Georg Steinmeyer
Siegfried Kracauer als Denker des Pluralismus
Eine Annäherung im Spiegel Hannah Arendts

Georg Steinmeyer setzt sich als Ziel, Siegfried Kracauers (1889–1966) Exterritorialität, die sowohl biographisch als auch gattungsmäßig und werkgeschichtlich fundierbaren Schwierigkeiten der Einbeziehungsweise Zuordnung seines Denkens »als Herausforderung anzunehmen«. Nun sei zwar mit dem »Ende der Ideologien des 20. Jahrhunderts« nach der Ära des Kalten Krieges auch das »Scheitern eindimensionaler Denkmodelle« manifest geworden. Aber zugleich zeige sich im Gefolge einer mit der sogenannten Globalisierung verschärften, »in Ausmaß und Umfang neuartigen Tendenz zur Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche« eine wieder zunehmende Anfälligkeit »für neue Formen ideologischen Denkens«. Vor diesem Hintergrund erweise sich eine bleibende Aktualität dieses Autors, der bereits in den 1920er Jahren sich anbahnende, vergleichbare Tendenzen analysiert und – unter Einschluss auch der zeitgenössischen »marxistischen Gegenentwürfe« – einer schonungslosen Kapitalismus- und Ideologiekritik unterzogen habe. Steinmeyer setzt mit solchen motivationalen Hinweisen ein; dazu gehört auch ein freilich vergleichsweise recht skizzenhaft bleibender Forschungsbericht. Methodisch relevant für seine Interpretation, die er als »eine ganz neue Positionsbestimmung« verstandenwissen möchte, erscheint ihm der Rekurs auf den Begriff ›Pluralismus‹, den er erkenntnis-, handlungs- und gesellschaftstheoretisch mit ›Mehrdimensionalität‹ identifiziert. Berührungspunkte mit den unter dem Stichwort ›Postmoderne‹ seit den 1970er Jahren geführten Diskussionen erscheinen Steinmeyer zwar in der Sache relevant, der Begriff selbst aber wird problematisiert und abgelehnt.
Ein erster, hinführender Teil untersucht Kracauers geistiges Umfeld in den frühen 1920er Jahren. Hinsichtlich seiner verschiedentlichen Zuordnung zur Frankfurter Schule gelangt Steinmeyer, sich konzentrierend auf dessen trotz Freundschaft schwieriges Verhältnis zu Adorno, zu dem Resultat, dass Kracauer, wie insbesondere seine Beurteilung von Nationalsozialismus und Antisemitismus verdeutliche, »außerhalb der Frankfurter Schule« stehe. Auch könne von »einer Wendung oder gar einem Bruch« in seinem Denken nicht gesprochen werden; vielmehr biete sich der Eindruck »eines insgesamt […] durchaus kontinuierlichen Denk- und Werkprozesses«. Steinmeyer verweist ferner zur Abgrenzung auf das »primär aufklärerische Interesse« von Kracauers »kritischem Materialismus und kritischer Marx-Rezeption« und seinen dezidierten »Antideterminismus«, und zwar durchgängig bis herauf zu seinemletztenWerk, dem Geschichtsbuch von 1969. Ähnliches gelte bezüglich Kracauers Beziehungen zum Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus; auch darunter lasse er sich nicht »subsumieren«. Hier widerspricht Steinmeyer dezidiert der These, dass Kracauers Essay Die Bibel auf Deutsch (1926) zur Buber-RosenzweigÜbersetzung von 1925 »als Wendepunkt seines Denkens von einem theologischen hin zu einem materialistischen Denken« zu betrachten sei. So entstammt nach Steinmeyers Auffassung Kracauers Kritik an eskapistischer Religiosität, an ersatzreligiösen Gesellschaftsdoktrinen und am totalitären Ökonomismus »letztlich einer Wurzel desselben Denkansatzes: der Idee einer natürlichen Pluralität und Mehrdimensionalität der Welt wie der Menschen und der daraus folgenden Ablehnung jeglichen eindimensionalen Denkens«.
Damit ist der Übergang zum zweiten, größeren Teil der Untersuchung markiert ihrem Hauptteil, der sich gesamthaft als »Versuch einer neuen Einordnung« Kracauers zu verstehen gibt. Dafür werden, auch wenn es direkte Verbindungen zwischen beiden Autoren nicht gegeben haben dürfte, anhand zentraler Positionen im Werk der Zeitgenossin Hannah Arendt (1906–1975), »für deren politisches Denken der Begriff Pluralismus eine Schlüsselstellung einnimmt«, Berührungspunkte zur Profilierung Kracauers herangezogen; hervorhebenswert ist, dass dafür geschichtsphilosophische und gesellschafts-biographische Arbeiten beider Autoren berücksichtigt werden. Als Stichworte für Unterabschnitte firmieren vor allem: »Antikollektivismus« und »Pluralität«, »Handeln« als Konsequenz von Pluralität und »Öffentlichkeit«. Bemerkenswert erscheint der Hinweis auf die nicht überspringbare Dimension individueller Verantwortlichkeit, deren Einzigartigkeit im Sprechen als einer »Form desHandelns« in Erscheinung trete und als Äußerung von Freiheit zu würdigen sei; mit ihr erfolge der Schritt in die Öffentlichkeit als, wie es mit Arendt heißt, »das aktive Teilnehmen an der Polis, an den gesellschaftlichen Angelegenheiten«. Dies werde von ihr als »Wunder« im nicht-metaphysischen Sinn verstanden und folgendermaßen begründet: „[W]eil dieMenschen, so lange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unberechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht«. Auch Kracauer rechne mit solchen ›Wundern‹ im Sinne der zentralen »Rolle eines frei denkenden, nicht ideologisch gebundenen Individuums als entscheidendem Faktor«, verbunden mit der Möglichkeit des Setzens auf jederzeitige »Fähigkeit zum Neubeginn«, worin sich seine »Distanz zum Marxismus«, sein genereller »Antideterminismus« sowie sein dezidiert »antikollektivistisches Verständnis historischer Prozesse« dokumentieren – alsWarnung vor jeglicher »Flucht in die Metaphysik« einerseits, als Insistenz auf der Notwendigkeit der »Arbeit im Material« andererseits im Sinne einer beobachtenden, nicht interpolierenden »Hingabe an die Sachen«.
Abschließend will Steinmeyer vier Sätze zur Beschreibung von Kracauers Denken »thesenhaft-zugespitzt zur Diskussion stellen«: 1. »Kracauer ist ein Denker des Pluralismus«, als sein großes Vorbild firmiere Erasmus von Rotterdam. 2. »Kracauers Denken steht demDenkenHannah Arendts sehr viel näher als anderen Denkschulen«. Pluralismus stelle für beide eine Schlüsselgröße dar; bei beiden schwinge eine säkularisiert-eschatologischeDimension mit; beide seien »Denker des Individualismus«. Daraus ergeben sich die weiteren Sätze, nämlich 3. »Kracauer ist ein Denker der Freiheit«, für den Geschichte ein offener Prozess, also ohne prädeterminierte Zielrichtung, sei, und 4. »Kracauer ist ein Denker der Verantwortlichkeit«. Gesamthaft wird man diesen Leitsätzen zustimmen und sie auch als Charakteristika Kracauerschen Denkens akzeptieren können. Auch soll hier nicht bestritten werden, dass Steinmeyer, gerade durch den Vergleich mit Arendt, zu interessanten Einzelbeobachtungen kommt, die weiterführend sind. Allerdings bleibt angesichts des vergleichsweise hohen Allgemeinheitsgrades dieser Erkenntnisse, die sich so oder ähnlich auch für zahlreiche andere Denker nachweisen lassen dürften, dann doch die Frage, ob das für eine völlig neue Positionsbestimmung genügt.

