Barbara Felsmann und Annett Gröschner (Hg.)
Durchgangszimmer Prenzlauer Berg
Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften

 

Interessierte Besucher unserer gut sortierten Buchhandlungen werden diesen Band schon gesehen und darin geschmökert haben. Denn nirgendwo sollte sich dieses Buch so heimisch fühlen wie hier. Dabei ist »Durch­gangszimmer Prenzlauer Berg« kein Werk, das man in einem Rutsch durchliest. Nicht nur, weil es mehr als 450 Seiten umfängt, sondern weil die (Lebens-)Geschichten, die einem daraus entgegenprallen, nachwirken. Man muss sie setzen lassen. Unabhängig, ob der Leser mit Prenzlauer Berg, dem damaligen, vertraut ist oder nicht. Das Buch erfordert Muße. Doch der Leser wird belohnt, mit einem aufschlussreichen Zeugnis einer vielbesprochenen, einer geradezu mythologisierten Zeitzone.
Worum geht es? Das Buch versammelt mehr als zwanzig Gesprächsprotokolle von aktiven und passiven Protagonisten der »Prenzlauer Berg Szene« der 70er und 80er Jahre. Aufgenommen in den Jahren 1997 bis 1999 von den Herausgeberinnen Barbara Felsmann und Annett Gröschner stellen sie für die Gesprächspartner eine Rückschau, eine Art Resümee dar, für den interessierten Leser eine Informationsquelle der besonderen Art.
Je mehr man sich in die einzelnen Lebensgeschichten vertieft, desto offensichtlicher wird, dass es sich bei der »Prenzlauer Berg Szene« keinesfalls um eine homogene Bewegung handelte. Wie in jeder Menschengruppe gab es unterschiedliche individuelle Befindlichkeiten, aus denen Lebensentwürfe und Aktionen erwuchsen. Und doch greift alles ineinander. Die politischen Beschränkungen und Repressalien waren überall gleich, der Umgang mit ihnen und die Suche nach Lösungen vereinte am Ende die unterschiedlichsten Individuen auf mehr als einer Ebene.
So geht es in den Gesprächen auch um politische Untergrundarbeit oder den ausgeprägten Unwillen, den vorgezeichneten sozialistischen Pfaden zu folgen. Doch steht dies nicht im Vordergrund. Nach und nach setzt sich ein Puzzle zusammen, das viel mehr über das tägliche Leben und Miteinander in der DDR erzählt, als es wohlmeinende Geschichten, Museumsschauen oder lehrreiche Aufsätze je tun könnten. Arbeiten, Wohnen, Lieben, Streiten – normale Dinge in einer damals normalen Welt.
Bekannte und unbekannte Namen befinden sich unter den Gesprächspartnern, darunter die Fotografin Tina Bara, der mittlerweile ver­storbene Künstler Peter Brasch, der spätere Bezirksbürgermeister Burkhard Kleinert, die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe und der Schrift­steller Peter Wawerzinek.
Rund 13 Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage hat sich der Lukas Verlag aus der Kollwitzstraße nun zur Herausgabe der zweiten Auflage entschlossen. Mit Recht, mag man ergänzen, denn die Gesprächsprotokolle haben nichts von ihrer Bedeutung und ihrer Wucht verloren. Sie liefern jene Authentizität, Atmosphäre und Informationsdichte, die es zur Erfassung des Phänomens »Prenzlauer Berg« so dringend braucht.
Stefanie Käsler, in: Berg.Link (Menschen. Projekte. Kiez. Das Magazin für Prenzlauer Berg), November 2012

 

Den Anlass dafür, dass sich Autoren und Verlag entschlossen, eine »Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften« (wie der Untertitel des Buches lautet) herauszubringen, gab eine unzulängliche Ausstellung im Deutschen Historischen Museum: »Der musealen Ungenauigkeit infolge abstrakter Auswahlkriterien und pauschalisierender Interpretationen wurde nun mit der Authentizität persönlicher Erfahrungen zu begegnen versucht.«
Tatsächlich werden in den Erlebnisberichten einige Legenden zurechtgerückt. Dabei wird Wert auf die Zeitzeugenschaft gelegt, nicht auf Prominenz – wenn auch einige der Interviewten diese für sich in Anspruch nehmen könnten. Deshalb verzichten die Herausgeber auch auf biografische Angaben – die kann sich der Leser anhand der persönlichen Schilderungen unschwer selbst zusammensetzen. Fast alle Zeitzeugen hatten irgendwann in ihrem Leben etwas mit Kunst oder Medien zu tun, und sie alle liebten ein mehr oder minder unangepasstes Leben (obwohl manch einer auch zumindest zeitweilig in der SED war). Einige hatten gelegentliche Festnahmen oder wochen- und monatelange Haft zu erdulden. Aber ebenso gab es für fast alle die Lebensfreude, die sich gerade in Prenzlauer Berg für die, die etwas anders sein wollten, einstellte, verbunden mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen. Die meisten wollten nicht in den Westen, sondern eine freundlichere DDR. Unter ihnen sind Filmemacher wie Mario Achsnik, Jörg Foth und Heiner Silvester, Schriftsteller wie Bert Papenfuß, Richard Pietraß und Peter Wawerzinek, auch die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe ist dabei. Viele von ihnen sehen die Entwicklung nach 1990 – nicht nur, was die Struktur des Prenzlauer Bergs betrifft – kritisch. Peter Brasch (gest. 2001), dessen kleine Schwester Marion in diesem Jahr ihr Erinnerungsbuch »Ab jetzt ist Ruhe« herausbrachte, sagt rückblickend: »Also es war keine Diktatur, es war eine Diktatrie, und was wir jetzt haben, ist eine Demokratur, was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft.«
Barbara Felsmann und Annett Gröschner geben ihren Zeitzeugenberichten Überschriften, die schon viel erzählen: »Wir waren irgendwie so fröhliche Außenseiter« (Wolfgang Krause), »Ich war nie bei einer Lesung in der Schönfließer Straße« (Grischa Meyer), »Prenzlauer Berg garantiert mir ein Maß an Unzufriedenheit, das ich brauche« (Bert Papenfuß), »Es war nie so, daß wir zwei kunstbeflissene Damen dargestellt hätten« (Elke Erb und Brigitte Struzyk). Es wird nicht nur auf ein Register verzichtet, auch auf eine Begriffs- und Abkürzungserklärung. Man setzt auf den mündigen Leser. Dafür verfügt die Neuauflage über zwei hervorragende Fotostrecken von Robert Conrad (»Häuser«) und Barbara Metselaar Berthold (»Menschen«) …
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F.B. Habel, auf: Das Blättchen, 22. Oktober 2012

