Barbara Felsmann und Annett
Gröschner (Hg.)
Durchgangszimmer Prenzlauer
Berg
Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften
Interessierte Besucher unserer gut sortierten Buchhandlungen
werden diesen Band schon gesehen und darin geschmökert haben. Denn nirgendwo
sollte sich dieses Buch so heimisch fühlen wie hier. Dabei ist »Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg« kein Werk, das man in einem Rutsch durchliest. Nicht nur, weil
es mehr als 450 Seiten umfängt, sondern weil die (Lebens-)Geschichten, die
einem daraus entgegenprallen, nachwirken. Man muss sie setzen lassen.
Unabhängig, ob der Leser mit Prenzlauer Berg, dem damaligen, vertraut ist oder
nicht. Das Buch erfordert Muße. Doch der Leser wird belohnt, mit einem
aufschlussreichen Zeugnis einer vielbesprochenen, einer geradezu
mythologisierten Zeitzone.
Worum geht es? Das Buch versammelt mehr als zwanzig Gesprächsprotokolle von
aktiven und passiven Protagonisten der »Prenzlauer Berg Szene« der 70er und
80er Jahre. Aufgenommen in den Jahren 1997 bis 1999 von den Herausgeberinnen
Barbara Felsmann und Annett Gröschner
stellen sie für die Gesprächspartner eine Rückschau, eine Art Resümee dar, für
den interessierten Leser eine Informationsquelle der besonderen Art.
Je mehr man sich in die einzelnen Lebensgeschichten
vertieft, desto offensichtlicher wird, dass es sich bei der »Prenzlauer Berg
Szene« keinesfalls um eine homogene Bewegung handelte. Wie in jeder
Menschengruppe gab es unterschiedliche individuelle Befindlichkeiten, aus denen
Lebensentwürfe und Aktionen erwuchsen. Und doch
greift alles ineinander. Die politischen Beschränkungen und Repressalien waren
überall gleich, der Umgang mit ihnen und die Suche nach Lösungen vereinte am
Ende die unterschiedlichsten Individuen auf mehr als einer Ebene.
So geht es in den Gesprächen auch um politische Untergrundarbeit oder den
ausgeprägten Unwillen, den vorgezeichneten sozialistischen Pfaden zu folgen.
Doch steht dies nicht im Vordergrund. Nach und nach setzt sich ein Puzzle
zusammen, das viel mehr über das tägliche Leben und Miteinander in der DDR
erzählt, als es wohlmeinende Geschichten, Museumsschauen oder lehrreiche
Aufsätze je tun könnten. Arbeiten, Wohnen, Lieben, Streiten – normale Dinge in
einer damals normalen Welt.
Bekannte und unbekannte Namen befinden sich unter den Gesprächspartnern,
darunter die Fotografin Tina Bara, der mittlerweile
verstorbene Künstler Peter Brasch, der spätere
Bezirksbürgermeister Burkhard Kleinert, die Bürgerrechtlerin
Ulrike Poppe und der Schriftsteller Peter Wawerzinek.
Rund 13 Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage hat sich der Lukas Verlag
aus der Kollwitzstraße nun zur Herausgabe der zweiten
Auflage entschlossen. Mit Recht, mag man ergänzen, denn die Gesprächsprotokolle
haben nichts von ihrer Bedeutung und ihrer Wucht verloren. Sie liefern jene
Authentizität, Atmosphäre und Informationsdichte, die es zur Erfassung des
Phänomens »Prenzlauer Berg« so dringend braucht.
Stefanie Käsler,
in: Berg.Link (Menschen. Projekte. Kiez. Das Magazin
für Prenzlauer Berg), November 2012
Den Anlass dafür, dass sich Autoren und Verlag
entschlossen, eine »Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er
Jahre in Selbstauskünften« (wie der Untertitel des Buches lautet)
herauszubringen, gab eine unzulängliche Ausstellung im Deutschen Historischen
Museum: »Der musealen Ungenauigkeit infolge abstrakter Auswahlkriterien und
pauschalisierender Interpretationen wurde nun mit der Authentizität
persönlicher Erfahrungen zu begegnen versucht.«
Tatsächlich werden in den Erlebnisberichten einige Legenden zurechtgerückt.
Dabei wird Wert auf die Zeitzeugenschaft gelegt, nicht auf Prominenz – wenn
auch einige der Interviewten diese für sich in Anspruch nehmen könnten. Deshalb
verzichten die Herausgeber auch auf biografische
Angaben – die kann sich der Leser anhand der persönlichen Schilderungen
unschwer selbst zusammensetzen. Fast alle Zeitzeugen hatten irgendwann in ihrem
Leben etwas mit Kunst oder Medien zu tun, und sie alle liebten ein mehr oder
minder unangepasstes Leben (obwohl manch einer auch zumindest zeitweilig in der
SED war). Einige hatten gelegentliche Festnahmen oder wochen- und monatelange
Haft zu erdulden. Aber ebenso gab es für fast alle die Lebensfreude, die sich gerade
in Prenzlauer Berg für die, die etwas anders sein wollten, einstellte,
verbunden mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen. Die meisten
wollten nicht in den Westen, sondern eine freundlichere DDR. Unter ihnen sind
Filmemacher wie Mario Achsnik, Jörg Foth und Heiner Silvester, Schriftsteller wie Bert Papenfuß, Richard Pietraß und
Peter Wawerzinek, auch die Bürgerrechtlerin Ulrike
Poppe ist dabei. Viele von ihnen sehen die Entwicklung nach 1990 – nicht nur,
was die Struktur des Prenzlauer Bergs betrifft – kritisch. Peter Brasch (gest. 2001), dessen kleine Schwester Marion in
diesem Jahr ihr Erinnerungsbuch »Ab jetzt ist Ruhe« herausbrachte, sagt
rückblickend: »Also es war keine Diktatur, es war eine Diktatrie,
und was wir jetzt haben, ist eine Demokratur, was im
Prinzip auf dasselbe hinausläuft.«
Barbara Felsmann und Annett Gröschner
geben ihren Zeitzeugenberichten Überschriften, die schon viel erzählen: »Wir
waren irgendwie so fröhliche Außenseiter« (Wolfgang Krause), »Ich war nie bei
einer Lesung in der Schönfließer Straße« (Grischa
Meyer), »Prenzlauer Berg garantiert mir ein Maß an Unzufriedenheit, das ich
brauche« (Bert Papenfuß), »Es war nie so, daß wir zwei kunstbeflissene Damen dargestellt hätten«
(Elke Erb und Brigitte Struzyk). Es wird nicht nur
auf ein Register verzichtet, auch auf eine Begriffs- und Abkürzungserklärung.
