht nur die offiziellen Alben und Bootleg-Series-Veröffentlichungen, sondern auch verschiedenste, teils private Konzertmitschnitte – eine Entscheidung, die dem Charakter des Dylanschen Oeuvres zwischen den Polen phonographischer Objektivierung und Praktiken der Live-(Re-)Aktualisierung entspricht. All diese Musik wird im Hauptteil des Buchs chronologisch kommentiert und interpretiert – interessant hier vor allem die von Klein gegen die vorherrschende Meinung als künstlerischer Höhepunkt gefeierte Gospelphase ab 1979 – sowie am Schluss mit einer ausführlichen ästhetisch-theoretischen Einordnung unterzogen. Ein umfangreiches Namensregister macht das Ganze auch für die Suche nach einzelnen Detailzusammenhängen gut handhabbar. Klein pflegt eine vergleichsweise schwierige, wenngleich gewandte und bilderreiche Sprache mit eher erfindungsreicher als fachwissenschaftlicher Terminologie, die ihren Gegenstand zugleich derart in abstrakte philosophische Horizonte einspannt, dass sie den meisten Dylan-Anhängern den Schweiß auf die Stirne treiben oder sie dazu verleiten dürfte, das Buch entnervt aus der Hand zu legen; eine Sprache schließlich, die auch weit vom saloppen Tonfall vieler wissenschaftlicher Popmusik-Publikationen entfernt ist. Klein erklärt Bob Dylan, den vorgeblichen Helden des gesellschaftspolitischen Aufbruchs der 1960er Jahre und späteren »Rock-Solitär«, ausdrücklich zur Ausnahme in der Popszene; er muss dies tun, um seine Exkursionen zur Musik, den Songtexten und, dies vor allem, zur Stimme Bob Dylans auf entsprechendem Niveau leisten zu können – dieser merkwürdigen, mal kojotenhaft bellenden, dann wieder entrückt oder passioniert leuchtenden Stimme, die zugleich eine unverwechselbare, biographisch gezeichnete Signatur und eine vielgestaltige Sammlung stimmlicher Masken ist, die sich der Sänger überstreift und anverwandelt. »Wäre das anders, gäbe es dieses Buch nicht«, macht Klein klar. Entsprechend werden Dylans Songs als populäre Musik mit Kunstanspruch gewertet, deren Texte manchmal am besten »am Tisch zu lesen« seien (wenn auch keineswegs allein das). Und auch die Figur des vom schlichten Fan missverstandenen Großkünstlers fehlt nicht. Das klingt bekannt und nach den üblichen Komplexitätszuschreibungen, wo Pop dann gut ist, wenn er kein Pop mehr ist.
Allerdings, und das macht den Unterschied, ist es für Klein damit überhaupt nicht getan. Zwar heißt es im siebten Kapitel dezidiert, Dylan habe »ein Niveau an Reflexivität, Darstellung und geschichtlichem Gedächtnis entwickelt, das über den Popbereich im engeren Sinne weit hinausführt«. Die Entwicklung eines komplexen Verhältnisses zur Tradition des so genannten ›anderen Amerikas‹, die Dylans Songs faktisch weniger rekonstruieren als erfinden und damit utopiefähig machen, gehört für Klein zu den großen Leistungen des Songwriters, mit denen er sich nicht zuletzt auch das künstlerische Aufleben nach den krisengeschüttelten 1980er Jahren erkämpft. Dennoch geht es Klein nicht um Dylans Verkunstung und schon gar nicht um eine möglicherweise literarische Qualität der Texte als solcher – dass sich Dylans Musik für sich betrachtet samt ihrer Brüche und Stilwechsel im Dunstkreis von Blues und Folk bewegt und dabei kaum irgendwelcher avantgardistischer Ambitionen verdächtigt werden kann, muss erst gar nicht diskutiert werden. Dylan ist nicht Kunst, nicht Pop, der Titel ist kein Bonmot, sondern Kleins Programm und nach der Lektüre des Buchs höchstens durch den Zusatz zu ergänzen: und doch beides. Und wenn Dylan zuletzt mehrfach für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, so ist das schlicht ein Missverständnis. Die Schriftbezogenheit seiner Songtexte – Dylans intensives Studium wichtiger Lyriker des 19. und 20. Jahrhunderts ist keine Neuigkeit – und die Tatsache, dass sich manche erst bei genauem Lesen erschließen, verweist vielmehr, so Kleins Hauptthese, auf ein fundamentales ästhetisches Prinzip Dylans: die Arbeit mit der Eigensinnigkeit und -wertigkeit des sprachlichen wie des musikalischen Materials. Songtexte und Musik korrespondieren miteinander und gehen dennoch oft getrennte Wege, jedenfalls so gut wie nie einfach ineinander oder gar in einer politischen Botschaft auf. Erst im Zusammenspiel von Musik und Poesie entsteht die Spannung zwischen Autonomie und Darstellungsleistung, die Klein als das Avantgarde-Moment vieler Dylan-Songs begreift: die Gleichzeitigkeit von geschichtlichpolitischer Positionierung und artistischem Spiel mit Sprache und Sound, welche die Erwartungen des Fan-Publikums immer wieder unterläuft und, wie im Fall des »skandalösen« Übertritts zum elektrischen Rock 1965 oder des religiösen Sendungsbewusstseins der Gospel-Alben dreizehn Jahre später, nicht selten auch schockiert. Schon in den frühen 1960ern klangen Dylans Songs Klein zufolge anders als alles, was die Folk-Szene vor ihm kannte: Teilweise verrätselt in schwer verständlichen Versen und von einer Stimme präsentiert, die statt einfacher Empathie ein Moment der Ferne, des Sich-Versteckens und Sich-Verweigerns enthielt.
Dieses Prinzip einer Avantgarde mit den Mitteln von unten zieht sich, wie Klein in einem chronologischen Aufriss zeigt, in unterschiedlichen Schattierungen durch die Jahrzehnte von 1960 bis 2005, vom jungen Dylan über den mittleren, schwankenden bis hin zum alten Helden der so genannten Neverending Tour. Und es hat hörbare Konsequenzen bis heute, zum Beispiel im kritischen Umgang mit den eigenen alten Liedern. Dylan unterwirft sie in den Konzerten der letzten Jahre teils radikalen Umschriften – nicht immer erfolgreich, nie aber ohne den Traditionston dabei trotz allem immer wieder aufzunehmen.
»You're not hearing anything else but words and sounds. You can take it or leave it. If there's something you disagree with, that's great. I'm sick of people asking: ›What does it mean?‹ It means nothing.« Unter anderem mit diesem von Robert Shelton überlieferten Statement aus dem Jahr 1966 wehrte sich Bob Dylan gegen die Engstirnigkeit, mit der seine Songs häufig als bloße Befreiungsrhetorik ausgelegt wurden. Es ist nicht das geringste Verdienst von Kleins Buch, dass es diesen und andere Selbst-Kommentare nicht unmittelbar für bare Münze nimmt, sondern kritisch sichtet und als das liest, was sie bei diesem Songwriter zumindest auch waren: Versuche der Behauptung eines persönlichen und zugleich künstlerischen Widerstandsraumes, welcher Dylan als der Lichtfigur des gesellschaftlichen Aufbruchs und Widerstands der 1960er Jahre paradoxerweise selbst kaum noch zugestanden wurde. Es sollte Dylan selbst am wenigsten überraschen, so Kleins Pointe, dass er, der diese Figur der Verweigerung gegenüber den eigenen Fans über die Jahre kultivierte, von seiner Gefolgschaft umso hingebungsvoller verehrt und als Held der Verweigerung vereinnahmt worden ist.
Was Kleins Buch betrifft, so möchte ich es gerade aufgrund seines glashart geisteswissenschaftlichen Tones, den es bis zum Schluss durchhält, zur Lektüre empfehlen. Wie und auf welche Weise hier jemand seinen popkulturellen Gegenstand ästhetisch ernst nimmt, hält so mancher Pop-Schreibe den Spiegel vor und belegt, wie erfolgreich philosophisch-hermeneutische Zugangsweisen zur Populärkultur sein können. Und vielleicht sogar noch weitergehender: dass es nämlich solcher Analysen unbedingt bedarf, um zu befriedigenden Aussagen über Popmusik, zumindest aber über solche Musik, die in der alten Dichotomie von Kunst und Pop nicht aufgeht, zu gelangen – wenn sie denn – wie die Lieder Bob Dylans und wie dieses Buch von Richard Klein – gleichzeitig selber mit sozialgeschichtlichen Reflexionen verwoben und von diesen informiert sind.
Christian Bielefeldt, Samples, 7-2008