Was haben die Bürgerrechtlerin und heutige Brandenburger Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen Ulrike Poppe und das SED/PDS/Linkspartei-Mitglied sowie Pankower Bürgermeister a.D. Burkhard Kleinert gemeinsam? Die Antwort ist etwas überraschend – eine Vergangenheit in der Prenzlauer Berger Boheme.
Vor 15 Jahren interviewten die beiden Autorinnen Annett Gröschner und Barbara Felsmann 28 auskunftsfreudige Männer und Frauen, die sie als Protagonisten der Ostberliner Szenen ausgemacht hatten, zu ihrem Leben im Prenzlauer Berg der DDR. Neben so politischen Akteuren wie Poppe und Kleinert waren auch viele Künstler darunter, wie der Regisseur Peter Brasch, der Dichter Bert Papenfuß oder die Holzgestalterin Franka Silberstein. Die erteilten Selbstauskünfte waren so klischeehaft wie authentisch: »Es wurde unendlich viel gesoffen. Alkohol und Sex waren prägende Elemente dieses Alltags«, erinnerte sich zum Beispiel der Regisseur Heiner Sylvester. Und die Malerin Petra Schramm schwärmte: »Wir besorgten uns schöne Kleider, saßen in Cafés rum, besuchten Leute und redeten unendlich viel«.
Gröschner und Felsmann haben die Gesprächsprotokolle 1999 in dem Buch »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« veröffentlicht. Es verschafft mit den vielfältigen Reflektionen über Wohnung und Kneipe, Arbeit und Ausreise, Kunst und Politik zum Teil recht intime Einblicke, gibt Zeugnis, wie unprätentiös letztlich das Leben hinter den grauen, zerblätterten Fassaden in den 70er und 80er Jahren in Prenzlauer Berg war.
Nachdem das über 500 Seiten starke Werk seit Jahren restlos vergriffen war, hat jetzt der Verleger Frank Böttcher eine zweite Auflage herausgebracht. Das Buch trifft diesmal auf eine potenzielle Leserschaft, die so gar nicht mehr die Sozialisation in der DDR erfahren hat. Böttcher preist es darum, bereits ganz dem neuen Sprachduktus angepasst, als »bedeutendes Oral-History-Dokument der ostdeutschen und Berliner Geschichte«. Und er bebildert den Band mit Fotos von Barbara Metselaar Berthold und Robert Conrad. Diese zeigen zwar so gar nicht das Flair der damaligen Boheme – wunderschön sind sie trotzdem.
Wer wissen will, wo Prenzlauer Berg seinen Ruf als Heimstatt der Unangepassten herhat, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Hartmut Seefeld, in: Vor Ort, Mai 2012

 

Diese letzte Hülle, die sich der Prenzlauer Berg vor zehn Jahren abgestreift hat, ist die, die heute am wenigsten sichtbar ist, weniger als Kaiserzeit, Weltkriege und DDR. Als vor zehn Jahren die »Sklaven«-Autorin und Prenzlauer-Berg-Chronistin Annett Gröschner ihre umfangreiche Dokumentation »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« veröffentlichte, da nannte sich eine neueröffnete Kneipe am Helmholtzplatz schon »Wohnzimmer«. Zwei Jahre später wurde der ehemalige Bezirk Prenzlauer Berg zum Großbezirk Pankow zwangsgetauft. Der aufgegebene antibürgerliche Stadtteil vereinigt mit dem kleinbürgerlichen Apparatschik-Idyll der Grotewohls und Krenz'! Prenzlauer Berg sei bei den Gartenzwergen angekommen, schrieben die ehemaligen »Sklaven«-Autoren mit bitterem Witz.
Antje Schmelcher; in: FAZ, 3. Januar 2010

 

Die Autoren fangen gut das Milieu im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg ein. Jahrbuch Extremismus und Demokratie 2000

 

Erinnerungen an bohemehafte Zeiten in Ost-Berlin. Unsentimentale Auskünfte darüber, was mit der DDR verlorenging. Und Einblicke in wilde Liebes- und Familienbeziehungen, die im Westen so nicht üblich waren. Gregor Dotzauer im »Tagesspiegel« vom 06.12.2000 (Tagesspiegel-Autoren empfehlen Bücher zu Weihnachten)

 