Man setzt auf den mündigen Leser. Dafür verfügt die Neuauflage über zwei
hervorragende Fotostrecken von Robert Conrad
(»Häuser«) und Barbara Metselaar Berthold (»Menschen«) …
Den
vollständigen Beitrag lesen …
F.B. Habel, auf: Das Blättchen, 22. Oktober
2012
Was haben die Bürgerrechtlerin und heutige Brandenburger
Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen Ulrike Poppe und das
SED/PDS/Linkspartei-Mitglied sowie Pankower Bürgermeister a.D. Burkhard Kleinert gemeinsam? Die Antwort ist etwas überraschend –
eine Vergangenheit in der Prenzlauer Berger Boheme.
Vor 15 Jahren interviewten die beiden Autorinnen Annett
Gröschner und Barbara Felsmann 28 auskunftsfreudige
Männer und Frauen, die sie als Protagonisten der Ostberliner Szenen ausgemacht
hatten, zu ihrem Leben im Prenzlauer Berg der DDR. Neben so politischen
Akteuren wie Poppe und Kleinert waren auch viele
Künstler darunter, wie der Regisseur Peter Brasch,
der Dichter Bert Papenfuß oder die Holzgestalterin
Franka Silberstein. Die erteilten Selbstauskünfte waren so klischeehaft wie
authentisch: »Es wurde unendlich viel gesoffen. Alkohol und Sex waren prägende
Elemente dieses Alltags«, erinnerte sich zum Beispiel der Regisseur Heiner
Sylvester. Und die Malerin Petra Schramm schwärmte: »Wir besorgten uns schöne
Kleider, saßen in Cafés rum, besuchten Leute und redeten unendlich viel«.
Gröschner und Felsmann haben die Gesprächsprotokolle
1999 in dem Buch »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« veröffentlicht. Es
verschafft mit den vielfältigen Reflektionen über
Wohnung und Kneipe, Arbeit und Ausreise, Kunst und Politik zum Teil recht
intime Einblicke, gibt Zeugnis, wie unprätentiös letztlich das Leben hinter den
grauen, zerblätterten Fassaden in den 70er und 80er Jahren in Prenzlauer Berg
war.
Nachdem das über 500 Seiten starke Werk seit Jahren restlos vergriffen war, hat
jetzt der Verleger Frank Böttcher eine zweite Auflage herausgebracht. Das Buch
trifft diesmal auf eine potenzielle Leserschaft, die
so gar nicht mehr die Sozialisation in der DDR erfahren hat. Böttcher preist es
darum, bereits ganz dem neuen Sprachduktus angepasst, als »bedeutendes Oral-History-Dokument der ostdeutschen und Berliner
Geschichte«. Und er bebildert den Band mit Fotos von Barbara Metselaar Berthold
und Robert Conrad. Diese zeigen zwar so gar nicht das Flair der damaligen
Boheme – wunderschön sind sie trotzdem.
Wer wissen will, wo Prenzlauer Berg seinen Ruf als Heimstatt der Unangepassten
herhat, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Hartmut Seefeld, in: Vor Ort, Mai 2012
Diese letzte Hülle, die sich
der Prenzlauer Berg vor zehn Jahren abgestreift hat, ist die, die heute am
wenigsten sichtbar ist, weniger als Kaiserzeit, Weltkriege und DDR. Als vor
zehn Jahren die »Sklaven«-Autorin und Prenzlauer-Berg-Chronistin Annett Gröschner ihre
umfangreiche Dokumentation »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« veröffentlichte,
da nannte sich eine neueröffnete Kneipe am Helmholtzplatz
schon »Wohnzimmer«. Zwei Jahre später wurde der ehemalige Bezirk Prenzlauer
Berg zum Großbezirk Pankow zwangsgetauft. Der aufgegebene antibürgerliche
Stadtteil vereinigt mit dem kleinbürgerlichen Apparatschik-Idyll der Grotewohls und Krenz'! Prenzlauer Berg sei bei den
Gartenzwergen angekommen, schrieben die ehemaligen »Sklaven«-Autoren mit
bitterem Witz.
Antje Schmelcher;
in: FAZ, 3. Januar 2010
Die Autoren fangen gut das Milieu im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg ein. Jahrbuch Extremismus und Demokratie 2000
Erinnerungen an bohemehafte
Zeiten in Ost-Berlin. Unsentimentale Auskünfte darüber, was mit der DDR
verlorenging. Und Einblicke in wilde Liebes- und Familienbeziehungen, die im
Westen so nicht üblich waren. Gregor Dotzauer im
»Tagesspiegel« vom 06.12.2000 (Tagesspiegel-Autoren empfehlen Bücher zu
Weihnachten)
Der Prenzlauer Berg ist kein Phantom. Nicht der
nördlich des Alexanderplatzes ansteigende Berg, der die Höhe eines Hügels hat,
wie dies im Brandenburgischen üblich ist, wenn von Bergen gesprochen wird. Kein
Phantom ist der real existierende, dichtbesiedelte, viertkleinste Berliner
Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Das Phantom ist der »Prenzlberg«.
Das Phantom ist eine Erfindung des west-deutschen
Feuilletons. Seit gut anderthalb Jahrzehnten geistert das Phantom durch die
Medien. Da die meisten Schreiber zumeist Abschreiber sind, die meisten Redner
zumeist dem Vorredner nachplappern, wird die Gefahr eher größer denn geringer, daß sich in den Annalen der Historie, der Kunst, der
Literatur, das propagierte und popularisierte Phantom etabliert. Den bisher
versuchten redlichen und sachlichen Bemühungen zum Trotz, den Weihrauchnebel
vom Prenzlauer Berg abzuziehen, um Klarsicht zu ermöglichen, damit auch Übersicht
gewonnen werden kann. Zur Wirklichkeitsfindung haben Peter Böthig und Klaus
Michael mit dem gemeinsam organisierten Band MachtSpiele
beigetragen sowie Peter Böthig mit seiner Monographie Grammatik
einer Landschaft . Die Annäherung der Herausgeber-Autoren an die
tatsächliche Wirklichkeit der Literaturlandschaft Prenzlauer Berg – sowie ihres
gesellschaftlichen Umfelds – hat bei weitem nicht die Achtsamkeit bekommen, die
dem aufgeblasenen Phantom galt und gilt. Das hat einen triftigen Grund.
