Frederick Weinstein

Aufzeichnungen aus dem Versteck

 

Das Manuskript der »Aufzeichnungen aus dem Versteck« befand sich unter den Mitbringseln, die der Verfasser bei seiner Überfahrt nach New York 1946 mit sich nahm. In der neuen Heimat, wo Fryderyk Winnykamie unter seinem ins Englische übersetzten Namen ein neues Leben begann, blieb es über Jahrzehnte hinweg unbeachtet. Erst vor einigen Jahren konnte Barbara Schieb Frederick Weinstein dazu bewegen, seine Aufzeichnungen zur Veröffentlichung freizugeben. Mit Martina Voigt hat sie den übersetzten Text mit einer hilfreichen Einleitung und ausführlichen Erläuterungen versehen.
Fryderyk verbrachte die frühen Jahre der Naziherrschaft im »Generalgouvernement« Polen an wechselnden Orten. Aus seiner Geburtsstadt Lodz verschlug es ihn Ende 1939 nach Warschau, wo er sich im Rahmen des Zwangsarbeitssystems verdingte. Im Oktober 1940 floh er in das abgelegene Schtetl Gniewoszów. Doch wegen der »Aktion Reinhard« kehrte er zurück ins Warschauer Getto.
Der Zusammenhalt der Familie half oft weiter. Fryderyk und sein Vater verbrachten lange Monate in einem Zimmer auf der »arischen Seite« Warschaus – versorgt von der Mutter, die eine »arische« Identität angenommen hatte. Hier verfasste er seinen ungewöhnlich detaillierten und sprachgewandten Erinnerungsbericht über sein Erleben von Krieg und Besatzung vom Sommer 1939 bis Mitte 1942, als die Deportationen nach Treblinka begannen. An diesen längsten Teil des Buches schließen sich Fragmente täglicher Aufzeichnungen aus dem Getto und aus dem Versteck an, die bis zum Beginn des nationalpolnischen Aufstands im August 1944 reichen. Danach lebte Fryderyk unter einer ethnisch polnischen Tarnung und war als Dolmetscher für die deutschen Truppen tätig. Nach deren Abzug konnte er seine Aufzeichnungen aus den Trümmern Warschaus unversehrt bergen.
Fryderyk, dem soziale Gerechtigkeit über alles ging, verstand sich als Kommunist und setzte seine Hoffnungen auf die Sowjetunion. Die deutschen Verfolger, deren Verbrechen er ein ums andere Mal schildert, bezeichnet er mit den gebräuchlichen Schimpfnamen: Germanen, Schwaben, Barbaren, Hunnen. In den Polen sah er – mit wenigen Ausnahmen – reaktionäre und kollaborationswillige Antisemiten, die darauf aus waren, von der Judenverfolgung zu profitieren und die Genugtuung darüber empfanden. Der Verfasser erwähnt aber auch Konflikte innerhalb der jüdischen Bevölkerung und schildert etwa die Auseinandersetzungen zwischen dem Repräsentanten der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe in Gniewoszów – seinem Vater – und dem Judenrat. Wie sich hier zeigt, war die Fürsorgetätigkeit für die unaufhörlich herbeiströmenden mittellosen und hungernden Flüchtlinge vor Ort stets von Korruption bedroht. Fotos, Karten und Faksimile-Abbildungen der Handschrift ergänzen den hervorragend edierten Band, der dem entbehrungsvollen – und letztlich erfolgreichen – Überlebenskampf einer jüdischen Familie während der nationalsozialistischen Besatzung Polens ein eindrucksvolles Denkmal setzt.

Klaus-Peter Friedrich in »Tribüne« (Zeitschrift zum Verständnis des Judentums), 47. Jg., H. 185/1. Quartal 2008

 

Zahllose Berichte über das Leben und Leiden der Juden während des Holocaust sind veröffentlicht worden, doch nur wenige sind so anschaulich und detailliert wie die tagebuchartigen Aufzeichnungen des polnisch-jüdischen Arztsohnes Frederick Weinstein (*1922), der auch Fryderyk Winnykamień genannt wurde. Die Familie stammte aus Warschau. Der Vater betrieb seit 1934 eine Arztpraxis in Lodz. Mit dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen begann für die Familie Winnykamień eine Odysee, die nach dem Holocaust in New York endete. Es ging 1939 nach Warschau, dann weiter in den Raum Radom und im Juni 1942 floh der Autor vor Razzien nach Warschau. Er hielt sich versteckt, um nicht aufzufallen. Um mit der Bedrohung und ständigen Langeweile fertig zu werden, begann er mit seinen Aufzeichnungen. Sehr kritisch zeigt Weinstein die drei Bedrohungen auf, denen er sich damals ausgesetzt sah: die deutschen Besatzer, die nichtjüdischen Polen und die Funktionäre der Judenräte. Wie ein roter Faden zieht sich das belastete polnisch-jüdische Verhältnis durch die Auf­zeichnungen. Die antisemitischen Strömungen im kommunistisch besetzten Polen veranlaßten den Autor 1946 in die USA zu emigrieren.

M.Sp. in »Weichsel-Warthe« (Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Weichsel-Warthe Bundesverband e.V.), 55. Jg., H. 12/2007

 