Der Prenzlauer Berg ist kein Phantom. Nicht der nördlich des Alexanderplatzes ansteigende Berg, der die Höhe eines Hügels hat, wie dies im Brandenburgischen üblich ist, wenn von Bergen gesprochen wird. Kein Phantom ist der real existierende, dichtbesiedelte, viertkleinste Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Das Phantom ist der »Prenzlberg«. Das Phantom ist eine Erfindung des west-deutschen Feuilletons. Seit gut anderthalb Jahrzehnten geistert das Phantom durch die Medien. Da die meisten Schreiber zumeist Abschreiber sind, die meisten Redner zumeist dem Vorredner nachplappern, wird die Gefahr eher größer denn geringer, daß sich in den Annalen der Historie, der Kunst, der Literatur, das propagierte und popularisierte Phantom etabliert. Den bisher versuchten redlichen und sachlichen Bemühungen zum Trotz, den Weihrauchnebel vom Prenzlauer Berg abzuziehen, um Klarsicht zu ermöglichen, damit auch Übersicht gewonnen werden kann. Zur Wirklichkeitsfindung haben Peter Böthig und Klaus Michael mit dem gemeinsam organisierten Band MachtSpiele beigetragen sowie Peter Böthig mit seiner Monographie Grammatik einer Landschaft . Die Annäherung der Herausgeber-Autoren an die tatsächliche Wirklichkeit der Literaturlandschaft Prenzlauer Berg – sowie ihres gesellschaftlichen Umfelds – hat bei weitem nicht die Achtsamkeit bekommen, die dem aufgeblasenen Phantom galt und gilt. Das hat einen triftigen Grund. Mächtige Stimmen des westdeutschen Feuilletons sind die Macher und Mitläufer des Phantoms. Das Phantom »Prenzlberg« ist eine Dichtung, die den Dichtern des Prenzlauer Bergs ein Denkmal setzen sollte. Also ein Produkt des Personenkults, der, üblicherweise, auch die auf die Sonnenseite holt, die sich gern im Kult suhlen. Anders ausgedrückt: ein Liebesakt von Schreibern der unteren und höheren Ebene. Ein Akt der Gleichgeschlechtlichkeit, dessen sich niemand schämen mußte, solange nicht durchgesickert war, daß es die Liaison mit stasiinfizierten Partnern war. Der Fehler der Feuilletonisten war, auf zu viele falschgemachte Personen zu setzen. Beachtung hatte vor allem das gefunden, was gedruckt und gebunden westwärts geschmuggelt werden konnte. So ließ sich das Phantom »Prenzlberg« gut aufpäppeln. Eine Schimäre, die Schreiber zweier Seiten im stillen Einvernehmen durch die deutsch-deutsche Literaturlandschaft zerrten und das Zirkuspferd priesen und auspreisten. Das, selbstkritisch, einen Beitrag zum Betrug zu nennen, hätte alle Beteiligten Renommee gekostet. Ums Renommee zu retten, leibt und lebt das Phantom munter weiter. Inzwischen ist es zu einer Touristenattraktion avanciert, die kein Berlin-Reiseführer ausspart. So wächst und wächst und wächst die Legende. Vorbeihastende verhinderte Literaten westlicher Provinzen haben den Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg literarisiert und sind dabei glatt auf'm »Prenzlberg« gelandet. Wenn das keine gelungene Denunziation ist. Nicht nur eines Namens!
Daß es neben dem Er-(Ge)-Dichteten des »Prenzlbergs« auch Dichtung gab, die aus dem Prenzlauer Berg kam, wußten alle, die sich nicht nur um die Diskussionsliteratur der DDR kümmerten. Zu den Zugereisten im Prenzlauer Berg, für die Literatur etwas Wesentliches war, zählte so manches kräftige literarische Naturell – von Erich Arendt bis Elke Erb und Adolf Endler. Der Prenzlauer Berg war, wenn man an die sechziger bis achtziger Jahre denkt – und 99 Prozent der Einwohner gewohnheitsgemäß ignoriert, nicht nur der Bezirk mit der höchsten Zuwachsrate an Literaten. Der Prenzlauer Berg, das waren auch die einwohnenden, hinzukommenden Maler, Graphiker, Keramiker, Musiker, Schauspieler, Fotografen und Filmer. Womit nicht gesagt ist, daß die Masse der Bewohner des Bezirks von den Musenkindern profitierte. Aber auch! Wann und wie? In Büchern von Irina Liebmann – Berliner Mietshaus – und in Daniela Dahns Prenzlauer-Berg-Tour steht's geschrieben. Wenn die bunte Truppe der Lokalpatrioten heute meint, die anderen Ostberliner Bezirke waren tot, dann, weil die Stadtbezirksgrenze die von ihnen gezogene Mauer war. Dahinter waren, vom Pankower Lyrikclub bis zum Haus der Jungen Talente, dem Museum für Geschichte, der »Möwe« in Mitte, von den Friedrichshainer Wohnungen des Lutz Rathenow und der des Wilfried Bonsack, in der Tucholskystraße, kreative Kommunikations-Konzentrations-Orte da, die denen des Prenzlauer Bergs verwandt waren. Wird die ständig wechselnde, sich verändernde Kulturszene der zweiten Hälfte der DDR-Zeit in der Hauptstadt der DDR genauer betrachtet und beurteilt, muß die gesamte Stadthälfte gesehen werden. Der in mehrfacher Hinsicht einseitige Blick auf die sogenannte Szene des Prenzlauer Bergs – eine Umschreibung mit der kaum jemand etwas anfangen kann, der »dabei war« – reicht fürs Betrachten und Beurteilen nicht aus. Nachdem die Domäne Dichtung zwar nicht gestürmt wurde, nachdem sie sich im nachhinein als »Domänie« diskreditierte, ist es an der Zeit, differenzierter darzustellen, was und wie der Prenzlauer Berg war, bevor er zum »Prenzlberg« reduziert wurde. Keiner Publikation zum Prenzlauer Berg ist das bisher besser gelungen als dem Band mit dem eindeutigen wie mehrfach deutbaren, dem konkreten wie symbolischen Titel Durchgangszimmer Prenzlauer Berg.
Das ist nicht das Buch zur Legende. Das ist das Buch, das kein Wasser auf die Mühlräder der Legende gibt. Das ist das Buch, das der Legende das Wasser abgräbt. Das Buch blickt in die Bezirke der Kunst im Kunst-Bezirk und darüber hinaus. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg ist eine Durchquerung eines kunstreichen Berliner Stadtbezirks. Das Buch ist eine wortaufwendige Wanderung von Person zu Person, die ein, zwei, drei und mehr Jahrzehnte im und mit dem Prenzlauer Berg lebten. Allzu aufdringlich wird die Sammlung der 23 Selbstschilderungen »Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften« genannt. Man achte auf die Ortsbestimmung! Wo Prenzlauer-Berg-Geschichte ist, ist auch immer Berlin-Geschichte, DDR-Geschichte, deutsch-deutsche Geschichte. Personen-Geschichte ist auch immer Gesellschafts-Geschichte und Zeit-Geschichte. Die Gespräche mit den Auskunftswilligen und -freudigen führten 1997 und 1998 Barbara Felsmann und Annett Gröschner. Was die beiden Herausgeberinnen zustande brachten, ist ein üppiges Lebens-Buch. Üppig in den 23 Monologen. Am magersten im Dialog zwischen Elke Erb und Brigitte Struzyk. Ergiebiger im Dialog der Herausgeberinnen, der den Band abschließt.
Das Buch ist ein Befreiungsschlag. Es ist frei von der Selbstsucht interpretierender Feuilletonisten und Literaturprotegés. Wer sich der mit zusammengepreßten Lippen für die Presse verfaßten Artikel über die Dichter-Domäne erinnert, wirft den aufgehalsten Ballast – spätestens – in der Buchmitte ab. Das Buch ist auch frei von der Selbstdarstellungssucht, also dem Imponiergehabe der selbstinthronisierten und getürkten Prominenten des »Prenzlbergs«. Wem denn heute noch imponieren, da sich auch das Fußvolk der »Szene«-Kneipen verlaufen hat? Selbst die Claqueure des »Prenzlbergs« sind chancenlos. Übereinstimmend wird, fast synchron, formuliert, was der Schriftsteller-Regisseur Peter Brasch in einem Satz zusammenfaßte: »Mit dem Begriff Prenzlauer-Berg-Szene kann ich nicht viel anfangen.« Wenn, dann war die »Szene« eine immer wieder sich schnell wandelnde Spielgemeinschaft. In der spielte die Besetzung abbruchreifer Buden ebenso eine bedeutende Rolle wie der Partnertausch, die Kneipen-Cafe-Wohnungs-Gespräche, Haus-Lesungen und Hof-Ausstellungen, das unaufhörliche Trinken von Tee und Wein, das ewige Nudelessen in allen Varianten und das trotzige Tragen von Jeans und Parka. Das Wesentlichste war, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu geben, wie das jeder jungen Generation entspricht, die nicht die maßgeschneiderten Kleider der Eltern auftragen will. Gemäß dem Motto, das eine Parole im Prenzlauer Berg war: »Wir lassen uns die DDR nicht einimpfen!« Die wenigsten, die im Prenzlauer Berg auftauchten, waren geborene Berliner, die allerwenigsten Prenzlauer Berger. Die meisten stammten aus den Provinzen der DDR, Bezirke genannt, die der DDR-Provinz entkommen wollten. Für viele wurde der Prenzlauer Berg tatsächlich zum Durchgangszimmer in den Westen. Ihre Treue zum Stadtbezirk war ihre Untreue. War Untreue nicht das einzige, immer funktionierende Regulativ der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft im Prenzlauer Berg? War Treulosigkeit nicht das Prinzip des künstlerischen Prenzlauer Bergs? War es nicht jenes regulierende Prinzip, das jene verständlichen wie unverständlichen Treuebündnisse zwischen Person und Person, Kunst und Kunst, Personen und Institutionen ermöglichte? Also die Haltungen und Handlungen des treulosesten aller untreuen Treuen: Sascha Anderson!
Für einige der Auskunftgeber bleibt er der Protagonist des »Prenzlbergs«, der Promoter der erdachten Szene, der Protegierte, der protegierte. Wenn das so ist – so wahr uns Gauck helfe! –, dann ist Anderson der Kopf des Phantoms »Prenzlberg«. Wie in der gewesenen Wirklichkeit, ist der ambitionierte Promotor häufiger im Gerede als entscheidende Integratoren wie Elke Erb und Ekkehard Maaß. Beide hätten gut mit einem eigenständigen Beitrag in die Publikation gepaßt. Offensichtlich wurde nicht ohne Absicht auf viele Hauptstimmen der vermeintlichen »Szene« verzichtet. Das heißt auf Namen, die sich in den Achtzigern den Durchbruch in die Medienöffentlichkeit ermöglichten oder denen der Durchbruch ermöglicht wurde. Auf jene, denen spielerische Darstellung wichtiger war als wahrhaftige Selbstäußerung. Der Vorzug des Buches ist, daß nicht die Tänzer auf der Spitze zur Sprache kommen, sondern das Leben auf den Brettern der Basis, ohne die auch kein Spitzentanz sein kann. Wer und was wirklich Basis und wirklich Spitze war, ist ohnehin noch nicht entschieden. Gesicherte Tatsache ist hingegen, daß DDRler doch ganz schöne Biographien hatten, deren Mangel Volker Braun einst beklagte. Garantiert waren viele DDR-Biographien nicht heftig bewegte und bewegende. Die in Durchgangszimmer Prenzlauer Berg erinnerten Lebensläufe sind voller enormer Auf- und Abschwünge. Sie sind pralle Lebensgeschichten. Vergleichbar in manchem, sind sie unvergleichbare individuelle Geschichten des Lebens, die Teil einer lokalen Region, der Situation und Stimmungen eines Landes sind. Jeder der Beteiligten hat seinen Prenzlauer Berg erlebt und gelebt. Jeder hat seine Interpretation, seine Definition für das, was für ihn Prenzlauer Berg ist. Der Prenzlauer Berg ist für jeden literarisch, künstlerisch, politisch Ambitionierten das, was er im Prenzlauer Berg war und ist. Jeder Selbstporträtist porträtiert auch den Prenzlauer Berg. In dem Buch wird niemand zur Repräsentationsfigur. Repräsentativ für den Prenzlauer Berg sind die Ausgewählten dennoch. Somit auch Teil der deklarierten »Künstlersozialgeschichte«, in der jeder für sich steht. Was, immer wieder, auch jeder mehr oder weniger druckreife Satz belegt.
Nicht eine nichtige Nachbetrachtung Beteiligter und Betroffener, die sich zur peinlichen, weil zu späten Beerdigung der Legende »Prenzlberg« eingefunden haben, ist das Buch auch nicht das, was man Prenzlauer Berg in Progreß nennen könnte. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg bietet eine eindringliche wie eindrucksvolle Rückschau ohne Zorn. Denn: »Es gab überhaupt viel zu finden in dieser Zeit«, wie der Graphiker Grischa Meyer sagt. Eine Menge von dem ist zusammengekommen, »wie das früher hier so ungefähr war«, wie der Verleger des Buches, Frank Böttcher, in seinem lockeren Erinnerungs-Vorwort abschließend formuliert. Aufzubewahren ist, was ausgesprochen wurde, für alle Zeit. Menschen sprechen von sich, die bereit sind, im Sprechen zu entdecken. Zuerst sich selbst. Aber nicht nur sich. Zu einigen möchte man am liebsten sofort laufen, um mit ihnen weiterzureden. Um weiterzukommen auf der begonnenen Entdeckungsreise, die zu den Sprechenden, zu einem Stadtbezirk und schließlich zum eigenen Ich führt. Das Buch ist ein schönes Lebens-Buch, das vom schwierig-schönen Lebens-Werk in – wie immer – schwieriger Zeit erzählt. Da die Gesprächsführerinnen Barbara Felsmann und Annett Gröschner nicht das Seziermesser der Wissenschaft gewetzt und angesetzt haben, ist das Buch voll des Respekts vor den Menschen und ihrem Leben. Nichts ist klinisch kalt und kahl. Nichts ist parfümiert. Mit dem Sinn fürs Spüren gemacht, muß man spüren. Das macht das Buch so wichtig und wertvoll. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg wäscht allen, die stets so aufgeregt über den »Prenzlberg« schwafelten, den krausen Kopf. Phantom passé! Bernd Heimberger in »Berliner LeseZeichen: Junge Literatur«, 10/2000, S. 21f., sowie in »liberal«, 02/2001, S. 85ff.