Mächtige Stimmen des westdeutschen Feuilletons sind die Macher und Mitläufer
des Phantoms. Das Phantom »Prenzlberg« ist eine
Dichtung, die den Dichtern des Prenzlauer Bergs ein Denkmal setzen sollte. Also
ein Produkt des Personenkults, der, üblicherweise, auch die auf die Sonnenseite
holt, die sich gern im Kult suhlen. Anders ausgedrückt: ein Liebesakt von
Schreibern der unteren und höheren Ebene. Ein Akt der Gleichgeschlechtlichkeit,
dessen sich niemand schämen mußte, solange nicht
durchgesickert war, daß es die Liaison mit
stasiinfizierten Partnern war. Der Fehler der Feuilletonisten war, auf zu viele
falschgemachte Personen zu setzen. Beachtung hatte vor allem das gefunden, was
gedruckt und gebunden westwärts geschmuggelt werden konnte. So ließ sich das
Phantom »Prenzlberg« gut aufpäppeln. Eine Schimäre,
die Schreiber zweier Seiten im stillen Einvernehmen durch die deutsch-deutsche
Literaturlandschaft zerrten und das Zirkuspferd priesen und auspreisten. Das,
selbstkritisch, einen Beitrag zum Betrug zu nennen, hätte alle Beteiligten
Renommee gekostet. Ums Renommee zu retten, leibt und lebt das Phantom munter
weiter. Inzwischen ist es zu einer Touristenattraktion avanciert, die kein
Berlin-Reiseführer ausspart. So wächst und wächst und wächst die Legende.
Vorbeihastende verhinderte Literaten westlicher Provinzen haben den Ostberliner
Stadtbezirk Prenzlauer Berg literarisiert und sind dabei glatt auf'm »Prenzlberg« gelandet. Wenn das keine gelungene Denunziation
ist. Nicht nur eines Namens!
Daß es neben dem Er-(Ge)-Dichteten des »Prenzlbergs« auch Dichtung gab, die aus dem Prenzlauer Berg
kam, wußten alle, die sich nicht nur um die
Diskussionsliteratur der DDR kümmerten. Zu den Zugereisten im Prenzlauer Berg,
für die Literatur etwas Wesentliches war, zählte so manches kräftige
literarische Naturell – von Erich Arendt bis Elke Erb und Adolf Endler. Der Prenzlauer Berg war, wenn man an die sechziger
bis achtziger Jahre denkt – und 99 Prozent der Einwohner gewohnheitsgemäß
ignoriert, nicht nur der Bezirk mit der höchsten Zuwachsrate an Literaten. Der
Prenzlauer Berg, das waren auch die einwohnenden, hinzukommenden Maler,
Graphiker, Keramiker, Musiker, Schauspieler, Fotografen und Filmer. Womit nicht
gesagt ist, daß die Masse der Bewohner des Bezirks
von den Musenkindern profitierte. Aber auch! Wann und wie? In Büchern von Irina
Liebmann – Berliner Mietshaus – und in Daniela Dahns
Prenzlauer-Berg-Tour steht's geschrieben. Wenn die bunte Truppe der Lokalpatrioten
heute meint, die anderen Ostberliner Bezirke waren tot, dann, weil die
Stadtbezirksgrenze die von ihnen gezogene Mauer war. Dahinter waren, vom
Pankower Lyrikclub bis zum Haus der Jungen Talente, dem Museum für Geschichte,
der »Möwe« in Mitte, von den Friedrichshainer Wohnungen des Lutz Rathenow und
der des Wilfried Bonsack, in der Tucholskystraße,
kreative Kommunikations-Konzentrations-Orte da, die denen des Prenzlauer Bergs
verwandt waren. Wird die ständig wechselnde, sich verändernde Kulturszene der
zweiten Hälfte der DDR-Zeit in der Hauptstadt der DDR genauer betrachtet und
beurteilt, muß die gesamte Stadthälfte gesehen
werden. Der in mehrfacher Hinsicht einseitige Blick auf die sogenannte Szene
des Prenzlauer Bergs – eine Umschreibung mit der kaum jemand etwas anfangen
kann, der »dabei war« – reicht fürs Betrachten und Beurteilen nicht aus.
Nachdem die Domäne Dichtung zwar nicht gestürmt wurde, nachdem sie sich im
nachhinein als »Domänie« diskreditierte, ist es an
der Zeit, differenzierter darzustellen, was und wie der Prenzlauer Berg war,
bevor er zum »Prenzlberg« reduziert wurde. Keiner
Publikation zum Prenzlauer Berg ist das bisher besser gelungen als dem Band mit
dem eindeutigen wie mehrfach deutbaren, dem konkreten wie symbolischen Titel Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg.
Das ist nicht das Buch zur Legende. Das ist das Buch, das kein Wasser auf die
Mühlräder der Legende gibt. Das ist das Buch, das der Legende das Wasser
abgräbt. Das Buch blickt in die Bezirke der Kunst im Kunst-Bezirk und darüber
hinaus. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg ist eine Durchquerung eines
kunstreichen Berliner Stadtbezirks. Das Buch ist eine wortaufwendige Wanderung
von Person zu Person, die ein, zwei, drei und mehr Jahrzehnte im und mit dem
Prenzlauer Berg lebten. Allzu aufdringlich wird die Sammlung der 23
Selbstschilderungen »Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in
Selbstauskünften« genannt. Man achte auf die Ortsbestimmung! Wo
Prenzlauer-Berg-Geschichte ist, ist auch immer Berlin-Geschichte,
DDR-Geschichte, deutsch-deutsche Geschichte. Personen-Geschichte ist auch immer
Gesellschafts-Geschichte und Zeit-Geschichte. Die Gespräche mit den
Auskunftswilligen und -freudigen führten 1997 und 1998 Barbara Felsmann und Annett Gröschner. Was die beiden
Herausgeberinnen zustande brachten, ist ein üppiges Lebens-Buch. Üppig in den
23 Monologen. Am magersten im Dialog zwischen Elke Erb und Brigitte Struzyk. Ergiebiger im Dialog der Herausgeberinnen, der den
Band abschließt.