Fryderyk Winnykamień war ein findiger und tatkräftiger junger Mann, der sich nicht leicht entmutigen ließ. Schon damit besaß er gute Voraussetzungen im jüdischen Überlebenskampf während der nationalsozialistischen Besatzung Polens. Hinzu kam, dass ihm das Glück mehrfach zur Seite stand und Familienangehörige in vielen Fällen weiterhalfen. 1943/44 verbrachte er mit seinem Vater Leopold Winnykamień im Schutz der angenommenen »arischen« Identität seiner Mutter lange Monate in einem Versteck auf der »arischen Seite« Warschaus. Dort verfasste er seinen ungewöhnlich gehaltvollen, detaillierten und sprachgewandten Erinnerungsbericht über sein Erleben von Krieg und Besatzung vom Sommer 1939 bis zum 21. Juli 1942 – dem Tag vor dem Beginn der Deportationen nach Treblinka. An diesen Textteil schließen sich Fragmente täglicher Aufzeichnungen aus dem Ghetto von Warschau von Juni 1942 bis Februar 1943 und aus dem Stadtteil Wola bis zum Beginn des (national-)polnischen Aufstands im August 1944 an. 1945 konnte er seine Aufzeichnungen aus den Trümmern Warschaus unversehrt bergen, und so ist auch ihr Überdauern ein großer Glücksfall. Winnykamień, der sich später Frederick Weinstein nannte, nahm sie bei seiner Auswanderung in die USA mit.
1922 geboren und in Łódź aufgewachsen, versuchte Fryderyk mit seinen Eltern und zwei Schwestern dem enormen Verfolgungsdruck unter der deutschen Verwaltung durch die Flucht nach Warschau Ende November 1939 zu entkommen. Dort fand er sich fürs erste in relativer Freiheit wieder, verdingte sich im Rahmen des Zwangsarbeitssystems in verschiedenen Beschäftigungen. Er hielt Kontakt mit seinen Eltern, die wegen der Hoffnung auf bessere Verdienstmöglichkeiten für den als Zahnarzt tätigen Vater nach Otwock, einen Kurort bei Warschau, umgezogen war. Schließlich entfloh der Verfasser erneut den Verfolgungsorganen, indem er sich im Oktober 1940 nach Gniewoszów begab, wohin die Eltern zwischenzeitlich umgezogen waren. 60 km von Radom entfernt am Rande des gleichnamigen Distrikts unweit der Weichsel gelegen, erschien der beschauliche Ort dem Gehetzten – auf den ersten Blick – wie eine Oase des Friedens. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Noch den Neujahrstag 1942 begrüßte die Familie »sorglos und im Wohlstand […], ja, wir ahnten das kommende Unheil nicht einmal«. Doch ein halbes Jahr später wurde auch die tiefste Provinz von der »Aktion Reinhard« ereilt. Wie manch Anderer ging Winnykamień zurück nach Warschau, weil er sich nun im Judenghetto sicherer fühlte. Hier reifte dann der Entschluss, das Überleben jenseits der Ghettomauern zu versuchen.
Winnykamień, der nach sozialer Gerechtigkeit dürstete und der seine Hoffnungen auf die Sowjetunion setzte, verstand sich als Kommunist. Die Deutschen, die er aufrichtig hasst und deren Verbrechen er ein ums andere Mal schildert, bezeichnet er oft mit den damals gebräuchlichen Schimpfnamen (Germanen, Schwaben, Barbaren, Hunnen). In den Polen sah er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – reaktionäre und kollaborationswillige Antisemiten, die angesichts der Judenverfolgung Genugtuung empfanden und begierig waren, davon zu profitieren. Nach seiner Auswanderung ist er nie mehr dorthin gereist.
Der Verfasser stellt auch die Konflikte innerhalb der jüdischen Bevölkerung dar. Sie waren zum Teil Resultat der Heterogenität innerhalb der polnischen Judenheit, in der im westlichen Sinn Assimilierte mit einer großen Masse von den Traditionen Verhafteten zusammenlebten. Eindrücklich ist insbesondere seine Schilderung der Auseinandersetzungen zwischen dem Repräsentanten der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe in Gniewoszów (seinem Vater) und dem Judenrat an dieser inneren Peripherie. Wie sich hieran zeigt, war die Fürsorgetätigkeit für die unaufhörlich herbeiströmenden mittellosen und hungernden Flüchtlinge vor Ort stets von Korruption bedroht.
Nach seiner Überfahrt nach New York kümmerte sich der Verfasser jahrzehntelang kaum mehr um seine Aufzeichnungen, bis Barbara Schieb ihn dazu bewegen konnte, sie zur Übersetzung und Veröffentlichung freizugeben. Zusammen mit Martina Voigt hat sie den Text mit einer Einleitung und mit einem ganz ausführlichen Kommentar versehen, welche ihn zum gegenwärtigen Forschungsstand erläuternd in Beziehung setzen. Als ein weiterer glücklicher Umstand muss zudem die Tatsache gelten, dass der Verfasser für Nachfragen zur Verfügung stand und zur Klärung mancher Unklarheiten und Ungereimtheiten beitragen konnte. Allein die Anmerkungen zum Erinnerungsbericht füllen 105 eng bedruckte Seiten. Da es bis jetzt keine monografische Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Judenmordes in Polen gibt, erforderte dies eine aufwändige Recherchearbeit in der Fachliteratur und in Archiven. Dabei wird augenfällig, wie weit sich mittlerweile die editorische Praxis von den Gepflogenheiten der 1990er Jahre entfernt hat, als der Leser mit den Bekenntnissen der Verfasser(innen) von Tagebüchern und Erinnerungen aus der Zeit des Judenmordes weitgehend allein gelassen wurde. Indes ist hier manche Einzelheit zu korrigieren. […]
Winnykamieńs handschriftlich auf Polnisch verfasster Text ist in ein flüssiges Deutsch übersetzt worden. Anhand von eingeschobenen Faksimileseiten kann sich der Leser auch ein Bild vom Aussehen und Wortlaut des Originals verschaffen. Nur an wenigen Stellen sind mir ungenaue oder stilistisch unschöne Wendungen aufgefallen, etwa, wo polnische Ausdrücke stehen geblieben sind […]
Diese Einzelkritik soll aber keinesfalls den Blick darauf verstellen, dass die Herausgeberinnen neue editorische Maßstäbe setzen. Insoweit wäre zu wünschen, dass ein vergleichbares Maß an Sorgfalt auch anderen Tagebüchern und Berichten zugute käme, die ebenso viel Beachtung beanspruchen können, hierzulande aber immer noch unbekannt sind. Doch von einem schlüssigen editorischen Unternehmen, welches nach dem Vorbild der Reihe »Holocaust Library« solch außergewöhnliche jüdische Zeugnisse über den NS-Judenmord zugänglich machen würde, sind wir – so scheint es – immer noch ein gutes Stück entfernt.
Klaus-Peter Friedrich in »sehepunkte« 7(2007), Nr. 7/8 (15.07.2007), vollständig unter
http://www.sehepunkte.de/2007/07/11839.html

 