Michael Kessler, in: Arbitrium 28, Heft 1

 

 

Kracauer ist als einer der bekanntesten Feuilletonisten der Weimarer Republik in Erinnerung geblieben. Nach seiner Emigration in die USA machte er sich einen Namen als Filmtheoretiker und arbeitete als Sozialwissenschaftler. Steinmeyer rückt ihn nun auf einen ganz eigenen Platz in der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts und dies nicht nur, weil sein Text »Die Angestellten« von 1930 »zu den ersten modernen empirisch-sozialwissenschaftlichen Studien überhaupt« zählt. Kracauer habe sich in einer an Ideologien reichen Zeit von jedem Denkmodell ferngehalten und der Eindimensionalität verweigert. »Ein anderer Beweggrund, sich Kracauer zuzuwenden, ist die immer wieder erstaunliche Aktualität von Beobachtungen« in seinen Texten. Dazu zählten seine Analysen »der Marginalisierung des Individuums durch die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche«. Steinmeyer leuchtet das geistige Umfeld Kracauers seit Beginn der frühen 20er Jahre aus – und grenzt ihn sowohl vom Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt als auch vom Institut für Sozialforschung seines Freundes Adorno ab. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Adorno hatte sich spätestens 1934 endgültig als unergiebig erwiesen, weil Kracauer sich dessen Analyse des Nationalsozialsozialismus auf Grundlage der marxistischen Theorie verweigerte. Kracauer erklärte den Aufstieg Hitlers vor allem mit speziellen deutschen Voraussetzungen, zu denen er die schwache Ausprägung einer bürgerlicher Kultur (im Sinne einer Zivilgesellschaft) zählte. Steinmeyer sieht Kracauer, der sich mit Kapitalismus wie Marxismus gleichermaßen kritisch auseinandersetzte, damit der Zuordnung einer Denkschule entzogen. Am ähnlichsten seien dem Ansatz seiner Texte die Schriften Arendts, bei beiden sei der Pluralismus eine Schlüsselkategorie, beide hätten Geschichte als »lesbar durch die Einzelleben« angesehen und gemeint, dass die Methode einer rein wissenschaftlichen Herangehensweise nicht genüge, »um ein tatsächlich brauchbares Bild der Geschichte zu bekommen«.
Natalie Wohlleben, in »Zeitschrift für Politikwissenschaft« (online) am 28. Oktober 2008