Das Buch ist ein Befreiungsschlag. Es ist frei von der Selbstsucht
interpretierender Feuilletonisten und Literaturprotegés. Wer sich der mit zusammengepreßten Lippen für die Presse verfaßten
Artikel über die Dichter-Domäne erinnert, wirft den aufgehalsten Ballast –
spätestens – in der Buchmitte ab. Das Buch ist auch frei von der
Selbstdarstellungssucht, also dem Imponiergehabe der selbstinthronisierten und
getürkten Prominenten des »Prenzlbergs«. Wem denn
heute noch imponieren, da sich auch das Fußvolk der »Szene«-Kneipen verlaufen
hat? Selbst die Claqueure des »Prenzlbergs« sind
chancenlos. Übereinstimmend wird, fast synchron, formuliert, was der
Schriftsteller-Regisseur Peter Brasch in einem Satz zusammenfaßte: »Mit dem Begriff Prenzlauer-Berg-Szene kann
ich nicht viel anfangen.« Wenn, dann war die »Szene« eine immer wieder sich
schnell wandelnde Spielgemeinschaft. In der spielte die Besetzung abbruchreifer
Buden ebenso eine bedeutende Rolle wie der Partnertausch, die Kneipen-Cafe-Wohnungs-Gespräche, Haus-Lesungen und
Hof-Ausstellungen, das unaufhörliche Trinken von Tee und Wein, das ewige
Nudelessen in allen Varianten und das trotzige Tragen von Jeans und Parka. Das
Wesentlichste war, sich Zeit zu nehmen und Zeit zu geben, wie das jeder jungen
Generation entspricht, die nicht die maßgeschneiderten Kleider der Eltern
auftragen will. Gemäß dem Motto, das eine Parole im Prenzlauer Berg war: »Wir
lassen uns die DDR nicht einimpfen!« Die wenigsten, die im Prenzlauer Berg
auftauchten, waren geborene Berliner, die allerwenigsten Prenzlauer Berger. Die
meisten stammten aus den Provinzen der DDR, Bezirke genannt, die der
DDR-Provinz entkommen wollten. Für viele wurde der Prenzlauer Berg tatsächlich
zum Durchgangszimmer in den Westen. Ihre Treue zum Stadtbezirk war ihre
Untreue. War Untreue nicht das einzige, immer funktionierende Regulativ der
Gemeinsamkeit und Gemeinschaft im Prenzlauer Berg? War Treulosigkeit nicht das
Prinzip des künstlerischen Prenzlauer Bergs? War es nicht jenes regulierende
Prinzip, das jene verständlichen wie unverständlichen Treuebündnisse zwischen
Person und Person, Kunst und Kunst, Personen und Institutionen ermöglichte?
Also die Haltungen und Handlungen des treulosesten aller untreuen Treuen:
Sascha Anderson!
Für einige der Auskunftgeber bleibt er der Protagonist des »Prenzlbergs«,
der Promoter der erdachten Szene, der Protegierte, der protegierte. Wenn das so
ist – so wahr uns Gauck helfe! –, dann ist Anderson der Kopf des Phantoms »Prenzlberg«. Wie in der gewesenen Wirklichkeit, ist der
ambitionierte Promotor häufiger im Gerede als entscheidende Integratoren wie
Elke Erb und Ekkehard Maaß. Beide hätten gut mit
einem eigenständigen Beitrag in die Publikation gepaßt.
Offensichtlich wurde nicht ohne Absicht auf viele Hauptstimmen der
vermeintlichen »Szene« verzichtet. Das heißt auf Namen, die sich in den
Achtzigern den Durchbruch in die Medienöffentlichkeit ermöglichten oder denen
der Durchbruch ermöglicht wurde. Auf jene, denen spielerische Darstellung
wichtiger war als wahrhaftige Selbstäußerung. Der Vorzug des Buches ist, daß nicht die Tänzer auf der Spitze zur Sprache kommen,
sondern das Leben auf den Brettern der Basis, ohne die auch kein Spitzentanz
sein kann. Wer und was wirklich Basis und wirklich Spitze war, ist ohnehin noch
nicht entschieden. Gesicherte Tatsache ist hingegen, daß
DDRler doch ganz schöne Biographien hatten, deren
Mangel Volker Braun einst beklagte. Garantiert waren viele DDR-Biographien
nicht heftig bewegte und bewegende. Die in Durchgangszimmer Prenzlauer Berg
erinnerten Lebensläufe sind voller enormer Auf- und Abschwünge. Sie sind pralle
Lebensgeschichten. Vergleichbar in manchem, sind sie unvergleichbare
individuelle Geschichten des Lebens, die Teil einer lokalen Region, der
Situation und Stimmungen eines Landes sind. Jeder der Beteiligten hat seinen
Prenzlauer Berg erlebt und gelebt. Jeder hat seine Interpretation, seine
Definition für das, was für ihn Prenzlauer Berg ist. Der Prenzlauer Berg ist
für jeden literarisch, künstlerisch, politisch Ambitionierten das, was er im
Prenzlauer Berg war und ist. Jeder Selbstporträtist porträtiert auch den
Prenzlauer Berg. In dem Buch wird niemand zur Repräsentationsfigur.
Repräsentativ für den Prenzlauer Berg sind die Ausgewählten dennoch. Somit auch
Teil der deklarierten »Künstlersozialgeschichte«, in der jeder für sich steht.
Was, immer wieder, auch jeder mehr oder weniger druckreife Satz belegt.