Ich lege euch folgendes Buch nahe: Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Die Herausgeberinnen befragten 25 Kreativlinge, die es, zumeist in den Siebzigern, eher zufällig nach P.B. verschlug. Bürgerrechtler, Dolmetscher, Handwerker, Kneipenwirte, Literaten ... Gladkich, Wawerzinek, Silberstein, Papenfuß, Poppe ... Damals ging es nicht um eine Postleitzahl mit einem Mythos, sondern um leerstehende Wohnungen, die relativ unspektakulär besetzt werden konnten. Oft wollten diese Leute nicht unbedingt nach P.B., in diese abgeranzten dunklen Wohnungen. Deshalb wird auch in dem flüssig zu lesenden Buch nicht viel romantisiert. Es geht um den Kleinkrieg mit dem Staat, wobei durchaus beachtliche Erfolge errungen wurden. So sollte aus einem Teil der Kastanienallee und der Oderbergerstraße ein Neubaugebiet werden, wogegen die Anwohner umgehend rebellierten. Die Stärke dieses Buches liegt auch darin, daß die Protagonisten erzählen, wie sie ihr persönliches Verhältnis von Arbeit, Sport und Spiel zurechtbogen. [...] Natürlich gibt es das unvermeidbare Sascha-Anderson-Zeug. Jedenfalls gab es in den Achtzigern eine ziemlich ausgeprägte homogene Infrastruktur, weshalb man sich über die nahezu kollektive Ausreise nach Westberlin doch sehr wundert. Andreas Gläser in »Brillenschlange«, hrsg. von der »Chaussee der Enthusiasten«, 2/2000.