 

 

Leicht hat es Bob Dylan seinen Fans nie gemacht. In den 1960er Jahren setzte er seine Gitarre unter Strom und musste sich als »Judas« beschimpfen lassen. Ähnlich heftig waren die Reaktionen, als ihm sein Übertritt zum christlichen Glauben übel genommen wurde. Dieses Handeln wider die Erwartungshaltung mag bei Dylan künstlerisches Konzept sein, doch hat es sich wohl auch Richard Klein in der vorliegenden Untersuchung über des Meisters Werk zu eigen gemacht. Leider, mag man fast sagen, denn nach der Ankündigung auf dem Buchumschlag, die »erste kritische Gesamtinterpretation von Bob Dylans Werk in deutscher Sprache« läge hier vor, muss konstatiert werden, dass die literarische Umsetzung nicht durchgängig gelungen ist.
Nun ist, um dies vorwegzunehmen, am Inhalt überhaupt nicht rumzumäkeln. Der Autor, publizistisch geschult an musikalisch-intellektuellen Schwergewichten wie Adorno und Wagner, wendet sich mit großer Fachkenntnis und Überzeugung seiner Jugendliebe Dylan zu. Kleins Wissen um die Sekundärliteratur (leider nur in den Fußnoten, aber nicht im Anhang gelistet) ist immens, seine kritische Distanz zu großen Popjournalisten wie Greil Marcus bezeichnend und erfrischend. Form und Sprache jedoch, die einem zutiefst wissenschaftlichen Gestus verschrieben sind, stehen der Inhaltsvermittlung entgegen. Dies wirkt besonders schwer, weil Klein sich mit zwei großen Problemen konfrontiert sah: Weder gibt es in der Dylan-Forschung an klassischer Musikwissenschaft orientierte Vorlagen, noch bietet die Musikliteratur genügend grundlagenerforschte Werke, die sich mit der Popularmusik beschäftigen. Dies muss Klein immer wieder bedauernd feststellen, vor allem, wenn er sich dem Hauptaspekt der Untersuchung, der »Theorie der narrativen Stimme« (Klappentext) bei Dylan zuwendet.
Richard Klein verlangt dem Leser also einiges ab, wenn er mit ihm grundlegende Themen erst langsam einkreist, um die Erkenntnisse dann auf das Werk Dylans anzuwenden. Wer sich jedoch auf die oftmals verschlungenen Pfade begibt, wird mit äußerst lehrreichen und interessanten Thesen belohnt. So ist die Analyse des »Judas«-Skandals ebenso lesenswert wie die Deutung der Gospelphase, die Klein entgegen landläufiger Meinung als einen Höhepunkt in Dylans Schaffen wertet. Dass Klein zur Erläuterung seiner Thesen nicht der weitschweifigen Form bedürfte, beweist er wiederholt (v.a. auch in den Fußnoten). So fasst er Dylans ständiges Spiel mit der Erwartungshaltung in einer überzeugender Kürze zusammen, die man sich öfters gewünscht hätte (S. 180f) Fazit bleibt, dass Klein dem Anspruch, eine kritische Gesamtinterpretation von Dylans Werk vorzulegen, gerecht geworden ist – wenn auch nur für denjenigen, der bereit ist, sich auf die wissenschaftliche, bisweilen schwer verständliche Sprache einzulassen.
Michael Stapper in »Forum Musikbibliothek«, 3/2006

 