Nicht eine nichtige Nachbetrachtung Beteiligter und Betroffener, die sich zur
peinlichen, weil zu späten Beerdigung der Legende »Prenzlberg«
eingefunden haben, ist das Buch auch nicht das, was man Prenzlauer Berg in Progreß nennen könnte. Durchgangszimmer Prenzlauer Berg
bietet eine eindringliche wie eindrucksvolle Rückschau ohne Zorn. Denn: »Es gab
überhaupt viel zu finden in dieser Zeit«, wie der Graphiker Grischa
Meyer sagt. Eine Menge von dem ist zusammengekommen, »wie das früher hier so
ungefähr war«, wie der Verleger des Buches, Frank Böttcher, in seinem lockeren
Erinnerungs-Vorwort abschließend formuliert. Aufzubewahren ist, was
ausgesprochen wurde, für alle Zeit. Menschen sprechen von sich, die bereit
sind, im Sprechen zu entdecken. Zuerst sich selbst. Aber nicht nur sich. Zu
einigen möchte man am liebsten sofort laufen, um mit ihnen weiterzureden. Um
weiterzukommen auf der begonnenen Entdeckungsreise, die zu den Sprechenden, zu
einem Stadtbezirk und schließlich zum eigenen Ich führt. Das Buch ist ein
schönes Lebens-Buch, das vom schwierig-schönen Lebens-Werk in – wie immer –
schwieriger Zeit erzählt. Da die Gesprächsführerinnen Barbara Felsmann und Annett Gröschner nicht das
Seziermesser der Wissenschaft gewetzt und angesetzt haben, ist das Buch voll
des Respekts vor den Menschen und ihrem Leben. Nichts ist klinisch kalt und
kahl. Nichts ist parfümiert. Mit dem Sinn fürs Spüren gemacht, muß man spüren. Das macht das Buch so wichtig und wertvoll.
Durchgangszimmer Prenzlauer Berg wäscht allen, die stets so aufgeregt
über den »Prenzlberg« schwafelten, den krausen Kopf.
Phantom passé! Bernd Heimberger in »Berliner LeseZeichen:
Junge Literatur«, 10/2000, S. 21f., sowie in »liberal«, 02/2001, S. 85ff.
Ich lege euch folgendes Buch nahe:
Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Die Herausgeberinnen befragten 25
Kreativlinge, die es, zumeist in den Siebzigern, eher zufällig nach P.B. verschlug. Bürgerrechtler, Dolmetscher, Handwerker,
Kneipenwirte, Literaten ... Gladkich, Wawerzinek, Silberstein, Papenfuß,
Poppe ... Damals ging es nicht um eine Postleitzahl mit einem Mythos, sondern
um leerstehende Wohnungen, die relativ unspektakulär besetzt werden konnten.
Oft wollten diese Leute nicht unbedingt nach P.B., in
diese abgeranzten dunklen Wohnungen. Deshalb wird
auch in dem flüssig zu lesenden Buch nicht viel romantisiert. Es geht um den
Kleinkrieg mit dem Staat, wobei durchaus beachtliche Erfolge errungen wurden.
So sollte aus einem Teil der Kastanienallee und der Oderbergerstraße ein
Neubaugebiet werden, wogegen die Anwohner umgehend rebellierten. Die Stärke
dieses Buches liegt auch darin, daß die Protagonisten
erzählen, wie sie ihr persönliches Verhältnis von Arbeit, Sport und Spiel
zurechtbogen. [...] Natürlich gibt es das unvermeidbare Sascha-Anderson-Zeug.
Jedenfalls gab es in den Achtzigern eine ziemlich ausgeprägte homogene
Infrastruktur, weshalb man sich über die nahezu kollektive Ausreise nach
Westberlin doch sehr wundert. Andreas Gläser in »Brillenschlange«, hrsg. von
der »Chaussee der Enthusiasten«, 2/2000.
Aus den Gesprächen wurden »Selbstauskünfte« –
teilweise dreißigseitige Monologe, die oft mehr über die Befragten aussagen als
über das, was sich hinter dem wilhelminischen Begriff Künstlersozialgeschichte
verbergen könnte. [...] Das große Positivum des Buches liegt eben darin, daß der Leser sich mit jedem von ihnen, die da
Selbstauskunft erteilen, in das Gespräch, in den Streit begeben muß.
Mit dem Ende dieses Staates war auch das Ende des »Durchgangszimmers«
zwangsläufig. Es entstand der Mythos. Und diesen hinterfragt zu haben, ist das
große Verdienst der Herausgeberinnen. Wer den Prenzlauer Berg im Osten suchen
wollte, konnte dies auch in Berlin-Friedrichshagen,
in Halle oder Radebeul tun. Man wurde fündig. Dennoch: Prenzlauer Berg kann als
Prisma dienen. Und wer verstehen möchte, weshalb dem Gesellschaftsentwurf DDR
ein guter Teil des schöpferischen Potentials der Kinder- und Enkel-Generation
abhanden kam, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Einige der Antworten dazu
stehen hier drin. Tiefschürfendere als seinerzeit durch Christoph Stölzls unsäglicher »Boheme und Diktatur«-Show im
»Deutschen Historischen Museum« angeboten wurden. Wolfgang Brauer in »Das
Blättchen« (26.06.2000)
27 Männer und Frauen berichten von ihrer Zeit,
ihrem Leben im Prenzlauer Berg. Das Buch ist eine wunderbare Mischung aus
Biographien, verschiedenen Ansichten, Träumen, Selbsterhaltungsstrategien. Das
Bewahren von Alltag, Stimmungen und Gerüchen ist einer der Verdienste des Bandes.