»Denn was auch immer kommen mag, ich möchte lieber diese Notizen überleben, als dass sie mich überleben – und dann weiterexistieren als Symbol dieses elenden Daseins, als Symbol unerfüllter Hoffnungen und des noch elenderen Endes unserer qualvollen Tage. Lieber will ich selbst in Zukunft ein lebendiges Symbol sein für alle diese Wahrheiten, ein Symbol für den Sieg der Geduld, des guten Glaubens und der Hoffnung über die Verzweiflung und die Verbitterung, über die äußerste Resignation und über den Wunsch, so bald wie möglich zu sterben.« Frederick Weinstein , der diese Sätze Anfang Juni 1944 in einem Kellerversteck im besetzten Warschau niederschrieb, hat überlebt. Sein Weg von Lodz über das Dorf Gniewoszów in das Warschauer Ghetto und schließlich in einen fast lichtlosen Raum im »arischen« Teil der polnischen Hauptstadt steht somit heute tatsächlich für den Sieg des Lebenswillens über die Verzweiflung, den der Autor seinerzeit nur erhoffen konnte. Überlebt haben zugleich aber auch seine Aufzeichnungen, die er selbst 1945 aus den Trümmern seines vorherigen Zufluchtsortes bergen und damit vor dem Vergessen bewahren konnte. Mit der vorliegenden Edition werden sie erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und es erscheint nicht übertrieben, von einem Zeitdokument außergewöhnlichen Ranges zu sprechen.

Der Erzähltext ist in zwei Teile gegliedert: Während die Beschreibung der Jahre vom Kriegsbeginn im Herbst 1939 bis zur ersten Deportationswelle im Warschauer Ghetto im Juli 1942 retrospektiv verfaßt wurde und in ihrer ausformulierten Form bereits an spätere Leser adressiert ist, tragen die folgenden Notizen den Charakter zeitnaher, stichwortartiger Eintragungen. Gerade diese tagebuchartige Form läßt die damaligen Ereignisse sehr nah und direkt an den heutigen Leser heranrücken. Dabei mangelt es keinesfalls an Kontextualisierung und Erklärungen, vielmehr haben Barbara Schieb und Martina Voigt keine Mühen gescheut, die subjektive Perspektive W.s mit Quellen anderer Provenienz zu kontrastieren und seine Ausführungen vor dem Hintergrund des heutigen Forschungsstands einzuordnen. Dies geschieht in der ausführlichen Einleitung sowie dem umfangreichen Anmerkungsapparat, während der eigentliche Text weitgehend unverändert wiedergegeben wird. »Die Treue zum Original war oberstes Prinzip« – dies zeigt sich sowohl bei der schwierigen Übersetzung der auf Altpapier verfaßten Niederschriften als auch bei deren Einbettung, und dieses umsichtige Vorgehen der Herausgeberinnen verleiht den Aufzeichnungen ein zusätzliches Maß an Eindringlichkeit.

Ferner ist der Umstand hervorzuheben, daß W., der nach dem Krieg nach New York auswanderte und dort bis heute lebt, selbst an der Edition mitwirken konnte. Während die Verfasser anderer Erinnerungsberichte wie etwa Anne Frank, Emanuel Ringelblum oder Adam Czerniaków die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft nicht überlebten, konnte W. die Publikation beständig begleiten und stellte sich unter anderem für ein 16-stündiges lebensgeschichtliches Interview zur Verfügung. Für diese Bereitschaft, sich nach über einem halben Jahrhundert noch einmal den traumatischen Erinnerungen seiner Jugend zuzuwenden, gebührt ihm zweifellos großer Respekt, um so mehr, als er all die Jahre zuvor seine eigenen Aufzeichnungen bewußt gemieden hatte, aus Angst, der Macht der Erinnerung nicht gewachsen zu sein.

Im Ergebnis liegt nun ein Buch vor, in welchem die einschneidenden Ereignisse der deutschen Besatzungspolitik in Polen – vom Terror gegen die Zivilbevölkerung gleich in den ersten Kriegstagen über die Errichtung des Warschauer Ghettos bis hin zur Erhebung seiner Bewohner und dem Warschauer Aufstand – aus der Sicht eines damals an der Schwelle zum Erwachsenen stehenden jüdischen Jungen geschildert werden. Inhaltlich bestätigen die Schilderungen W.s manches Ergebnis der jüngsten Forschung. Dies gilt etwa für Jochen Böhlers Charakterisierung des »Polenfeldzugs« als »Auftakt zum Vernichtungskrieg« oder auch für die von Andrea Löw am Beispiel des Lodzer Ghettos aufgezeigten individuellen Überlebensstrategien, die auch in den Aufzeichnungen W.s deutlich zu Tage treten und zur Korrektur des lange Zeit dominierenden Bildes der jüdischen Bevölkerung als eines wehrlosen Opferkollektivs beitragen.

Aus geschichtspolitischer Perspektive sind der Publikation, deren Drucklegung durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur ermöglicht wurde, viele interessierte Leser zu wünschen. Angesichts der in den letzten Jahren zunehmenden Betonung der deutschen Kriegsopfer und einer Reduzierung der NS-Zeit auf Hitler und seine engsten Gefolgsleute durch Guido Knopps Historien-TV und Filme wie »Der Untergang« bleibt zu hoffen, daß das Potential der Aufzeichnungen W.s als eines Gegengewichts zu solchen Entwicklungen erkannt wird.

Hans-Christian Petersen in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 55 (2006) H. 4, S. 622/3

 