Aus den Gesprächen wurden »Selbstauskünfte« – teilweise dreißigseitige Monologe, die oft mehr über die Befragten aussagen als über das, was sich hinter dem wilhelminischen Begriff Künstlersozialgeschichte verbergen könnte. [...] Das große Positivum des Buches liegt eben darin, daß der Leser sich mit jedem von ihnen, die da Selbstauskunft erteilen, in das Gespräch, in den Streit begeben muß.
Mit dem Ende dieses Staates war auch das Ende des »Durchgangszimmers« zwangsläufig. Es entstand der Mythos. Und diesen hinterfragt zu haben, ist das große Verdienst der Herausgeberinnen. Wer den Prenzlauer Berg im Osten suchen wollte, konnte dies auch in Berlin-Friedrichshagen, in Halle oder Radebeul tun. Man wurde fündig. Dennoch: Prenzlauer Berg kann als Prisma dienen. Und wer verstehen möchte, weshalb dem Gesellschaftsentwurf DDR ein guter Teil des schöpferischen Potentials der Kinder- und Enkel-Generation abhanden kam, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Einige der Antworten dazu stehen hier drin. Tiefschürfendere als seinerzeit durch Christoph Stölzls unsäglicher »Boheme und Diktatur«-Show im »Deutschen Historischen Museum« angeboten wurden. Wolfgang Brauer in »Das Blättchen« (26.06.2000)

27 Männer und Frauen berichten von ihrer Zeit, ihrem Leben im Prenzlauer Berg. Das Buch ist eine wunderbare Mischung aus Biographien, verschiedenen Ansichten, Träumen, Selbsterhaltungsstrategien. Das Bewahren von Alltag, Stimmungen und Gerüchen ist einer der Verdienste des Bandes. Anne Hahn im »Tagesspiegel« (28.06.2000)

Was wäre also »Ankunft«, wo es die Randerscheinungsgruppe als solche nicht mehr gibt? [...] Ist es [...] der dokumentarische Eifer von Annett Gröschner, die entschlossen scheint, noch den letzten Mohikaner vom Prenzlauer Berg aufzuspüren, auf daß er Zeugnis ablege von einer großen Zeit, in der man mit Kohlen- und Bohlenklau ums Überleben rang und der Sound der Hinterhöfe vom Wettbewerb um das lauteste Küchenradio bestimmt wurde? Gregor Ziolkowski in der »Berliner Zeitung« (20.06.2000)

Die behandelten Themen Wohnung, Kneipe, Arbeit, Ausreise, Kunst und Politik lassen Vergleiche zu, zeigen ein Stück Innenansicht, die zwar zunächst nur auf eine bestimmte soziale Gruppe zutreffen mag, aber doch auch für andere steht, die weit weniger zu Kunst und Politik zu sagen hätten. Irgendwie ist auch die DDR Thema, aber daß für die meisten die neue Gesellschaft keine wirkliche Alternative bietet, ist schon bezeichnend. Jenny Kunert im »Neuen Deutschland« (12.05.2000)

Einen »spannenden Beitrag zur Geschichte Ostberlins« nannte es Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der seit 28 Jahren in Prenzlauer Berg wohnt und in die Lesung am 10. April einführte. »Das Parlament« (5./12.05.2000)