An Leser, die mit Dylans Werk bereits näher vertraut sind, wendet sich eine deutsche Neuerscheinung: Richard Kleins »My Name It Is Nothin'. Bob Dylan: Nicht Pop Nicht Kunst« bietet keine leichte Lektüre, aber eine lohnende. Der Richard-Wagner-Kenner setzt sich mit dem Instrumentarium eines Musikwissenschaftlers mit dem Phänomen Dylan auseinander. Besonders Augenmerk gilt dabei dem Phänomen der Stimme, dem Klein unter anderem mit Thesen des französischen Denkers Roland Barthes zu Leibe rückt. Was Klein dabei – entgegen dem hartnäckigen Klischee, Dylan schreibe großartige Songs, könne aber nicht singen – zu Tage fördert, gehört zum Erkenntnisreichsten und Intelligentesten, was in deutscher Sprache bisher über Dylan geschrieben wurde. Dies und wie der Autor die Qualität gerade auch das heutigen Dylan und jüngerer Werke wie »Time Out Of Mind« und »Love And Theft« argumentiert, macht denn blinde Flecken, wenn es etwa um das Zusammenspiel in Rock-Bands geht, leicht vergessen.
Karl Gedlicka in »concerto«, Heft 5, 2006

 

»No, I ain´t got my childhood/ Or friends I once know/ But I still got my voice left/ I can take it anywhere I go.« (Bob Dylan)
Es tut mir leid: Auch wenn es Willi Winkler, Olaf Benzinger und andere nicht wahrhaben wollen, bleibt doch schlicht zu konstatieren: Bob Dylan ist inzwischen definitiv dem Genre der Fan- und/ oder der journalistischen Faktenliteratur entwachsen. Jahrzehntelang pflegte man nicht nur hierzulande die Unsitte des neugierig-indiskreten Zugangs über das Biographische, die Irrungen und Wirrungen einer Musikerkarriere, die mal Hits produzierte, mal Abstürze, die zwischen fast autistischen Rückzügen und Exkursionen ins Irgendwo oder gar ins Himmlische changierte.
Inzwischen findet man unter den vielen Monographien und Spezialstudien den Sammelband Bob Dylan and Philosophy, ediert von Peter Vernezze und Carl J. Porter. Heinrich Detering, der Göttinger Literaturwissenschaftler, arbeitet an einer Studie, die das Universum der literarischen und religiösen Bezüge des amerikanischen Lyrikers minutiös und oft frappierend kenntlich macht. Klaus Theweleit hat bereits ans Tageslicht gebracht, wie neu und innovativ Dylans Chronicles, eine Autobiographie, die gar keine ist, ausfällt. Auf den Schultern von Stephen Scobie und Christopher Ricks, gestandenen Wissenschaftlern aus Übersee, die Greil Marcus Assoziationsreichtum durch fundierte Analysen mal konterkarieren, mal fundieren, legt Michael Gray eine fast achthundertseitige Dylan-Enzyklopädie vor, in der er sein profundes Wissen über den Blues eindrucksvoll und nicht nur anekdotisch ausbreitet. Also: Nicht nur FSK und Thomas Meinecke leben, indem sie Dylans Musik zeitgenössisch umsetzen, sehr vital ist auch der weltweite wissenschaftliche Diskurs über Dylan, an dem inzwischen auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung aktiv teilnimmt (Freitag 20/2006).
Richard Kleins Studie über Dylan besitzt ein Markenzeichen, das sie von den bekannten und zu erwartenden Annäherungen erkennbar abhebt: In seiner Monographie hören wir die Stimme und die Argumente eines Musikwissenschaftlers, der darauf insistiert, daß Robert Zimmerman ein Song- and Danceman (Michael Gray) ist, der es verdient, ja verlangt, daß wir uns seinem Œuvre von der Seite der Musik nähern. Der Fehler der bisherigen Dylan-Rezeption, die wegen ihres Umfangs und ihrer Spezifika gerne als Dylanologie bezeichnet und manchmal belächelt wird, bestand darin, den poeta laureatus des Rock entweder zum Anspielungs- und Verarbeitungschampion zu stilisieren, das ihn beinahe nobelpreisreif gemacht hat, oder zum puren Totalperformer. Klein hält Adorno die Treue in der Überzeugung, daß das Politische, der gesellschaftliche Gehalt der Musik von der Autonomie der konkreten – ästhetischen Gestalt zu entwickeln sei – ganz im Geiste Georg Lukács´, der bereits vor dem ersten Weltkrieg darauf bestand, die Form sei das eigentlich Soziale.
Für Klein ist das autonom-ästhetische Spezifikum Dylans seine Stimme. Nicht die von Musikverlagen kodifizierte Gestalt der Songs sind das Ultimative, sondern deren Performance. Zu Recht insistiert Klein darauf, daß es keinen Sänger gibt, der in seiner Karriere seine Stimme so oft gewechselt hat wie Dylan. Von seinen frühen Protestsongs über Nashville Skyline bis zu Love and Theft bietet der »performative artist« eine Palette vokaler Identitäten, denen gleichwohl bezwingende performative Authentizität nicht abzuerkennen ist. Herbert Marcuse hatte also Unrecht, als er meinte, die auf Demonstrationen gesungenen Bob Dylan-Songs seien »die einzig revolutionäre Sprache, die uns heute noch bleibt.« Klein pointiert: »Aber der Idee nach sind seine Lieder nicht dazu da, um von anderen gesungen zu werden.« Ja, der Freiburger Musikwissenschaftler besteht darauf, daß sich kein Stück Dylans im Studio und auf Platte zu erfüllen vermag.
Es ist nur folgerichtig und entspricht in unserer Zeit den wissenschaftlichen Usancen, wenn Klein die Unzahl der Mitschnitte und Bootlegs heranzieht, um eine Materialgrundlage für seine Studien zu gewinnen. Denn: »Nicht auf die Stücke kommt es letztlich an, sondern auf den Mann und die Stimme.« Seit es die Möglichkeit einer technischen Reproduktion auch von Live-Kunstwerken gibt, ist es sinnvoll und durchaus rational, auch die Stimme zum Objekt musikwissenschaftlicher Bemühungen zu machen. Anders als – sagen wir mit Klein – bei Maria Callas oder Sinatra, scheiden sich an Dylans Organon die Geister. Mr. Updike, der große Romancier, gehört zu der gewiß nicht kleinen Gruppe der Verächter dieser befremdlich–»unschönen« Stimme jenseits des Belcanto, artikuliert den Schock des bildungsbürgerlichen Musikrezipienten aufs treffendste (er spricht von jenem Bob Dylan, »in abgerissenen Jeans und einer schwarzen Jacke, seit drei Monaten fern jedes Haarschnitts, mit dessen Stimme man eine Pfanne scheuern könnte«).