»Ein Warschauer Karussell lässt am lauen Frühlingsabend Paare nach oben in den heiteren Himmel fliegen, derweil beschwingte Klänge flotter Schlagermelodien die Salven hinter der Ghettomauer dämpften«, heißt es in »Campo di Fiori«. Nicht als Hommage an Giordano Bruno, sondern als Widerhall eines bizarren Spektakels waren Czesław Miłosz’ berühmte Verse aus den Oster-/Pessachtagen in Warschau 1943 gedacht. Das Gedicht symbolisiert Gleichgültigkeit und Empathiemangel angesichts der Tragödie hinter den Ghettomauern. Schaukelnde schnappten in ihren Gondeln nach »Fetzen schwarzer Rauchdrachen« aus brennenden Häusern, während der vom Ghetto her wehende Wind so manchen Rocksaum zur Belustigung der Menge aufblies. Am Ende ringt Miłosz nach Worten: »(…) den Untergehenden, Einsamen, bereits von der Welt vergessen, ist ihnen unsere Sprache fremd, als wär sie vorsintflutlich«.
Wochen zuvor, am 7. Februar 1943, entkam Frederick Weinstein (F.W.) dem drohenden Untergang des größten NS-Ghettos und setzte seinen Überlebenskampf fort, der ihn in den dreißig Monaten zuvor wie auch die kommenden zwanzig Monate bis zur Befreiung häufig zum Seiten- und Identitätswechsel zwang. Darüber führte er in seinem Kellerversteck, aus dem er Anfang August 1944 erstmals wieder herauskam, Aufzeichnungen, die dank ausgezeichneter editorischer Arbeit von Barbara Schieb und Martina Voigt als
Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939–1946 nunmehr vorliegen. Der Titel führt analog zu einem anderen Werk der Holocaustliteratur, den Aufzeichnungen aus einem Erdloch von Jakob Littner. Als »Einstieg in die Unterwelt« sah es Littner, dort hinabzusteigen, doch: »Es war unser Loch (…) unser Versteck. (…) unsere Rettung.«
Der Verfasser, Frederick Weinstein, 1922 in Biała-Podlaska als Fryderyk Winnykamień geboren, lebt seit 1946 New York.
Nach Kriegsausbruch flieht die Familie vor Hitlers Truppen und wird wenige Tage später unweit von Łódź von »modernen Hunnen« eingeholt. F.W. wird erstmals Zeuge und Opfer der Suche deutscher Spontantäter nach »einer billigen, sadistischen Unterhaltung«. Von nun an werden Befehl, Erniedrigung, physische Gewalt, Entzug jeglicher Existenzgrundlage, Freiheitsberaubung und Morddrohung zur
lingua franca deutscher Besatzer gegenüber Juden. Weinstein wird fast kahl geschoren und mit einem »Kranz der Schande« als vorläufigem Judenstern entlassen. In Łódź, wohin die Familie zurückkehrt, verbreiten die neuen Herrscher Angst und Schrecken. Mal wird vor seinen Augen ein Mann erschossen, dann werden auf »allen großen Plätzen der Stadt (…) große Galgen aufgestellt, und in der Nacht häng(t)en die Schwaben Leichen daran auf, fünf an jedem Galgen, mit den Beinen nach unten.« Doch auch polnische Antisemiten nutzen die Gunst der Stunde. Auf die von polnischer bzw. »arischer« Seite ausgehende Dauergefahr für Juden – insbesondere mit illegalem Aufenthalt außerhalb der Ghettos und Judenwohnbezirke – geht F.W. mehrfach in seinen Schilderungen explizit ein. Er rechnet schonungslos mit seinen ehemaligen Landsleuten ab, obschon einige Polen zum Überleben der Familie heldenhaft beigetragen haben.
Für F.W. wird die Bedrohung durch Kollaborateure, Erpresser und Menschenjäger, die Juden zur begehrten Beute und Einnahmequelle umgewidmet haben, eine ständig wachsende Gefahr, insbesondere auf der »arischen Seite«, wie seinen dramatischen Schilderungen zu entnehmen ist. Verbunden mit der permanenten Angst vor der Enttarnung und Auslieferung an die NS-Henker, ist dies ein wiederkehrendes Motiv im Werk von F.W. Darin werden nicht nur die Grenzen der (menschlichen) Sprache angesichts dieser Tragödie sichtbar, sondern Schwingungen einer Stimmgabel gegen die Illusion harmonischer Anklänge vom »einst vergossenen Blut im Kampf gegen den gemeinsamen Feind« unüberhörbar.
F.W. und seine Familie fügen sich nicht ergeben dem Schicksal und nutzen selbst engste Spielräume, um ihre Lage zu stabilisieren bzw. Gefahren möglichst aus dem Weg zu gehen.
Die Juden Polens waren dreifach bedroht: durch den NS-Besatzungs- und Vernichtungsapparat, die polnischen Kollaborationsorgane und einen Großteil der antisemitisch geprägten Bevölkerung sowie durch Funktionäre jüdischer Verwaltungs- und Polizeiorgane, wie Judenräte, Ordnungsdienste und Arbeitsämter. Die Darstellung des mehrere Jahre andauernden Überlebenskampfes erhält den Stellenwert einer Primärquelle durch die präzisen, teils tagebuchartigen Aufzeichnungen von F.W.
Folgt man der Ansicht der Herausgeberinnen, die den Gniewoszów-Teil als »Quellentext zur Lage der Juden in einem abgeschiedenen polnischen Provinzort (mit etwa 5000 jüdischen Flüchtlingen, A.B.) vor Beginn der eigentlichen Massenmorde« bezeichnen, so sind die nachfolgenden Teile, die den Zeitraum Juni 1942 bis Anfang Februar 1943 sowie Dezember 1943 bis August 1944 umfassen, nicht minder konstitutiv als Quellenmaterial zur Erforschung der damaligen Ereignisse. In diesen Zeiträumen sind F.W. und seine Familie mehrfach akut gefährdet und entgehen dem Verrat sowie den Vernichtungsdeportationen wie durch eine Kette von Wundern.
Anfang Juni 1944 begann F.W., wie er es ausdrückt, »grundsätzlich über meine eigenen Erlebnisse zu schreiben«; die Landung der Alliierten am D-Day veranlasste ihn zur Niederschrift seiner Erinnerungen, da er jetzt an einen »Anfang vom Ende« zu glauben begann. »Denn, was auch immer kommen mag«, leitete er seine Holocaust-Biografie ein, »ich möchte lieber diese Notizen überleben, als dass sie mich überleben.«
Die bis zum August 1939 zurückreichenden Erinnerungen werden teilweise zu einer Erzählung ausgearbeitet, in deren Kern das Leben der Familie in Gniewoszów (Distrikt Radom, Generalgouvernement) vom Oktober 1940 bis August 1942 behandelt wird. Dazwischen lag ein Jahr harten Kampfes um die tägliche Existenz in Łódź, Warschau, Otwock und wieder Warschau, wo die Lage der jüdischen Bevölkerung zusehends schlechter wurde und der Bau der Ghettomauer unmittelbar bevorstand. Kurz bevor in Gniewoszów 1942 die Deportationen beginnen, flieht F.W. zunächst zu Pola, seiner älteren Schwester, ins Warschauer Ghetto. Er findet eine Arbeitsstelle im Ursus-Werk und kann seinen Aufenthalt »legalisieren«, was ihn zunächst vor den beginnenden Deportationen nach Treblinka schützt. Während die Eltern noch von der Deportation in Gniewoszów ausgenommen sind, da der Vater dort Leiter der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe war, werden die Großeltern ermordet, weil sie sich der Transportaufforderung widersetzen. Die jüngere Schwester Rysia kann dem Zugriff der Erpresser nur entkommen, indem sie sich, mit »arischen« Papieren ausgestattet, zur Zwangsarbeit ins Reichsgebiet meldet. Die Eltern, nunmehr Wegen Warschau, wo die Mutter als alleinstehende Katholikin Marianna Gizińska einen Kellerwohnraum anmieten kann. F.W. flieht am 7. Februar 1943 aus dem Warschauer Ghetto und taucht wie der Vater bei der Mutter unter. Fortan leben sie im »inneren Kreis« als Familie, Nachbarn und der Außenwelt sind sie jedoch nicht existent.
In dem Versteck entstehen vier Manuskriptteile, die als Zeitraum August 1939 bis 2. August 1944 umfassen und in polnischer Sprache auf Journalblättern einer Buchhaltungskladde geschrieben wurden. Ein nachträglicher Bericht über den fehlenden Zeitabschnitt vom 7. Februar bis Herbst 1943 entsteht um 1999, als seine Kinder F.W. dazu drängen, nach Jahrzehnten des Schweigens seine Geschichte öffentlich zu machen.
Nach Ausbruch des Warschauer Aufstandes muss das Versteck in der Wolska 54 aufgegeben werden, sodass der letzte Eintrag vom 2. August 1944 datiert. Die Mutter wird zum Sammellager Pruszków getrieben und von dort zur Zwangsarbeit ins Erzgebirge verschleppt. Einige Stunden danach verlässt F.W. mit dem Vater ebenfalls den Zufluchtsort, in dem er zuvor die gesamten Aufzeichnungen wasserdicht verpackt und im Sandboden des Kellerraums vergräbt. Beide geben sich als Evakuierte aus dem Stadtteil aus. Sie entgehen der Verschleppung ins Reichsgebiet und sehen sich nach der Befreiung im Januar 1945 wieder. Auf dem Weg nach Łódź holt F.W. seine Aufzeichnungen aus dem Versteck in dem völlig zerstörten Haus Wolska 54. Am 14. Februar 1945 begeht er seinen 23. Geburtstag in Łódź; kurz danach wird die Mutter befreit. Aufflammender Antisemitismus und Pogrome 1946 treiben die Weinsteins in die US-Zone. Die Eltern bleiben bis 1948 als
displaced persons hier und wandern dann nach Israel ein, F.W. wanderte aus, nach New York, wo er einige Monate später seine Frau Ruth heiratete. Sein Geburtsland Polen hat er nie mehr gesehen.
Seine
Aufzeichnungen aus einem Versteck gehören zu den Dokumenten aus erster Hand, die eine besondere Relevanz im Rahmen der Überlegungen zur sekundären Zeugenschaft im Prozess der Aneignung und der Auseinandersetzung mit Geschichte haben könnten. Weinsteins Holocaust-Vita ist daher große Verbreitung zu wünschen wie auch ein hoher Aufmerksamkeitsgrad vonseiten verschiedener Forschungs- und Wissenschaftsdisziplinen, da sich das Werk dank der enormen Erschließungsleistung der Herausgeberinnen für weitere Interpretationsbemühungen anbietet. Es würde die radikale Isolierung und die absolute Singularität des Zeugen und Chronisten Frederick Weinstein insoweit aufheben, als dass es die Leser- bzw. Zuhörerschaft bewegen könnte, die Last der Erinnerungsarbeit durch die als »Zeugenschaft der Vorstellungskraft« verstandene sekundäre Zeugenschaft auf mehrere Schultern zu verteilen. Weinstein schrieb »nicht zuletzt zur mentalen Selbsterhaltung«.
Damit wären vielleicht auch die »Risiken der Enthüllung« – wenn das Bedürfnis, über traumatische Erinnerungen zu sprechen, und das Bedürfnis, der Gewalt der Affekte, die traumatische Erinnerungen freisetzen, zu entgehen, miteinander kollidieren – einigermaßen begrenzbar. Diese Enthüllungsrisiken wurden auch für Weinstein im Zuge der Editionsarbeit manifest.
Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich F.W. sehr bewusst für eine deutsche Originalausgabe seiner Aufzeichnungen entschieden hat, deren kongeniale Übertragung aus dem Polnischen von Jolanta Woźniak-Kreutzer besorgt wurde.
Andrzej Bodek im »Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust« des Fritz-Bauer-Instituts, Nr. 30/2007