Herausgekommen ist ein Stück Alltagsgeschichte der 70er und 80er Jahre – und 25 Porträts von Künstlern und Künstlerinnen sowie Kulturschaffenden. [...] Collagen aus den Selbstauskünften lasen Annett Gröschner, Barbara Felsmann und Verleger Frank Böttcher kürzlich im Willy-Brandt-Haus. Nicht nur Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Thomas Krüger, der Grußredner und der Moderator, waren sichtlich beeindruckt. Beate Dölling im »Vorwärts« 05/2000

Die Historisierung des Lebensgefühls namens Prenzlauer Berg ist voll im Gang: Der Liedermacher Ekkehard Maaß bietet für fünf Mark Führungen in seiner Wohnung an, wo die legendärsten Lesungen stattgefunden hatten, und der Dichter Bert Papenfuß hat das Café Burger wieder auferstehen lassen. [...] Das Buch »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« verspricht eine »Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften« und liefert ein schlecht ediertes Familienalbum. Die Herausgeberinnen haben die Selbstauskünfte offenbar direkt ab Tonband ins Band getippt, entsprechend redundant sind die 572 Seiten denn auch. Wer die Beteiligten nicht kennt, wird mit dem nachgereichten Klatsch zum Szeneleben von damals [...] nicht viel anfangen können. Sieglinde Geisel in der »Neuen Zürcher Zeitung« (26.04.2000)

Der heutige Stadtbezirk Prenzlauer Berg entstand Mitte des 19. Jahrhunderts als eine durch den Berliner Stadtbaurat James Hobrecht projektierte Ansammlung von Mietskasernen. Die Kriegsschäden waren relativ gering, doch die zumeist billig errichteten Altbauten machten das Viertel schließlich zum größten innerstädtischen Sanierungsgebiet. In Zeiten der DDR, da die Wohnungsnachfrage das Angebot regelmäßig überstieg, gab es hier Leerstände: heruntergewohnte Hinterhausbleiben mit undichten Dächern, feuchten Wänden und Treppenklo. So zogen allmählich halblegale und illegale Bewohner hier ein: Studenten, Künstler, Aussteiger, Desperados. Um der Unwirtlichkeit ihrer Behausungen zu entkommen, setzten sie sich gern in die Kneipen, die so zum regelmäßigen Treffpunkt gediehen und am Ende gar zum Kult; aus den losen Bekanntschaften entwickelte sich, was man Szene nannte. Sie widmete sich der Rockmusik, der Lyrik, der bildenden Kunst. Am Prenzlauer Berg, so die allgemeine Überzeugung, blühte eine zum offiziellen DDR-Kunstbetrieb radikal alternative Ästhetik.
Ausgestattet mit solchem Mythos, begab man sich in die Wiedervereinigung. Da erwies sich plötzlich, daß die gesamte scheinbar so independente Prenzlauer-Berg-Kultur von der Stasi unterwandert worden war, vermöge zweier prominenter Protagonisten, Sascha Anderson und Reiner Schedlinski. Der Mythos war entzaubert. Seine Träger beschuldigten und befehdeten sich; der Rest war Historiografie und Dokumentation. Bislang dominierten die Stasi-Rapports. Die unendliche Menschheitsgeschichte von Kunst und Verrat wurde durch die grauen Chroniken Inoffizieller Mitarbeiter rund um den Kollwitzplatz bereichert. Auch die von dem TV-Journalisten Holger Kulick zusammengetragenen und in dem Magazin »Horch und Guck« (Heft 4/99, 8 DM) abgedruckten Beweise zu den Spitzeleien Sascha Andersons sind von dieser Art. Statt den Versuch eines analytischen Psychogramms zu wagen, beläßt es der Autor bei der Wiedergabe und Kommentierung der auffindbaren Belege von Andersens Verrat.
Da erweist sich das Buch »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« von anderem Zuschnitt, allein schon seines beträchtlichen Umfangs wegen. Dabei lebt es nicht über seine Verhältnisse, bietet vielmehr bloß das, was sich guten Gewissens vortragen läßt, nämlich Erinnerung. Sie gerinnt zu zwei Dutzend Tonbandprotokollen, redigiert und zusammengestellt von Barbara Felsmann und Annett Gröschner. Zum Schluß interviewen sie sich gegenseitig und tun dabei ihr Verhältnis zu Ort und Vergangenheit dar. Diese Sammlung dürfte das abschließende Wort zum Thema sein. Sie holt die Ereignisse zurück in ihre tatsächlichen Dimensionen. Sie widerlegt das Märchen von einem vorsätzlich widerständischen Kulturbetrieb. Der Prenzlauer Berg der achtziger Jahre war ein aus Zufall und Wohnungsnot entstandenes Phänomen, wo es ebenso um Sex ging wie um schöne Künste und ebenso um Alkohol wie um Politik. Vor allem aber ging es um Leben: alltägliches, häufig armseliges Leben, mit Tapferkeit getragen, mit Stumpfsinn oder mit Verzweiflung, eine einzige Anklage wider das elende Dasein in der DDR. Unter den Protokollen finden sich Berichte von einer Gewöhnlichkeit, der alles Exzeptionelle abgeht. Die Sammlung von Felsmann und Gröschner enthält mehr an Authentischem über die untergegangene DDR als die Bücher der Gauck-Behörde und alle einschlägigen Romane. Auch die Legende vom blühenden Kunstbetrieb rund um den Kollwitzplatz wird hier, ohne daß dies die eigentliche Absicht ist, ziemlich demontiert. Es gab Zusammenkünfte, es gab private Ausstellungen, Konzerte und Lesungen wie anderswo im Lande auch. Die Kunst war nicht überrepräsentiert, so wenig wie die oppositionelle Politik. Unter den Künstlern am Prenzlauer Berg gab es ein paar bedeutende Talente, wie Adolf Endler und Uwe Kolbe, und ansonsten viel Mittelmaß. Auch dies war so wie überall im Land. Der Prenzlauer Berg war DDR, nichts anderes und nicht mehr. Rolf Schneider in der »Berliner Illustrierten Zeitung«, der Sonntagsbeilage der »Berliner Morgenpost« (13.02.2000)