Anne Hahn im »Tagesspiegel« (28.06.2000)
Was wäre also »Ankunft«, wo es die
Randerscheinungsgruppe als solche nicht mehr gibt? [...] Ist es [...] der
dokumentarische Eifer von Annett Gröschner,
die entschlossen scheint, noch den letzten Mohikaner vom Prenzlauer Berg
aufzuspüren, auf daß er Zeugnis ablege von einer
großen Zeit, in der man mit Kohlen- und Bohlenklau ums Überleben rang und der
Sound der Hinterhöfe vom Wettbewerb um das lauteste Küchenradio
bestimmt wurde? Gregor Ziolkowski in der »Berliner
Zeitung« (20.06.2000)
Die behandelten Themen Wohnung, Kneipe, Arbeit,
Ausreise, Kunst und Politik lassen Vergleiche zu, zeigen ein Stück
Innenansicht, die zwar zunächst nur auf eine bestimmte soziale Gruppe zutreffen
mag, aber doch auch für andere steht, die weit weniger zu Kunst und Politik zu
sagen hätten. Irgendwie ist auch die DDR Thema, aber daß
für die meisten die neue Gesellschaft keine wirkliche Alternative bietet, ist
schon bezeichnend. Jenny Kunert im »Neuen
Deutschland« (12.05.2000)
Einen »spannenden Beitrag zur Geschichte
Ostberlins« nannte es Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der seit 28 Jahren
in Prenzlauer Berg wohnt und in die Lesung am 10. April einführte. »Das
Parlament« (5./12.05.2000)
Herausgekommen ist ein Stück Alltagsgeschichte
der 70er und 80er Jahre – und 25 Porträts von Künstlern und Künstlerinnen sowie
Kulturschaffenden. [...] Collagen aus den Selbstauskünften lasen Annett Gröschner, Barbara
Felsmann und Verleger Frank Böttcher kürzlich im Willy-Brandt-Haus. Nicht nur Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse und Thomas Krüger, der Grußredner und der Moderator, waren
sichtlich beeindruckt. Beate Dölling im »Vorwärts«
05/2000
Die Historisierung des Lebensgefühls namens
Prenzlauer Berg ist voll im Gang: Der Liedermacher Ekkehard Maaß
bietet für fünf Mark Führungen in seiner Wohnung an, wo die legendärsten
Lesungen stattgefunden hatten, und der Dichter Bert Papenfuß
hat das Café Burger wieder auferstehen lassen. [...] Das Buch »Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg« verspricht eine »Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften«
und liefert ein schlecht ediertes Familienalbum. Die Herausgeberinnen haben die
Selbstauskünfte offenbar direkt ab Tonband ins Band getippt, entsprechend
redundant sind die 572 Seiten denn auch. Wer die Beteiligten nicht kennt, wird
mit dem nachgereichten Klatsch zum Szeneleben von damals [...] nicht viel
anfangen können. Sieglinde Geisel in der »Neuen Zürcher Zeitung«
(26.04.2000)
Der heutige Stadtbezirk Prenzlauer Berg entstand
Mitte des 19. Jahrhunderts als eine durch den Berliner Stadtbaurat James Hobrecht projektierte Ansammlung von Mietskasernen. Die
Kriegsschäden waren relativ gering, doch die zumeist billig errichteten
Altbauten machten das Viertel schließlich zum größten innerstädtischen
Sanierungsgebiet. In Zeiten der DDR, da die Wohnungsnachfrage das Angebot
regelmäßig überstieg, gab es hier Leerstände: heruntergewohnte
Hinterhausbleiben mit undichten Dächern, feuchten Wänden und Treppenklo. So zogen allmählich halblegale und illegale
Bewohner hier ein: Studenten, Künstler, Aussteiger, Desperados. Um der
Unwirtlichkeit ihrer Behausungen zu entkommen, setzten sie sich gern in die
Kneipen, die so zum regelmäßigen Treffpunkt gediehen und am Ende gar zum Kult;
aus den losen Bekanntschaften entwickelte sich, was man Szene nannte. Sie
widmete sich der Rockmusik, der Lyrik, der bildenden Kunst. Am Prenzlauer Berg,
so die allgemeine Überzeugung, blühte eine zum offiziellen DDR-Kunstbetrieb
radikal alternative Ästhetik.
Ausgestattet mit solchem Mythos, begab man sich in die Wiedervereinigung. Da
erwies sich plötzlich, daß die gesamte scheinbar so
independente Prenzlauer-Berg-Kultur von der Stasi unterwandert worden war,
vermöge zweier prominenter Protagonisten, Sascha Anderson und Reiner Schedlinski. Der Mythos war entzaubert. Seine Träger
beschuldigten und befehdeten sich; der Rest war Historiografie
und Dokumentation. Bislang dominierten die Stasi-Rapports. Die unendliche
Menschheitsgeschichte von Kunst und Verrat wurde durch die grauen Chroniken
Inoffizieller Mitarbeiter rund um den Kollwitzplatz
bereichert. Auch die von dem TV-Journalisten Holger Kulick
zusammengetragenen und in dem Magazin »Horch und Guck« (Heft 4/99, 8 DM)
abgedruckten Beweise zu den Spitzeleien Sascha Andersons sind von dieser Art.
Statt den Versuch eines analytischen Psychogramms zu wagen, beläßt
es der Autor bei der Wiedergabe und Kommentierung der auffindbaren Belege von
Andersens Verrat.
Da erweist sich das Buch »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« von anderem
Zuschnitt, allein schon seines beträchtlichen Umfangs wegen. Dabei lebt es
nicht über seine Verhältnisse, bietet vielmehr bloß das, was sich guten
Gewissens vortragen läßt, nämlich Erinnerung. Sie
gerinnt zu zwei Dutzend Tonbandprotokollen, redigiert und zusammengestellt von
Barbara Felsmann und Annett Gröschner.
Zum Schluß interviewen sie sich gegenseitig und tun
dabei ihr Verhältnis zu Ort und Vergangenheit dar. Diese Sammlung dürfte das
abschließende Wort zum Thema sein. Sie holt die Ereignisse zurück in ihre
tatsächlichen Dimensionen. Sie widerlegt das Märchen von einem vorsätzlich
widerständischen Kulturbetrieb. Der Prenzlauer Berg der achtziger Jahre war ein
aus Zufall und Wohnungsnot entstandenes Phänomen, wo es ebenso um Sex ging wie
um schöne Künste und ebenso um Alkohol wie um Politik. Vor allem aber ging es
um Leben: alltägliches, häufig armseliges Leben, mit Tapferkeit getragen, mit
Stumpfsinn oder mit Verzweiflung, eine einzige Anklage wider das elende Dasein
in der DDR. Unter den Protokollen finden sich Berichte von einer Gewöhnlichkeit,
der alles Exzeptionelle abgeht. Die Sammlung von Felsmann und Gröschner enthält mehr an Authentischem über die
untergegangene DDR als die Bücher der Gauck-Behörde und alle einschlägigen
Romane. Auch die Legende vom blühenden Kunstbetrieb rund um den Kollwitzplatz wird hier, ohne daß
dies die eigentliche Absicht ist, ziemlich demontiert. Es gab Zusammenkünfte,
es gab private Ausstellungen, Konzerte und Lesungen wie anderswo im Lande auch.
Die Kunst war nicht überrepräsentiert, so wenig wie die oppositionelle Politik.