Eben noch waren in Polen Sommerferien, und die Schüler haben fröhlich Sonnenblumen gepflückt. »Das ist vielleicht läppisch und nicht erwähnenswert«, wendet Frederick Weinstein in seinen »Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939–46« ein, »aber in meiner Erinnerung verbinden sich diese Vorgänge sehr eng mit den ersten Nachrichten vom Ausbruch dieses fatalen Krieges, und deshalb muß ich, ob ich will oder nicht, davon erzählen.«
Kaum jemand ahnt am Vormittag des 1. Septembers 1939 in Polen, welche Hölle schon in wenigen Stunden über alle Bürger – und besonders die Juden – hereinbrechen wird. Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Deutschen kommen, und in Weinsteins Aufzeichnungen, die er in einem dunklen Warschauer Kellerversteck jenseits der Gettomauern am 9. Juni 1944 als 22-Jähriger begann, heißen sie »Germanen«, »Barbaren«, »Hunnen« oder auch schlicht »Schwaben« (szwab/szwaby ist eine in Polen verbreitete pejorative Bezeichnung für die Deutschen).
Weinsteins Erinnerungen sind eine einzigartige Quelle, ein unschätzbares Dokument und noch dazu so detailgetreu geschrieben, dass man den Text sofort in der Schule lesen lassen könnte, ja müsste: »Es ging und geht Fred Weinstein um Genauigkeit, Anschaulichkeit und Verständlichkeit«, erklärt die Übersetzerin Jolanta Wózniak-Kreutzer in ihrem Vorwort der vorbildlich kommentierten Edition. »Handlungen sollen nachvollzogen und Gefühle, wenn irgend möglich, nachempfunden werden können«.
Es ist jedoch kaum fassbar, unter welchen lebensbedrohlichen und unmenschlichen Bedingungen Weinstein seinen Text verfasste. In einem winzigen, lichtlosen Raum vegetierte er zusammengepfercht mit seinen Eltern und schrieb seine Rückschau auf die vergangenen fünf wie durch ein Wunder überlebten Jahre auf Altpapierbögen nieder. Ermutigt von der Nachricht der beginnenden Invasion der Alliierten begann er auf eine Zukunft zu hoffen und wollte Zeugnis ablegen, zu Ehren »der stillen Helden […], die aus den Händen der Hunnen des 20. Jahrhunderts einen furchtbaren Tod empfingen«.
Einmalig an der mit finanzieller Hilfe der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur realisierten Ausgabe ist, dass ihr Verfasser noch lebt. »Das ist etwas Besonderes«, bemerken die Editorinnen Barbara Schieb und Martina Voigt in ihrer Einleitung. »Denn die bekannten, noch in der Zeit des Holocausts abgefassten autobiografischen Schriften von Juden stammen zumeist von Autoren, die den Völkermord nicht überlebt haben – man denke an Anne Frank, die 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen kurz vor der Befreiung starb.«
Die Historikerinnen konnten nicht zuletzt mit Hilfe des Autors einen akribischen Fußnotenapparat erstellen, der die heutigen Lesern möglicherweise unwahrscheinlich vorkommenden Gräuel, von denen Weinstein berichtet, genauer datiert und Punkt für Punkt belegt: »Frederick Weinstein begleitete den Editionsprozess von Anfang an und stellte sich während dreier persönlicher Begegnungen und in kontinuierlichem E-Mail-Verkehr den von ihm oftmals als endlos empfundenen Fragen«, heißt es im Vorwort. »Er war an mehreren Tagen im Oktober 2002 zu einem sechzehnstündigen lebensgeschichtlichen Interview in New York bereit«, das in die historiografischen Kommentierungen seiner Aufzeichnungen mit eingeflossen sei.
Dabei muss man sich klarmachen, dass der Autor das Manuskript sein Leben lang sorgfältig aufbewahrt hatte, ohne die Kraft zu haben, seine Handschrift auch nur längere Zeit anzusehen. Dadurch drohten die furchtbaren Erlebnisse, von denen er sich nach Kriegsende emotional hatte distanzieren können, wieder hochzukommen. War der rauschhafte Schreibprozess, den Weinstein selbst als »outburst« und Hilfsmittel zur mentalen Selbsterhaltung im Versteck erinnert, Teil seines Überlebenskampfes, so war ihm ein späterer Rekurs auf die festgehaltenen Traumata kaum noch möglich: »Erst nach fast sechzig Jahren willigte er ein, die Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zu übergeben«, schreiben die Herausgeberinnen. »Die enorme seelische Anstrengung, die dies für ihn bedeutet, sollte auch der Leser nicht vergessen.«
Der Duktus des Überlebensberichts ist in Anbetracht der grauenhaften Erlebnisse, die er wiedergibt, erstaunlich stringent. Die Erzählung baut dabei eine Atmosphäre permanenter und qualvoller Lebensbedrohung auf, die für den Leser manchmal kaum zu ertragen ist. »Als ich damals die Ereignisse beschrieb, fast zeitgleich oder nur kurze Zeit später, da stoben die Worte nur so aus meinem Kopf heraus«, erinnert sich Weinstein im Frühjahr 2006, »und ich stand noch völlig unter dem Eindruck all der Greuelszenen und des menschlichen Leidens um mich herum«. »Im ganzen haben die Überprüfungen gezeigt«, ergänzen die Kommentatorinnen im Vorwort, dass Weinstein »seine Aufzeichnungen mit großer Präzision und Wahrheitsliebe geschrieben hat«. Diese Authentizität der geschilderten Ereignisse zieht den Leser atemlos durch den Text, und oft blättert man zum Anhang vor, um weitere Quellenbelege für die erinnerten deutschen Kriegsverbrechen fassungslos zur Kenntnis zu nehmen.
Weinstein beschreibt die kopflose Flucht seiner Familie vor der heranrückenden deutschen Wehrmacht. Schon in der ersten Nacht nach Beginn der Invasion gerät sie auf der überfüllten, größtenteils von hilflosen Zivilisten verstopften Straße in ein Bombardement deutscher Kampfflieger. »Nach der ersten Explosion entstand ein unbeschreibliches Chaos, die Bombe war etwa 120 Meter von mir entfernt direkt neben der Straße eingeschlagen […]. Die Detonation war sehr stark, eine mächtige Säule aus Schutt und Steinen schoss auf, mehrere Dutzend Meter hoch, als wäre ein Vulkan ausgebrochen, und zwischen den Erdmassen konnte man Zweige und Äste, Deichseln und Wagenräder und menschliche Gliedmaßen erkennen.«
Spätestens bei der wenig später folgenden Beschreibung – in der Weinstein von einem Erlebnis auf der Landstraße nach Lódz berichtet, als er und seine erschöpfte Familie an betrunkenen Volksdeutschen vorbeikommen, die die von ihnen mit Wodka abgefüllten Wehrmachtssoldaten anfeuern, den vorbeilaufenden Juden etwas anzutun – wird die Lektüre beinahe unerträglich. Man kennt die Fotos lachender NS-Rekruten, die Juden umringen, um ihnen höhnend den Bart und die Haare abzuschneiden – aber ein solches Erlebnis aus der persönlichen Perspektive eines Opfers heraus hautnah geschildert zu bekommen, macht seine vollkommene Hilflosigkeit gegenüber den zynischen Späßen betrunkener deutscher Massenmörder in seltener Weise nachfühlbar. Bei Weinstein ist das alles nur der Auftakt; es sind die ersten Schocks, die dem Erzähler klar machen, dass er wahrscheinlich bald getötet werden wird. In seinem Bericht aber geht der Alptraum immer weiter.
Im Grunde müsste man die ersten Abschnitte dieses 1945 aus den Trümmern des zerbombten Warschauer Verstecks geretteten Konvoluts komplett zitieren. Man sollte aus Weinsteins Buch in Deutschland auf einer Lesetour öffentlich vortragen, um ein Gegengewicht gegen die Guido-Knopp-mäßige Propaganda für eine aufrechnende Betrauerung deutschen Opfertums zu setzen, die den Diskurs deutscher Erinnerungspolitik neuerdings wirkungsmächtig bestimmt. Statt pompöser, mit Millionenbudgets verfilmter Einfühlungen in den »Untergang« Adolf Hitlers und seiner Entourage, die die Massen vom Schüler bis hin zum Universitätsprofessor begeistert in die Kinos strömen lassen, sollte man die vergilbten Tintenzeilen von Opfern wie Weinstein wenigstens einmal in deutschen Bildungsanstalten zur Kenntnis nehmen, um ihnen zu ihrem historischen Recht verhelfen.
Auch ein viel gelobter Faktencollageur wie Walter Kempowski, der in seinem neuen Roman »Alles umsonst« (2006) von der deutschen Flucht aus Ostpreußen berichtet, sollte Weinsteins Erinnerungen unbedingt lesen. Vielleicht führt eine solche Lektüre ja dazu, dass er sein nächstes Buch den Verbrechen widmet, die der sowjetischen und alliierten Befreiung des nationalsozialistisch besetzten Territoriums voraus gingen und alles Spätere auslösten: Bei Weinstein jedenfalls wird das maßlose und nicht enden wollende Entsetzen plastisch, das der beginnende deutsche Vernichtungskrieg nach Polen brachte, um seine blutige Spur bis tief in die Sowjetunion hinein zu ziehen und Millionen von Menschen als Sklaven zu schinden, zu foltern und schließlich auszulöschen.
Weinsteins Erinnerungen sind ein Meilenstein der Literatur Shoah-Überlebender. Sie stehen – allein schon aufgrund ihrer abenteuerlichen Entstehungs- und Tradierungsgeschichte – auf einer Ebene mit Berichten und Büchern wie denen Tadeusz Borowskis, Primo Levis, Imre Kertész' oder auch Edgar Hilsenraths. Gewiss: Weinstein ist kein professioneller Schriftsteller, der sich mit zeitlichem Abstand der bedachtsamen literarischen Aufarbeitung seiner Traumata stellte. Weinstein schrieb seine Erlebnisse unmittelbar auf, um durchzuhalten. Und er wollte seine Notizen lieber überleben, »als dass sie mich überleben – und dann weiterexistieren als Symbol dieses elenden Daseins«, wie er 1944 ein der Einleitung zu seinen Notizen notierte. Weinstein verfasste seine Erlebnisse inmitten der Shoah mit dem Anspruch, ein wahrhaftiges Zeugnis vom Leid seiner Mitmenschen, von sich und seiner Familie zu geben – nicht mehr und nicht weniger.
Besonders aber ist in seiner Schrift die – am Ende fast nur noch stichwortartige – Direktheit, mit der der Autor seinen Leidensweg geschildert hat.
Jan Süselbeck in »literaturkritik.de« Nr. 3, März 2007