Klein antwortet auf entsprechende Vorbehalte analytisch: Im Anschluß an Roland Barthes betont er die Körnigkeit der Stimme. Dylans Stimme ist Klein zufolge durch drei Elemente charakterisierbar: Sie ist apollinisch, die eines Kojoten (man hört imaginär Updikes zufriedene Akklamation) und die des Erzählers. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche beschreibt Klein, der gestandene Wagner-Spezialist, überzeugend Dylans Gesamtkunstwerk als Spannungskonstrukt von Dionysischem und Apollinischem: Zur Negativität der Lyrics, den symbolischen Spiralen der Verunsicherung gesellt sich strukturierend, kontrastiv und durch den Kontrast steigernd eine gegenläufige musikalische Gestaltung, die in der Stimme ihre Objektivation erhält. Musterbeispiel ist hierfür Dylans Monumentalsong Desolation Row. Dylans Protest und Revolte vergegenständlicht sich in seiner Stimme.
Dylan hat in einem Time – Interview seine Stimme 1985 selbst als die eines »Kojoten« bezeichnet – ganz in der Tradition seiner dechiffrierenden Ironie mit tieferem Gehalt. Der Kojote gilt als Tier der Nacht, der unzivilisierbaren Wildnis, der im Verborgenen agiert, der auch dann, wenn er aus der Deckung kommt, die Verborgenheit als einbeschriebenes Substrat mit sich trägt. In ihm synthetisieren sich die Mythen der indianischen Kultur (der der frühe Protestsänger mit With God On My Side ein Monument setzte) und der Schakal des Alten Testaments: Für die »Erlösungsbedürftigkeit«, die sonst verleugnet wird, gibt es keine andere Sprache als das «Heulen« (im Sinne von Ginsbergs Howl und der letzten Strophe von All Along The Watchtower).
Weniger überraschend, aber plausibel gesellt sich ein Drittes hinzu: In Dylans Gesang ist Skipturales präsent, eine nicht-naive Narration und ein Geschichtsbewußtsein, das Dylan von seinen naiveren Kombattanten und Freunden wie Cash distanziert. Die Detailanalysen halten das hohe Niveau des Ansatzes: die Kapitel über den frühen Zenit (die oft und falsch so bezeichnete Phase des Protests), die der mittleren Jahre und zumal die des Spätstils überzeugen durch ihre musikwissenschaftliche Konkretheit und Sensibilität. Richard Klein gelingt es nicht nur, die von den Winklers und Co. diffamierte Gospelphase musikästhetisch zu rehabilitieren, er zeigt, wie der Furor der Jahre 1979/80 sich in neuen Entgrenzungen der Stimme entfaltet; und er vermag die Never Ending Tour auf nicht-triviale Weise zu entmythologisieren: als höchstmögliche Reflexionsstufe populärer Musik, in der diese als autonome Kunst betrieben wird, ohne aufzuhören, populäre Kunst zu sein. Heute sind Konzerte von Dylan »Zeitreisen, die zu einem geschichtlichen Weltkonzept avanciert sind, in dem Tradition, Ereignis und offener Horizont, das Gedächtnis, die Ekstase und das Experiment zusammenfließen«.
Es fällt schwer, zu Kleins Opus, das die deutsche Dylan-Literatur auf ein anderes Niveau hebt, kritische Annotationen zu formulieren. Ich wage trotzdem den Versuch. Fangen wir mit einem Detail an. Anders als im Jazz ist – so Klein – Dylans permanente Neuerfindung im Konzert keine bloße Improvisation, sondern »Subversion bestimmter Inhalte, Bilder, Rollen«. Sollte man tatsächlich Improvisation und Subversion so entgegenstellen? Zum zweiten: Dylan braucht nach Richard Klein den strukturierenden Gegengehalt der Musik, ohne den (wie in seinem ersten Buchprojekt Tarantula) seine surrealen Bildkaskaden »zu einem uferlos assoziierten Strom von Worten und Sätzen diffundieren« (schlichter formuliert »zu einer Art bekifftem PC«). Stimmt das wirklich? Hat Dylan nicht spätestens mit den Chronicles bewiesen, daß er nicht nur auf dem Feld der Lyrics ein Autor von Rang ist?
Dylan, der übrigens von PCs bekanntlich weder Gebrauch machte noch macht, ist das Amalgam eines Gesamtkunstwerks. Dazu gehört essentiell das Feld des Erotischen. Die erotische Attraktivität seiner Stimme – und nach Barthes bleibt der imaginär-erotische Charakter Ausgangspunkt und das schlicht Unhintergehbare – kann sich Klein zufolge zu einem (schwankenden) Fundament entfalten, dessen Bindekraft sich mit den »realen« Liebesbeziehungen, die wir untereinander pflegen, durchaus vergleichen läßt. Dazu gehören aber auch die Regionen von Freiheit und Entverdinglichung. In Kleins respektvoller, freilich von adornitischen Vorbehalten nicht freier Liebe zu Dylan äußern sich das Bekenntnis und »der Inbegriff einer Befähigung zum vital Ungedeckten jenseits der Jahreszahlen«. Ganz gemäß dem Diktum Henri Matisses: »Ich hoffe, daß wir, wie alt wir auch werden, einmal jung sterben werden.« Das ist sympathisch, aber doch ein vorletztes Wort.
In den Chronicles schreibt Dylan: »Songs bedeuten für mich mehr als nur leichte Unterhaltung. Sie waren mein Leitstern und mein Reiseführer auf dem Weg zu einer anderen Wahrnehmung der Wirklichkeit, in ein anderes Land, ein befreites Land.« Mit Richard Klein ist Dylan endlich auch Gegenstand einer unkonventionellen Musikwissenschaft geworden, die sich auf Neuland wagt. Jetzt ist es an der Zeit, daß sein Beitrag zur zeitgenössischen Selbstreflexion ebenso generös und kompetent untersucht wird. Dylan hat zum Verständnis unserer condition humaine, unseres Nachdenkens über Zeit, die Notwendigkeit der Revolte gegen die Selbstverdinglichung mitsamt ihrem Scheitern, die Dialektik von Freiheit und freiwilliger Bindung, einen markanten Beitrag geliefert. Es hat schon einen guten Sinn, daß im Frühjahr im Hörsaal V der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt über Dylans Herausforderung der Ästhetik diskutiert wurde.