Unter den Künstlern am Prenzlauer Berg gab es ein paar bedeutende Talente, wie
Adolf Endler und Uwe Kolbe, und ansonsten viel
Mittelmaß. Auch dies war so wie überall im Land. Der Prenzlauer Berg war DDR,
nichts anderes und nicht mehr. Rolf Schneider in der »Berliner Illustrierten
Zeitung«, der Sonntagsbeilage der »Berliner Morgenpost« (13.02.2000)
Das dicke Buch sollte jedem zur Pflichtlektüre
gemacht werden, der vom Prenzlauer Berg schwärmt. Die in ihm enthaltenen
Geschichten zerstören den Begriff des eines fröhlichen Künstlervölkchens um
Wasserturm und Kollwitzplatz. Zugleich widerlegen sie
die geschwärzte Sicht auf dieses Milieu als einer permanenten Hefe des
politischen Widerstands. Sicher gab es im Prenzlauer Berg erheblich weniger
Fahnen zum 1. Mai als anderswo in der DDR, die Wahlergebnisse lagen bei 95
Prozent, höher fälschen ging beim besten Willen nicht, es gab erheblich mehr
Zivilcourage als anderswo, aber Helden lebten auch dort nicht. Statt dessen
veränderten sich die Freundeskreise durch fortwährenden, schmerzhaften Abgang
in den Westen. [...] Vielleicht war es diese Symbiose aus proletarischen
Widerstandsresten und der Sehnsucht junger Bewohner, ein selbstbestimmtes Leben
zu führen, die den Charakter des Bezirkes prägten. Legenden wachsen später, und
sie sind fast immer falsch. Prenzlauer Berg, heute sinnloserweise oft Prenzlberg genannt – angeblich soll der Oktoberclub für
diese Verniedlichung das Erstrecht haben, bevor es bedenkenlos von jedem
Szenefuzzi und Rundfunkreporter nachgequatscht wurde –, war ein verläßliches Netz aus Kneipen, Galerien und Wohnstätten, in
denen man bis zum frühen Morgen sitzen konnte und reden. Man kam mit wenig Geld
aus, oft reichten 300 bis 400 Mark im Monat. In den Texten des Buches finden sich
dafür zahlreiche Beispiele. Detlev Lücke im »Freitag« (21.01.2000)
Die Wahrheit über eine Legende? Das objektive
Bild vom Untergrund? Oder die Entzauberung eines Mythos, den es eigentlich nie
gegeben hat? Das einzige, was wirklich zutrifft: Nachdem »Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg« da ist, kann der größere Teil zum Thema erschienener,
eilfertig gestrickter Modeliteratur der Ablage anempfohlen werden. Dies hier,
die von Barbara Felsmann und Annett Gröschner herausgegebene »Berliner Künstlersozialgeschichte
in Selbstauskünften« (Untertitel), läßt viele
Vorgänger-Versuche reichlich grau aussehen.
Gespräche mit zwei Dutzend Zeitzeugen über Erinnerungen: drei Jahrzehnte in
besetzten Wohnungen, unter Stasi-Observierung, hin- und hergerissen zwischen Bohèhme, schöpferischem Streben, bewußter
Opposition und angstvoll erlittener Hausdurchsuchung. Eine aufwühlende Lektüre!
Was um alles in der Welt war denn dran an dem sagenhaften Stadtbezirk, daß er ein sprichwörtliches Zentrum militanten
Freund/Feind-Verhältnisses werden konnte? Weniger und mehr, als bisher
allgemein und wohl sogar den Beteiligten geläufig ist. Nun reden sie sich frei
und berichten von »intensivem«, ja »fröhlichem Leben« dort – neben bösen
Bedrängnissen. Es bleibt die Gewißheit, die DDR-Jahre
bespitzelt, jedoch überwiegend integer verbracht zu haben. Das Buch erweist
sich hauptsächlich als Dokument unanfechtbarer Menschlichkeit.
Die hatte, wie fakten- und stimmungsreich dargetan wird, überraschend viele
Erscheinungsformen. Eine der wichtigsten: Selbstbewußtsein.
Wer sich und seiner Freunde sicher war, konnte gewinnen. Folgerichtig liegen in
der streng alphabetischen Reihenfolge jene Buchbeiträge ganz vorn, die ruhig,
bescheiden, effektlos gerade darüber berichten. Sie stammen übrigens von
solchen Prenzlauer-Berg-Bewohnern, denen die neuzeitliche »Barbiepuppentünche«
aufgepeppter Häuser ein Greuel ist ebenso wie
oberflächlicher »Szene«-Tourismus. Günther Bellmann in der »Berliner
Morgenpost« (18.01.2000)
Diese »Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften«
ist ein spannendes Buch über Hinterhöfe, Außenklos,
Wasserschäden, Kneipentouren und Trinkgelage, heimliche Wohnungsaneignungen,
Salonkultur und wilde Familienverhältnisse; es verrät auch viel über das Selbstbewußtsein, mit dem hier Schriftsteller wie Bert Papenfuß, Peter Wawerzinek oder
Richard Pietraß neben bildenden Künstlern, Film- und
Theaterleuten ihre jungen Jahre Revue passieren lassen.
»Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« ist aber nicht zuletzt ein Buch über Sascha
Anderson: einen Mann, dessen Gegenwart aus all diesen Erinnerungen nicht
wegzudenken ist. [...] Der aufregendste Beitrag stammt dabei von seiner
mehrjährigen Freundin, der Töpferin Wilfriede Maaß. In ihrer autobiografischen
Skizze zeichnet sie zugleich ein Psychogramm des IM Anderson, der bis in die
Liebe hinein von der Lüge durchdrungen war. Genaueres über sein Doppelleben,
das sich einer allein moralischen Beurteilung entzieht, war jenseits der Akten
bisher nicht zu lesen. Gregor Dotzhauer im
»Tagesspiegel« (11.01.2000)
Ein Vorzug der Protokolle ist die Authentizität,
von der Fremde profitieren werden, die sich immerzu sagen lassen müssen, man
könne den Osten nicht verstehen, wenn man ihn nicht vierzig Jahre durchlebt
hätte. Genauso gut oder eher noch wäre plausibel, daß
ein Außenstehender die vorhandenen Zeugnisse schlüssiger in eine Beschreibung
umsetzt, weil er die Sache ohne Haß oder
Verlustgefühle verstehen kann. [...]
Unangenehm fällt der Text von Wilfriede Maaß aus dem Rahmen, die den damaligen Klatsch und Tratsch
um ihre Männer Ekkehard Maaß und Sascha Anderson
aufschüttelt, wohl ungebremst von der Interviewerin Barbara Felsmann. In diesem
sehr authentischen Kapitel überträgt sich freilich die Stimmung, die damals in
der als literarischer Salon legendären Maaß-Küche
geherrscht haben muß: eine Mischung aus Eifersucht,
Neid, weinerlicher Angeberei, Spionage und Geheimnisvolltun.