Das dicke Buch sollte jedem zur Pflichtlektüre gemacht werden, der vom Prenzlauer Berg schwärmt. Die in ihm enthaltenen Geschichten zerstören den Begriff des eines fröhlichen Künstlervölkchens um Wasserturm und Kollwitzplatz. Zugleich widerlegen sie die geschwärzte Sicht auf dieses Milieu als einer permanenten Hefe des politischen Widerstands. Sicher gab es im Prenzlauer Berg erheblich weniger Fahnen zum 1. Mai als anderswo in der DDR, die Wahlergebnisse lagen bei 95 Prozent, höher fälschen ging beim besten Willen nicht, es gab erheblich mehr Zivilcourage als anderswo, aber Helden lebten auch dort nicht. Statt dessen veränderten sich die Freundeskreise durch fortwährenden, schmerzhaften Abgang in den Westen. [...] Vielleicht war es diese Symbiose aus proletarischen Widerstandsresten und der Sehnsucht junger Bewohner, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die den Charakter des Bezirkes prägten. Legenden wachsen später, und sie sind fast immer falsch. Prenzlauer Berg, heute sinnloserweise oft Prenzlberg genannt – angeblich soll der Oktoberclub für diese Verniedlichung das Erstrecht haben, bevor es bedenkenlos von jedem Szenefuzzi und Rundfunkreporter nachgequatscht wurde –, war ein verläßliches Netz aus Kneipen, Galerien und Wohnstätten, in denen man bis zum frühen Morgen sitzen konnte und reden. Man kam mit wenig Geld aus, oft reichten 300 bis 400 Mark im Monat. In den Texten des Buches finden sich dafür zahlreiche Beispiele. Detlev Lücke im »Freitag« (21.01.2000)

Die Wahrheit über eine Legende? Das objektive Bild vom Untergrund? Oder die Entzauberung eines Mythos, den es eigentlich nie gegeben hat? Das einzige, was wirklich zutrifft: Nachdem »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« da ist, kann der größere Teil zum Thema erschienener, eilfertig gestrickter Modeliteratur der Ablage anempfohlen werden. Dies hier, die von Barbara Felsmann und Annett Gröschner herausgegebene »Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften« (Untertitel), läßt viele Vorgänger-Versuche reichlich grau aussehen.
Gespräche mit zwei Dutzend Zeitzeugen über Erinnerungen: drei Jahrzehnte in besetzten Wohnungen, unter Stasi-Observierung, hin- und hergerissen zwischen Bohèhme, schöpferischem Streben, bewußter Opposition und angstvoll erlittener Hausdurchsuchung. Eine aufwühlende Lektüre! Was um alles in der Welt war denn dran an dem sagenhaften Stadtbezirk, daß er ein sprichwörtliches Zentrum militanten Freund/Feind-Verhältnisses werden konnte? Weniger und mehr, als bisher allgemein und wohl sogar den Beteiligten geläufig ist. Nun reden sie sich frei und berichten von »intensivem«, ja »fröhlichem Leben« dort – neben bösen Bedrängnissen. Es bleibt die Gewißheit, die DDR-Jahre bespitzelt, jedoch überwiegend integer verbracht zu haben. Das Buch erweist sich hauptsächlich als Dokument unanfechtbarer Menschlichkeit.
Die hatte, wie fakten- und stimmungsreich dargetan wird, überraschend viele Erscheinungsformen. Eine der wichtigsten: Selbstbewußtsein. Wer sich und seiner Freunde sicher war, konnte gewinnen. Folgerichtig liegen in der streng alphabetischen Reihenfolge jene Buchbeiträge ganz vorn, die ruhig, bescheiden, effektlos gerade darüber berichten. Sie stammen übrigens von solchen Prenzlauer-Berg-Bewohnern, denen die neuzeitliche »Barbiepuppentünche« aufgepeppter Häuser ein Greuel ist ebenso wie oberflächlicher »Szene«-Tourismus. Günther Bellmann in der »Berliner Morgenpost« (18.01.2000)

Diese »Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften« ist ein spannendes Buch über Hinterhöfe, Außenklos, Wasserschäden, Kneipentouren und Trinkgelage, heimliche Wohnungsaneignungen, Salonkultur und wilde Familienverhältnisse; es verrät auch viel über das Selbstbewußtsein, mit dem hier Schriftsteller wie Bert Papenfuß, Peter Wawerzinek oder Richard Pietraß neben bildenden Künstlern, Film- und Theaterleuten ihre jungen Jahre Revue passieren lassen.
»Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« ist aber nicht zuletzt ein Buch über Sascha Anderson: einen Mann, dessen Gegenwart aus all diesen Erinnerungen nicht wegzudenken ist. [...] Der aufregendste Beitrag stammt dabei von seiner mehrjährigen Freundin, der Töpferin Wilfriede Maaß. In ihrer autobiografischen Skizze zeichnet sie zugleich ein Psychogramm des IM Anderson, der bis in die Liebe hinein von der Lüge durchdrungen war. Genaueres über sein Doppelleben, das sich einer allein moralischen Beurteilung entzieht, war jenseits der Akten bisher nicht zu lesen. Gregor Dotzhauer im »Tagesspiegel« (11.01.2000)