»Jeden Tag, jede Stunde rechnete man mit dem Geheimnisvollen, Gefährlichen, Unvorstellbaren, für das man den Begriff ›Aussiedlung‹ verwendete – als hätte sich irgendein dummer Verstand nicht eine noch mildere Bezeichnung ausdenken können für diesen grauenvollen Massenmord, für das Verbrechen, das jeden Augenblick beginnen konnte«, so beschrieb Frederick Weinstein die Stimmung im Warschauer Ghetto im Juli 1942. Wenige Tage später begannen die Deutschen, die größte jüdische Gemeinde Europas auszulöschen. Die Aufzeichnungen Weinsteins, der 1922 im ostpolnischen Biała Podlaska als Fryderyk Winnykamien geborenen wurde und heute in New York lebt, sind ein außergewöhnliches Zeugnis für die Schicksal der polnischen Juden. Mit seinen Eltern – der Vater war Zahnarzt und hatte nach dem Ersten Weltkrieg zeitweise in Bremerhaven gearbeitet – überlebte er die deutsche Besatzung zunächst in Lodz, dann in Gniewoszów und schließlich im Warschauer Ghetto. In einem Keller außerhalb der ›Todeskiste‹, in der eine hafte Million Juden eingesperrt waren, erfuhr Weinstein von der endgültigen Zerstörung des Ghettos. Im Versteck begann er seine Aufzeichnungen, die von Barbara Schieb und Martina Voigt sorgfältig kommentiert und durch ein ausführliches Interview mit Weinstein ergänzt wurden. Die Chronik dokumentiert eindringlich die Verfolgung, aber auch Weinsteins Überlebenswillen und seine bittere Enttäuschung über die Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheit der polnischen Gesellschaft auf das Schicksal der Juden reagierte.
Andreas Mix in »Berliner Zeitung« vom 19. Februar 2007