Rüdiger Dannemann in: »Freitag«, 8. September 2006

 

Zum 65. Geburtstag erscheint nach O. Benzinger ein weiteres Buch zu Bob Dylan. Klein leistet hier eine anspruchsvolle kritische Gesamtinterpretation von Dylans Werk. Der größte Teil dieses Buches beschäftigt sich mit der Entwicklung des Musikers von seinen Anfangen in Greenwich Village bis hin zu den Konzerten im Herbst 2005. Dabei nimmt die Entwicklung der Stimme Bob Dylans einen breiten Raum ein. Ebenso wird auf die sonst vernachlässigte Gospelphase und die Never-Ending-Tour Dylans ausführlich eingegangen. Am Anfang gibt es einen Essay über eines seiner bekanntesten Konzerte (Manchester 1966). Die letzten beiden Kapitel (Jenseits des Liveprinzips, Rockmusik als geschichtliche Erfahrung) sind als Einstieg für soziologisch Interessierte lesenswert. Keine Bilder, keine Diskographie, kein Register, aber ein sehr informativer Anmerkungsapparat mit vielen Literaturhinweisen. Ein anspruchvolles Buch über einen anspruchsvollen Musiker, das erst nach Dylan-Büchern wie Benziger eingesetzt werden sollte.
Klaus Perlbach in: »ekz-Informationsdienst«, 7/06

 

[…] Im Herbst 1997 erschien […] ein Album, das alle vorgefühlten Nachrufe ad absurdum führte und Dylans unerwartetes Spätwerk einleitete. Der Musikwissenschaftler Richard Klein schreibt in seinem soeben erschienenen Buch »My Name It Is Nothin’« über diese Platte: »Auf der stofflichen Oberfläche impliziert Time Out Of Mind die Katastrophendiagnostik eines Lebens, auf der Schicht der Strukturen den Versuch, eine entfremdete Tradition durch reflexive Aneignung zu retten; schließlich die Idee, noch und gerade die radikal verzeitlichende Erinnerungsarbeit in ein ästhetisches Bild von Zeitlosigkeit zu überführen.«
Weder auf eine solche Platte noch auf eine solche Expertise hätte man verzichten wollen. […]
Frank Junghänel, in: »Berliner Zeitung, 23./24. Mai 2006

 

[…] Am anderen Ende befindet sich Richard Klein. Er hat Orgel und Kirchenmusik studiert, über Richard Wagner und Adorno Bücher geschrieben und vor kurzem eine Untersuchung mit dem Titel My Name It Is Nothin'. Bob Dylan: Nicht Pop, Nicht Kunst vorgelegt. Darin stellt er fest: »Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Rockmusik und ästhetische Selbstreflexion keine Widersprüche sein müssen, dann ist er hier gegeben worden.« In Frankfurt hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die viel beklagte religiöse Phase Dylans, mit ihren Predigten und Gospels, musikologisch genauer zu betrachten. Fern davon, an dieser Bekennungssucht irgend etwas zu finden – und es gab nicht wenige, die darüber jammerten, wie dieser seinerzeit stundenlang predigte statt seine Songs zu bringen –, konstatierte er eine Gelöstheit des Gesangs auf Alben wie Nashville Skyline, die eine »an das Persiflagenhafte grenzende intellektuelle Distanz« mit der »Erschließung eines neuen Resonanzraums« verband, da es dem Sänger gelang, die Spuren der Nasalität weitgehend zu tilgen. Klein faßte diese Phase mit den Worten zusammen: »Hört mal her Leute, ich singe ein paar ziemlich doofe Songs, aber die ganz toll.«
In Frankfurt hatte niemand Bedenken, klassische ästhetische Analyse und Popkultur zusammenzubringen, und es war ausgesprochen wohltuend, dies an dem Ort zu vernehmen, an dem einmal emphatisch die Autonomie der Kunst verteidigt wurde – und in dem Wissen, daß diese Position gerade in Deutschland noch immer von Fundamentalisten auf Lehrstühlen und in Redaktionsstuben besetzt wird. Es geht auch nicht darum, ein Ereignis der Popkultur zu adeln, wie es in der Literatur, bei Krimis, Science-fiction-Romanen, oder auch in der Musik gerne getan wird, mit dem Tenor: Üblicherweise ist das alles Schrott, aber dieses einzelne Produkt kann bestehen und wird zugelassen.
Dieses Verfahren wäre auch bei Dylan möglich. So schreibt Richard Klein: »Das Lied mit der größten Spannweite zwischen Vers und Klang ist Desolation Row. Daß Dylan diesem frei flottierenden Exzeß an Bildern, Worten und Traumsequenzen überhaupt eine musikalische Gestalt geben konnte, möchte man auch heute noch kaum glauben.« Der Maßstab ist hier jedoch nicht die Hochkultur, vielmehr geht es um die Bestimmung des Maßstabes, auf Grund dessen geurteilt wird und den Klein weder in den Studio-Aufnahmen, noch dem Live-Konzert, sondern einer besonderen Art der Performanz verortet. […]
Mario Scalla, in: »Freitag«, 19. Mai 2006

 

[…] Ganz anders Richard Klein in »My Name It Is Nothin’«. Bob Dylan: Nicht Pop Nicht Kunst. »My Age it Means Less« würde die Fortsetzung lauten. Klein ist Mitinitiator einer internationalen Dylan – Geburtstagstagung in Frankfurt am Main vom 11.–13. Mai 2006 (»Bringing It All Back Home – Zum kritischen Gehalt von Bob Dylans Werk – Zwischen Kulturindustrie und autonomer Kunst) und stellt mit seiner gerade rechtzeitig erscheinenden 400-Seiten-Studie ein aktuelles, theorielastiges, aber auch für Laien faszinierendes Fundament zur Verfügung.
Wunderbar sind u.a. Kleins Stimm-Chroniken zu Faithfull und Cash im Vergleich zu Dylan. Wo andere Dylanologen versagen, baut Klein Brücken, Kein Zweifel, daß seine Analysen auch internationale Beachtung finden werden. Natürlich wird im Einzelnen nachgehakt werden. Manchen Experten wird es überraschen, daß Kleins Konzert-Analysen mit dem November 1961 einsetzen und nicht schon am 6. September desselben Jahres im Gaslight Cafe – aber das sind Details. […]
Nicola Bardola in: »Buchmarkt«, Heft 5/2006