Es war wohl insgesamt ein langweiliges Dasein, und von Vielfältigkeiten und
Widersprüchen in biografischen Abschnitten ist kaum
etwas zu entdecken. [...]
Im Grunde hat man sich das alles schon so denken können, wie es jetzt hier
notiert ist. Und so fühlt sich der Leser bald genervt von der nur
»atmosphärischen« statt wissenschaftlichen Genauigkeit. [...]
Frank Böttcher erklärt in seinem mit eigener Biografie
ausgestatteten Vorwort, es handele sich bei diesem Buch um eine
Künstlersozialgeschichte, und so steht es auch auf dem Umschlag. Das ist
übertrieben, geradezu ein DDR-Euphemismus. Drei Prenzlauer Berger machen mit
fünfundzwanzig anderen Prenzlauer Bergern aus derselben sozialen Schicht ein
Buch über das eigene Leben in denselben Kreisen in Prenzlauer Berg.
Wissenschaft aber lebt von kritischer Sicht, die ist hier ausgeblendet. Im Schlußdialog, nachdem sich die beiden Herausgeberinnen auch
ihre Biografien erzählt haben [...], wird ostdeutsch
geschluchzt: »Gröschner: Es ist schon wieder so eine
ähnliche Agonie wie '89. – Felsmann: Empfindest du das so? – Gröschner: Ja. – Felsmann: Ich auch.« Martin Z. Schröder
in der »Berliner Zeitung« (11.01.2000)
Böttcher macht in seinem Vorwort keinen Hehl daraus, wies sehr ihm die neue Liaison von Tradition und Zeitgeist innerhalb dieses Bezirks mißfällt. [...] Mit seiner verbitterten, hochfahrenden Kritik entspricht der Verleger haargenau dem Klischee des schmollenden Intellektuellen, der sich von der Welt unverstanden fühlt. Wesentlich aufschlußreicher sind die Lebensgeschichten der Künstler, die im Prenzlauer Berg aufgewachsen sind und in diesem Buch ausführlich zu Wort kommen. Ihre Selbstauskünfte wurden von der Journalistin Barbara Felsmann, aber auch von Annett Gröschner dokumentiert, die mittlerweile von Magdeburg in die Bundeshauptstadt gezogen ist. [...] »Durchgangszimmer Prenzlauer Berg« – ein wunderbar unterhaltsames Geschichtsbuch. Lars Grote in der »Märkischen Allgemeinen« (28.02.2000)
Anm. des verbitterten, hochfahrenden,
schmollenden, unverstandenen Verlegers: Wie im Buch nachzulesen, lebt Annett Gröschner seit 13 Jahren
in Berlin, war dort also schon, als Prenzlauer Berg noch zur Hauptstadt der DDR
gehörte.
Herausgekommen ist in jedem Fall ein äußerst
spannendes Buch, das auch diejenigen interessieren müßte,
denen Kunst und Künstler wurscht sind, denn die Texte konfrontieren den Leser
mit erstaunlichen Lebensentwürfen, die in der DDR realisiert werden konnten. Gewiß, die DDR ist häufig als Nischengesellschaft
beschrieben worden – in diesem Buch aber findet man eine Vielzahl konkreter
Belege dafür, was ein solcher Begriff meinen könnte. Wer sich ernsthaft darum
bemüht, sich mit den unterschiedlichen deutsch-deutschen Wirklichkeiten
auseinanderzusetzen, wird an diesem Werk kaum vorbeigehen können, ohne sich dem
Verdacht der Ignoranz auszusetzen. »Hausarbeit«
»Was war der Prenzlauer Berg, bevor er zum ›Prenzlberg‹ verhunzt wurde?« fragt Verleger Frank Böttcher
und vermutet, daß dieses unaussprechliche Prenzlberg nur eine Erfindung eines eifrigen FDJ-Kaders
gewesen sein kann. Diese treffliche Bemerkung macht neugierig auf das dicke
Buch voller Selbstauskünfte von 26 wahren Prenzlauer-Berg-Protagonisten:
»Durchgangszimmer Prenzlauer Berg«. Wie es in den 60er, 70er und 80er Jahren
wirklich in diesem Bezirk mit seinen vielen Hinterhöfen und baumlosen Straßen
war, wird ganz unprätentiös von Künstlern, Intellektuellen und Kulturarbeitern
berichtet. Barbara Felsmann und Annett Gröschner haben wahre Dompteursarbeit
vollbracht, solche fabulierfreudigen Geschöpfe wie Elke Erb, Richard Pietraß, Peter Brasch und
Brigitte Struzyk am Erzählfaden zu halten. DIE
WELT (04.01.2000)
Außerhalb dieser ausdrücklich literarischen
Aktivitäten traf man sich in den normalen zur Verfügung stehenden Kneipen, die
nichts Schickes an sich hatten. Ein gerade unter dem Titel »Durchgangszimmer
Prenzlauer Berg« erschienene Anthologie von autobiographischen Skizzen aus dem
einschlägigen Milieu gibt den bisher komplettesten Überblick über die
Lokalitäten, die in den achtziger Jahren aufgesucht wurden. Mark Siemons in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
(8.12.1999) im Rahmen eines Beitrages über Berliner Kneipenstile
Es stimmt also doch: All die klischeehaften
Geschichten über das bunte Künstlervolk am Prenzlauer Berg stecken voller
Wahrheit. [...] Solche Selbstauskünfte bedienen auf eine subtile Art auch die
voyeuristische Ader des geneigten Lesers. »VorOrt.
Bauen und Wohnen in Prenzlauer Berg« 12/1999
Legt man am Ende das Buch aus der Hand, hat sich der Mythos Prenzlauer Berg von alleine verflüchtigt – zu vielfältig sind die Schilderungen. Statt dessen hat man Geschichten über Wohnungen, Kneipen, Arbeit, Träume, Ausreise, Kunst und Politik im Kopf. Setzt man diese in Beziehung zu einander, zeichnet sich so etwas wie eine geistige Infrastruktur des Prenzlauer Berges ab. Scheinschlag, Berliner Stadtteilzeitung, 12/1999