Ein Vorzug der Protokolle ist die Authentizität, von der Fremde profitieren werden, die sich immerzu sagen lassen müssen, man könne den Osten nicht verstehen, wenn man ihn nicht vierzig Jahre durchlebt hätte. Genauso gut oder eher noch wäre plausibel, daß ein Außenstehender die vorhandenen Zeugnisse schlüssiger in eine Beschreibung umsetzt, weil er die Sache ohne Haß oder Verlustgefühle verstehen kann. [...]
Unangenehm fällt der Text von Wilfriede Maaß aus dem Rahmen, die den damaligen Klatsch und Tratsch um ihre Männer Ekkehard Maaß und Sascha Anderson aufschüttelt, wohl ungebremst von der Interviewerin Barbara Felsmann. In diesem sehr authentischen Kapitel überträgt sich freilich die Stimmung, die damals in der als literarischer Salon legendären Maaß-Küche geherrscht haben muß: eine Mischung aus Eifersucht, Neid, weinerlicher Angeberei, Spionage und Geheimnisvolltun.
Es war wohl insgesamt ein langweiliges Dasein, und von Vielfältigkeiten und Widersprüchen in biografischen Abschnitten ist kaum etwas zu entdecken. [...]
Im Grunde hat man sich das alles schon so denken können, wie es jetzt hier notiert ist. Und so fühlt sich der Leser bald genervt von der nur »atmosphärischen« statt wissenschaftlichen Genauigkeit. [...]
Frank Böttcher erklärt in seinem mit eigener Biografie ausgestatteten Vorwort, es handele sich bei diesem Buch um eine Künstlersozialgeschichte, und so steht es auch auf dem Umschlag. Das ist übertrieben, geradezu ein DDR-Euphemismus. Drei Prenzlauer Berger machen mit fünfundzwanzig anderen Prenzlauer Bergern aus derselben sozialen Schicht ein Buch über das eigene Leben in denselben Kreisen in Prenzlauer Berg. Wissenschaft aber lebt von kritischer Sicht, die ist hier ausgeblendet. Im Schlußdialog, nachdem sich die beiden Herausgeberinnen auch ihre Biografien erzählt haben [...], wird ostdeutsch geschluchzt: »Gröschner: Es ist schon wieder so eine ähnliche Agonie wie '89. – Felsmann: Empfindest du das so? – Gröschner: Ja. – Felsmann: Ich auch.« Martin Z. Schröder in der »Berliner Zeitung« (11.01.2000)

Böttcher macht in seinem Vorwort keinen Hehl daraus, wies sehr ihm die neue Liaison von Tradition und Zeitgeist innerhalb dieses Bezirks mißfällt. [...] Mit seiner verbitterten, hochfahrenden Kritik entspricht der Verleger haargenau dem Klischee des schmollenden Intellektuellen, der sich von der Welt unverstanden fühlt. Wesentlich aufschlußreicher sind die Lebensgeschichten der Künstler, die im Prenzlauer Berg aufgewachsen sind und in diesem Buch ausführlich zu Wort kommen. Ihre Selbstauskünfte wurden von der Journalistin Barbara Felsmann, aber auch von Annett Gröschner dokumentiert, die mittlerweile von Magdeburg in die Bundeshauptstadt gezogen ist. [...] »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« – ein wunderbar unterhaltsames Geschichtsbuch. Lars Grote in der »Märkischen Allgemeinen« (28.02.2000)

Anm. des verbitterten, hochfahrenden, schmollenden, unverstandenen Verlegers: Wie im Buch nachzulesen, lebt Annett Gröschner seit 13 Jahren in Berlin, war dort also schon, als Prenzlauer Berg noch zur Hauptstadt der DDR gehörte.

Herausgekommen ist in jedem Fall ein äußerst spannendes Buch, das auch diejenigen interessieren müßte, denen Kunst und Künstler wurscht sind, denn die Texte konfrontieren den Leser mit erstaunlichen Lebensentwürfen, die in der DDR realisiert werden konnten. Gewiß, die DDR ist häufig als Nischengesellschaft beschrieben worden – in diesem Buch aber findet man eine Vielzahl konkreter Belege dafür, was ein solcher Begriff meinen könnte. Wer sich ernsthaft darum bemüht, sich mit den unterschiedlichen deutsch-deutschen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen, wird an diesem Werk kaum vorbeigehen können, ohne sich dem Verdacht der Ignoranz auszusetzen. »Hausarbeit«

»Was war der Prenzlauer Berg, bevor er zum ›Prenzlberg‹ verhunzt wurde?« fragt Verleger Frank Böttcher und vermutet, daß dieses unaussprechliche Prenzlberg nur eine Erfindung eines eifrigen FDJ-Kaders gewesen sein kann. Diese treffliche Bemerkung macht neugierig auf das dicke Buch voller Selbstauskünfte von 26 wahren Prenzlauer-Berg-Protagonisten: »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg«. Wie es in den 60er, 70er und 80er Jahren wirklich in diesem Bezirk mit seinen vielen Hinterhöfen und baumlosen Straßen war, wird ganz unprätentiös von Künstlern, Intellektuellen und Kulturarbeitern berichtet. Barbara Felsmann und Annett Gröschner haben wahre Dompteursarbeit vollbracht, solche fabulierfreudigen Geschöpfe wie Elke Erb, Richard Pietraß, Peter Brasch und Brigitte Struzyk am Erzählfaden zu halten. DIE WELT (04.01.2000)

Außerhalb dieser ausdrücklich literarischen Aktivitäten traf man sich in den normalen zur Verfügung stehenden Kneipen, die nichts Schickes an sich hatten. Ein gerade unter dem Titel »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« erschienene Anthologie von autobiographischen Skizzen aus dem einschlägigen Milieu gibt den bisher komplettesten Überblick über die Lokalitäten, die in den achtziger Jahren aufgesucht wurden. Mark Siemons in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (8.12.1999) im Rahmen eines Beitrages über Berliner Kneipenstile

Es stimmt also doch: All die klischeehaften Geschichten über das bunte Künstlervolk am Prenzlauer Berg stecken voller Wahrheit. [...] Solche Selbstauskünfte bedienen auf eine subtile Art auch die voyeuristische Ader des geneigten Lesers. »VorOrt. Bauen und Wohnen in Prenzlauer Berg« 12/1999

Legt man am Ende das Buch aus der Hand, hat sich der Mythos Prenzlauer Berg von alleine verflüchtigt – zu vielfältig sind die Schilderungen. Statt dessen hat man Geschichten über Wohnungen, Kneipen, Arbeit, Träume, Ausreise, Kunst und Politik im Kopf. Setzt man diese in Beziehung zu einander, zeichnet sich so etwas wie eine geistige Infrastruktur des Prenzlauer Berges ab. Scheinschlag, Berliner Stadtteilzeitung, 12/1999