 

Jedes Jahr im Herbst wartet Bob Dylans Gemeinde darauf, daß ihr Idol endlich den Nobelpreis für Literatur erhält. Manch einer hätte auch gegen dessen Heiligsprechung nichts einzuwenden. Obwohl in Stockholm und Rom schon abwegigere Entscheidungen getroffen wurden, tritt Richard Klein in seiner elaborierten Analyse von Dylans Werk wie seiner prozessualen Performance nicht für eine solche Erhöhung ein. Zwar reiche Dylan ästhetisch wie intellektuell weit über die Sphäre der seichten Unterhaltung hinaus, dennoch sei es falsch und unproduktiv, ihn der Hochkultur zuzuordnen, er besetze vielmehr einen Raum zwischen Pop und Kunst. Auch sei das Literarische bei Dylan nicht ohne Schaden von der Musik, der Aufführungspraxis und einem existentiellen Konzept abzulösen.
Obwohl also Klein Dylans Wirken ausdrücklich nicht der Populärkultur entziehen will, sitzt ihm der Stachel Theodor W. Adornos im enthusiastischen Fleisch, vor allem dessen kategorische Weigerung, den Produkten der Massenkultur authentischen Ausdruck zuzuschreiben. Deshalb hat Klein nach der methodologischen Hintertür geforscht, durch die er mit den analytischen Mitteln der Kritischen Theorie in jenen Zwischenraum eintreten kann. Adorno habe sich zwar der Popkultur emphatisch verweigert, nicht aber die dialektischen Äquivalenzen zwischen autonomer und populärer Kunst geleugnet. In der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks habe Adorno konzediert, daß das Obere wie das Untere Elemente der Veränderung enthalten, aber gleichermaßen auch die »Wundmale des Kapitalismus« aufweisen: »beide sind die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Freiheit, die doch aus ihnen nicht sich zusammenaddieren läßt«.
Der approbierte Musiker und Musikwissenschaftler Richard Klein will gleichwohl nicht leugnen, daß Dylans Mittel kompositionsgeschichtlich abgebraucht sind und bemüht sich deshalb auch nicht um den Nachweis einer stringenten Organisation des musikalischen Verlaufs von Dylans Liedern. Vielmehr weist er die Momente der Autonomie und der Authentizität der musikalisch-poetischen Welt im Vollzug und in einem individuellen Kontinuum auf, das sich jedem von außen herangetragenen Entwicklungs- und Erwartungsschema widersetzt.
Wenn Dylan seine ästhetischen Grundsätze selbstbewußt und ohne das notorische Understatement darlegen würde, würden sie Klein zufolge etwa so klingen: »Hier ist meine Musik, und dort seid Ihr. Es gibt keine Verbrüderung zwischen uns und kein ekstatisches Einerlei. Ich spiele für Euch, und ich spiele mit Lust, selbst wenn es manchmal anders aussehen mag. Aber meine Musik ist in keinem Fall dazu da, Euch zu gefallen, zu reizen oder in Stimmung zu bringen. Schon gar nicht orientiere ich mich an dem, was Ihr hören wollt. Meine Songs haben eigene Gesetze und Wertigkeiten unabhängig von dem, was Ihr mit ihnen macht und was Euch zu ihnen einfällt.«
Entsprechend zeigt Klein, daß sich Dylans Songs gegen herangetragene politische Bedeutungen sperren. In ihren performativen Vollzugsformen steter Veränderung werde das Werkprinzip in immanenter ästhetischer Selbstreflexion dementiert. In jedem Album verweigere sich Dylan aufs neue der Überbietungsdynamik des Popgeschäfts und paradoxerweise auch der reproduktionstechnischen Fixierung von Zeitgestalten.
Besonders die späten Konzerte zeigten ein Gegenmodell zur Ordnung des Nacheinander. Es ginge da um nicht weniger »als um die Möglichkeit, in der präsentischen Auseinandersetzung mit den Liedern eines Lebens einen Freiraum gegenüber der Historie und ihrer Entwicklung zu behaupten. So wären vor allem Dylans späte Konzerte Anschauungsfälle der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und des Widerstands gegen die Macht des nur Gewordenen.«
Nicht ganz überraschend findet Klein in Dylans Verfahrensweise eine Variation von Adornos These des Doppelcharakters der Kunst als autonom und sozial zugleich wieder. Dylan mache je neu einen Schritt zur Welt, der aber geschehe im Namen der Autonomie, einer subversiven Eigenständigkeit künstlerischen Arbeitens, die sich um keinen Trend bekümmere. Die Freisetzung von ökonomischen und organisatorischen Zwängen, die Dylan sich erarbeitet habe, nutze er dazu, das Leiden um so ungeschminkter auszusprechen. In seinen melancholischen Zeitbildern präsentiere sich Dylan als geschichtsphilosophisch reflektierter Sänger der Unwahrheit unserer Existenz. Zwar evoziere er immer wieder den Gedanken des Glücks, jeder Versuch aber, dessen Vision zu leben, erscheine unter den herrschenden Bedingungen verwirkt. Derart zeigt Klein Bob Dylan als Erben einer desillusionierten Romantik mit all jenen Widersprüchen der Individualisierung, die sich nur in der Idee der Prozessualität, des permanenten Unterwegsseins, ertragen lassen, wie sich Dylans »never ending tour« performativ ausdrückt, selbstverständlich im Wissen, daß sie einmal doch enden wird, zumindest hienieden.