»Dieser Glaube an die baldige Befreiung lässt mich eben schreiben.« Mit diesen Worten begründet Frederick Weinstein, wieso er im Juni 1944 anfängt, seine Erlebnisse der letzten Jahre niederzuschreiben. Er beginnt die Niederschrift in einem Kellerversteck in Warschau, in dem er nach seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto im Februar 1944 Zuflucht gefunden hat. Es entsteht ein eindrucksvoller, detaillierter und emotionaler Bericht, der Not und Leid einer Einzelperson aufzeigt und gleichzeitig so viel Gemeinsames hat mit den vielen Schicksalen der Menschen von denen keine Überlieferungen existieren. Mehr als sechzig Jahre nach Weinsteins Entschluss, die Ereignisse festzuhalten, wird mit dem vorliegenden Buch ein einzigartiges Zeitdokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Frederick Weinstein wird 1922 in einer gebildeten, assimilierten jüdischen Arztfamilie geboren. 1939, zum Zeitpunkt der Besetzung Polens durch die Deutschen, hat Weinstein die dritte von vier Klassen einer Fachoberschule für Mechanik beendet und strebt nach Beendigung der Schule einen akademischen Beruf im technischen Bereich an. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Die gesamte Familie Weinstein muss vor der deutschen Armee zunächst von Lodz nach Warschau fliehen, um schließlich, nach Stationen in zwei im Umkreis von Warschau liegenden Dörfern, im Juni 1942 wieder nach Warschau zu kommen – diesmal in das in der Zwischenzeit entstandene Ghetto. Die Szenen dieser Flucht mit Bombardierungen der Flüchtlings-Trecks, die ganze Straßenzüge innerhalb von wenigen Minuten in ein Inferno verwandeln, sowie die Beschreibungen des alltäglichen Überlebenskampfes im Warschauer Ghetto sind von beklemmender Eindringlichkeit.
Frederick Weinsteins Aufzeichnungen, die sachlich und nicht literarisch beschreiben, bestehen aus zwei Teilen: Einem erzählenden Teil, der von Herbst 1939 bis Juni 1942 reicht und sich durch die Ansprache zukünftiger Leser als eine Mitteilung an die Außenwelt verstehen lässt und einem Teil mit Notizen und Tagebucheinträgen, der im Juni 1942 anschließt und mit seinem letzten Eintrag vom 2. August 1944 endet. Dieser zweite kürzere Teil ist nicht komplett ausformuliert und enthält knappe stichwortartige Anmerkungen zu Ereignissen, die auf eine später geplante Ausformulierung schließen lassen. Durch den telegrammähnlichen Stil erhalten diese Einträge eine sehr authentische Wirkung.
Innerhalb der Erinnerungsliteratur nehmen die Aufzeichnungen von Frederick Weinstein also nicht nur durch den explizit adressierten Leser eine Sonderstellung ein, sondern auch durch ihre Zeitnähe im Gegensatz zu vielen anderen Aufzeichnungen, die lange nach 1945 notiert wurden. Zu vielen politischen und militärischen Begebenheiten konnte Weinstein den Hintergrund in seinem Versteck nicht wissen – weshalb ein umfangreicher Anmerkungsteil die Edition ergänzt –, er ahnte aber in vielen Fällen das Unheil voraus. Ein weiterer Unterschied zu vielen Erinnerungswerken ist, dass Weinstein als Überlebender des Nationalsozialismus an der Edition seiner Aufzeichnungen mitwirken konnte.
»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten.« Unter diesem Zitat sind die Tagebücher Victor Klemperers erschienen, ein Titel, der auch über Frederick Weinsteins Erinnerungen stehen könnte. Erinnerungen eines jungen Mannes, denen viele Leser zu wünschen sind.