Das Attraktionszentrum von Dylans Kunst aber ist Klein zufolge seine Stimme. Sie allein integriert das Widerstrebende. In der Analyse des phänomenalen Spektrums von Dylans Stimme zwischen müdem Murmeln und Nuscheln, Verschlucken von Silben, über die verschiedensten Abschattierungen des Tons bis zur funkelnden Artikulation und scharfen Deklamation macht Klein das Wechselspiel von Enthüllen und Verbergen dingfest. Dylans
Stimme verbinde rhythmischen Anarchismus mit der Aufmerksamkeit für sprachlichen Sinn wie zugleich dessen Suspension durch vokale Physis. So entziehe er sich jedem direkten Zugriff auf Bedeutungszusammenhänge, auf die es gleichwohl ankomme. Jede Reprise oder Variation eines Songs vollzieht nicht einfach einen Text oder ein Werk nach, sondern gibt ihm eine neue, periphere performative Dimension.
So legt der Sänger die Dynamik des Geschichtlichen frei, er läßt divergierende Traditionsbezüge aufeinanderstoßen und erreicht so eine prozessuale Gestalt musikalischer und poetischer Befreiung, die sich für Klein rockgeschichtlich auch als Befreiung von einer ästhetischen und darum auch politischen Bewußtlosigkeit darstellt, die der Popsphäre allzu lange anhaftete. So sieht der Interpret Bruce Springsteens Diktum bestätigt, Elvis habe dem Rock den Leib gebracht, Dylan aber den Geist.
In seiner Analyse von Dylans Konzertpraxis läßt Klein die triviale medientheoretische Entgegensetzung von Einmaligkeit und Reproduktion zerschellen. Das Original des Konzerts entsteht bei Dylan erst in bezug auf die Reproduktion. Jede Variation und Neudeutung eines Songs eröffnet eine weitere Perspektive in einen Gedächtnisraum. So besteht das Werk zuletzt in all dem, was Präsenz mit Vergangenheit und Zukunft zu tun hat. Es stellt sich als Integration der Zeit dar. Daher attestiert Klein Dylan eine »ungeheure Vermittlungsleistung«, Dylan erscheint geradezu als ein künstlerischer Anthropologe, der uns selbstvergessen, aber nicht notwendig selbstlos, die bedeutsamen lebensgeschichtlichen und lebenszeitlichen Differenzen aus dem Geist der Endlichkeit wie zugleich deren Überschreitung in die Wahrnehmung bringt. Die Abwehr der Idolatrie, die Dylan keineswegs kokett betreibe, aber kann gerade deshalb nicht gelingen. Je mehr Dylan von sich absehe, Distanz und Freiraum herzustellen suche, desto mehr gerate er erneut und erst recht in die Rolle des Heiligen.
In seinen detaillierten musikanalytischen und poethologischen Analysen verleiht Klein dem Satz »Dylan begleitet mein ganzes Leben« vielschichtigste Bedeutung. Mit seiner Untersuchung steht er gegen Adornos Vermutung dafür ein, daß es den intelligenten und formbewußten Fan gibt, der, vom Pop ausgehend, die auseinandergerissenen Hälften der Freiheit jenseits standardisierter Wahrnehmung in Beziehung zu setzen weiß und der so dem Pop, dessen außerordentliche Einwirkung auf das moderne Bewußtsein ja niemand bestreiten will, eine Sphäre kritischer Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum, Gesellschaft und Geschichte erschließt.
Die Frage ist freilich, ob Kleins Buch nicht im Gegensatz zu seiner Beschreibung eines Raums des Zwischen, in den er faszinierende Blicke eröffnet, jenem Oben zugehört, einer zuletzt doch wieder elitären Sonderkultur der happy few, die sich gegenseitig ihrer Subtilität versichern. Kleins interpretatorische Mittel und auch seine Sprache vermuten das angemessene Verständnis von Dylans Songs wider die eigene Intention in einer Sphäre des Schwierigen, Ernsthaften und Kommentarbedürftigen. Für pseudomarxistische Unverständige hat Klein jedenfalls so wenig übrig wie für jene gemeinen Fans, die »jovial zu johlen beginnen, wenn Dylan wieder einmal eine deutlich erneuerte Version eines alten Songs vorzutragen« sich anschickt. Dieses Johlen gelte eben nicht dem Neuen und Dylans experimentierfreudigem Geist. »Sie bejubeln ihr eigenes Wiedererkennungsvermögen.« Da ist es wieder, Adornos Diktum der »Regression des Hörens« mitsamt dem rechthaberischen Ton. Um so mehr bleibt der Geltungsanspruch von Kleins Pophermeneutik, was die Sphäre der Rezeption und die begeisterten Massen betrifft, weitgehend ungeklärt. Darüber wird auf dem ab Donnerstag dieser Woche in Frankfurt stattfindenden Dylan-Kongreß, den Richard Klein mitinitiiert hat, wohl zu reden sein.
Friedmar Apel, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 12. Mai 2006

 

[…] Bislang handelte es sich bei der so genannten Dylanologie nämlich um eine Kraut- und Rüben-Wissenschaft, die sich mit Vorliebe in der Erstellung von Listen, der Erhebung von Daten und sonstigen Detailansichten äußerte. Eine erkennbare Orthodoxie hat sich in diesem weiten Feld dies- wie jenseits des Atlantiks bislang nur in Ansätzen herausbilden können, was an Aussagen um / das Kraftzentrum »Dylan« herum entstanden ist, gehorcht den Gesetzen des wilden Denkens. Jeder kann, jeder darf, viele wollen: Die Dylanologie – eine Annäherungsdisziplin, die in Methodik und Sprache dem Kultischen verpflichtet ist.
Nun aber erhebt sich eine neue, gewichtige Stimme im Konzert des Räsonierens. Die »erste kritische Gesamtinterpretation von Bob Dylans Werk in deutscher Sprache« verspricht der Berliner Lukas Verlag zum bevorstehenden 65. Geburtstag am 24. Mai, eine Pioniertat, mehr noch: ein Opus magnum. Und tatsächlich, wer Richard Kleins 400 Seiten starke Studie »My Name It ls Nothin’« zur Hand nimmt, den weht ein gänzlich anderer Wind an. Klein reibt sich an der »demokratischen Koexistenz schlechthin aller Vorlieben und Geschmacksunterschiede«, er geißelt »unterkomplexe Topoi« und fordert Kriterienverbindlichkeit.
Wo bislang Apercu war, soll ab sofort das Argument zählen, und wo jahrzehntelang blinde Faszination obwaltete, die zähe Arbeit des Begriffs. Den Anfang bildet zwar eine Demutsgeste (»Dieses Buch ist ein Zwischenergebnis«), und am Ende steht ein lyrisches »Wer weiß«, doch dazwischen wird jede Menge gewußt: Über Dylans zahlreiche Schaffensphasen, seinen Prophetismus und seine Masken, über untergründige Verbindungen zur Commedia dell'Arte, zum Gesang der Callas, zu Johnny Cash und Marianne Faithfull, zu Schönberg, Wagner, Heidegger… Daß auf Seite 29 erstmals das Inkommensurable ins Spiel kommt, ist auch kein Zufall. Als ausgebildeter Musikwissenschaftler hält Klein es mit einem Mann, der bislang unverdächtig war, das Nachdenken über Rockmusik vorangetrieben zu haben.
Theodor Adorno geistert mal im-, mal explizit durch die Zeilen und fordert Tribut. Von einem Paradigmenwechsel in Sachen Dylan zu sprechen wäre übereilt, obwohl dieses Wochenende in Frankfurt am Main bereits ein ganzes Symposium »Zum kritischen Gehalt von Bob Dylans Werk« stattfindet, mitveranstaltet vom Institut für Sozialforschung, Adornos alter Wirkungsstätte. »Rockmusik als geschichtliche Erfahrung«, »Kulturindustrie als autonome Kunst«, »Verweigerung als Messianismus«, die Gliederungspunkte wirken allesamt, als stammten sie aus Kleins Thesenvorrat – was nicht verwundert. Er hat den Kongreß zusammen mit dem Philosophen Axel Honneth und dem Journalisten Peter Kemper organisiert. Die Freude, Dylan am Originalschauplatz kritisch theoretisch zu präsentieren, ist erkennbar groß, die Frage ist, wie weit der Impetus trägt.
Der forcierte Akademismus ist selbst Symptom eines Damaskus-Erlebnisses, das in diesem Fall auf einem Marktplatz im südbadischen Lörrach spielt. Dort war's, wo der bislang auf Wagner spezialisierte Klein beim Auftritt des performing artist Dylan eine »emotionale Präsenz« verspürte. Während nun aber andere fasziniert, ergriffen, erschüttert oder schlichtweg von den Socken gewesen wären, wird bei ihm das »ästhetische Koordinatensystem in tektonische Unruhe« versetzt. Bemerkenswert an diesem Statement ist weniger der gespreizte Tonfall als das Eingeständnis einer Irritation, die von Dylans Vortrag ausgeht. Teils arbeitet der Autor sie weg, teils gibt er ihr nach.
»My Name It ls Nothin’« liest sich wie ein groß angelegter Selbstberuhigungsversuch, der bezeichnenderweise dort zu den besten Ergebnissen kommt, wo der Riß im Denkgebäude nicht vorschnell geschlossen wird – in den Überlegungen zur Stimme nämlich, die ihren spekulativen Zug offen vor sich hertragen. Nuscheln, Nölen, Nödeln, mit den Standards der Dylan-Betrachtung gibt Klein sich nicht zufrieden, er bohrt weiter, will wissen, was da genau heult wie ein Coyote im Stacheldraht. Mit Roland Barthes faßt er die Stimme als Grenzphänomen zwischen Körper und Geist, als widersprüchliche Einheit von Präzision und Auflösung, Rausch und Kontrolle, nicht genug: Er umkreist indianische und biblische Mythen, aus denen Dylans negativer Prophetismus sich speist, um zu dem Ergebnis zu kommen, in seinem Gesang äußere sich ein Kraftfeld, das bislang unbekannte Erfahrungshorizonte öffnet.

Anders formuliert: Die Stimme bringt das Utopische selbst zum Klingen, das, was nach modernem Verständnis in der Kunst Zuflucht gefunden hat und in Adornos Sprache »das Inkommensurable« heißt, sie gibt dem Flüchtigen im Moment der Aufführung Gestalt und Gültigkeit. Bruce Springsteen Iag, so gesehen, nicht verkehrt mit seiner Bemerkung, Elvis habe dem Pop den Körper gebracht, Dylan aber den Geist: Als der in den Sechzigern die Bühne betrat, erschütterte er die unterhaltende Musik in ihren Grundfesten, indem er sie mit Techniken der ästhetischen Moderne (Bewußtseinsströmen, Montagen et cetera) kurzschloß. Umgekehrt bedeutet das, daß Dylans Musik zu keinem, Zeitpunkt Medium bloßen Protests war oder er selbst der »Sänger einer Generation«. Nicht der Text zählt oder die Gesinnung, am wenigsten die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, sondern das, was im Gesang an Unsagbarem gesagt wird.
Popmusik wird mit Dylan also »Kunst« – ein Sachverhalt, der Klein zu einigen interessanten Neubewertungen führt. Dylans Country-Phase, von denen, die ihn auf den Protestbarden festlegen wollten, als Rückzug ins Idyllische gescholten, erscheint bei ihm als Lockerungsübung: Ein von seinen Fans unablässig bedrängter Sänger beginnt, im selbst gewählten Exil mit den Traditionen seines Landes zu spielen. Dylans Hinwendung zum Christentum Anfang der Achtziger wiederum, von vielen als Tiefpunkt seiner Karriere betrachtet, wird, gegen den Zeitgeist gelesen, zum Fanal einer irrlichternden Spiritualität, die sich der Profanierung des Pop entgegenstemmt. Die dabei angewandte Technik, aus den liegen gelassenen Fragmenten unterschiedlichster Liederzählungen Neues zu konstruieren, führt Klein zu seiner originellsten Überlegung: Dylan singt die Tradition nicht einfach, singend reflektiert er sie zugleich. Als Archäologe der Geschichte seines Landes erzählt er gewissermaßen die Erzählung.
So überzeugend hat man das auch bei Greil Marcus, der das »alte, unheimliche Amerika« bei Dylan freigelegt hat, nicht gelesen. […]
Thomas Groß, in: »Die Zeit«, 11. Mai 2006