Janne Schumacher in »Das politische Buch«, Nr. 4/5 vom Januar 2007

Es gibt viele Berichte über das Leben und Sterben im deutsch besetzten Polen zwischen 1939 und 1944. Nur wenige Überlebende können es so anschaulich, detailliert, schonungslos, auch selbstkritisch und insgesamt authentisch schildern wie Frederick Weinstein. Der 1922 geborene Sohn einer jüdischen Arztfamilie versteckte sich 1943 und 1944 in einem Keller in Warschau, um der Judenverfolgung zu entkommen. In einer Atmosphäre ständiger Bedrohung, anhaltender Einsamkeit und vager Hoffnung auf Befreiung verfasste er ausführliche Erfahrungsberichte seiner Erlebnisse seit der Besetzung Polens im September 1939. Sein Weg führte ihn von Lodz nach Warschau und schließlich in das dortige Ghetto. Im Sommer 1942 begannen die Massendeportationen in das Vernichtungslager Treblinka. Durch die Arbeit in einem Rüstungsbetrieb konnte Weinstein der Deportation entgehen und erneut in das Kellerversteck jenseits der Ghettomauern fliehen. Als sich 1944 die Befreiung abzeichnete, verstand sich Weinstein mehr denn je als Chronist der erlittenen und beobachteten Verfolgungen.
Im gesamten Text seiner Aufzeichnungen manifestiert sich die dreifache Bedrohung, der sich der Autor ausgesetzt sah: durch die deutschen Besatzer, die nichtjüdischen Polen und die Funktionäre der Judenräte. Zu Recht weisen die Herausgeberinnen in ihrer scharfsinnigen Einleitung darauf hin, dass das traditionell konfliktreiche, durch christlichen Antijudaismus und tiefgreifendes Misstrauen belastete Verhältnis zwischen Juden und Polen wie ein roter Faden die Aufzeichnungen durchzieht. Weinsteins bisweilen heftige Kritik an der Indolenz christlicher Mitbürger resultierte aus seiner Enttäuschung darüber, dass viele Polen, obwohl selbst Opfer der Besatzungsherrschaft, ihre jüdischen Landsleute in der Zeit der Verfolgung nicht nur nicht schützten, sondern sich opportunistisch verhielten, indem sie die judenfeindlichen Bestimmungen zu ihrem eigenen Vorteil nutzten. Die antisemitischen Strömungen im Nachkriegspolen bewogen Frederick Weinstein 1946, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Seine Aufzeichnungen sind ein document humain ersten Ranges, empfehlenswert für alle historisch interessierten Leser.
Hans-Jürgen Döscher in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 25. Januar 2007

 

[…] Frederick Weinstein blieb freilich keine Zeit für irgendwelche Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Er begriff sofort. Im September 1939 in Lodz, als ein deutscher Flieger einen Juden vor seinem Fenster erschoss. »Der Mörder verließ mit ruhigen, langsamen Schritten den Hof.« Ohne jeden Grund hatte dieser Soldat sein Opfer aus dessen Laden gezerrt und getötet. »Da habe ich verstanden«, erinnert sich Weinstein, »dass wir, die Juden, von nun an völlig rechtlos und den Mördern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.« Weinsteins .»Aufzeichnungen aus dem Versteck« belegen erbarmungslos authentisch, was es hieß, dem totalen Terror ausgeliefert zu sein. Die belletristischen Nischen, in denen sich Willy Cohn zumindest vorübergehend Trost verschaffen konnte, gab es für den 20jährigen Zahnarztsohn Weinstein nicht. Sein Schicksal war Vertreibung und 1942 das Ghetto von Warschau, war Zwangsarbeit im Rüstungswerk »Ursus«, war schließlich das Untertauchen in einem Keller. Hier überlebte er. Hier brachte er zu Papier, was so bislang noch nicht zu lesen war, fortan an aber gelesen werden muss. Ein Solitär der Erinnerungsliteratur.
Frank Kallensee in »Die Märkische« vom 30. September 2006