Peter Böthig (Hg.), Peter Walther (Hg.)

 

Die Russen sind da

 

Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in Tagebüchern aus Brandenburg

 

Brandenburg wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Schauplatz der letzten Schlachten, die vor allem im Zusammenhang mit dem Kampf um Berlin standen. Wer durch die Kleinstädte und Dörfer östlich von Berlin bis hin nach Stettin, Küstrin und Cottbus fährt, bekommt immer noch einen Eindruck von den Zerstörungen: Bis heute nicht geschlossene Lücken in der Bebauung der Innenstädte, Marktplätze, an denen die zerstörten Bürgerhäuser durch triste Plattenbauten ersetzt wurden, oder – wie im Falle Küstrins und Gubens – vollständig vernichtete Stadtzentren, die nach 1945 auch nicht wieder aufgebaut wurden, wo stattdessen nach der Trümmerbeseitigung nur die alten Straßen aus Kopfsteinpflaster auf riesigen öden Flächen noch an den einstigen, in Jahrhunderten gewachsenen Grundriss der Stadt erinnern.
Der stattliche Band zeigt nun sehr anschau­lich, wie die Menschen in Brandenburg die Endphase des Krieges 1944/45 und den Neu­beginn erlebt haben. Es geht vor allem darum, wie sich die großen politischen Entscheidungen im Leben der Menschen widerspiegelten. Was hat die Menschen im Alltag bewegt? Was haben sie empfunden und gedacht? Wie gestaltete sich ihr Alltag überhaupt? Wie haben sie die Politik wahrgenommen? Die Quellen bestehen aus Tagebucheinträgen, Briefen und Notizen aus Privatbesitz; es handelt sich großenteils um Zufallsfunde bzw. um Material, das erst auf mehrere Zeitungsaufrufe hin den Herausge­bern zur Sichtung und Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde.
Die Dokumente geben abseits der großen Politik einen authentischen Einblick in die Sorgen und Nöte der Menschen. Man erfährt, wie in den Dörfern und Städten der branden­burgischen Provinz ums Überleben gekämpft wurde, wie nebenbei das Kriegsende erwähnt wird, wie das Leben beispielsweise in Cottbus, das mit Flüchtlingen aus Ostbrandenburg, Hinterpommern und Schlesien völlig überfüllt war, nur sehr schwer wieder in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt werden konnte. Es sind Berichte von der Hoffnungslosigkeit, anfangs auch vom Wissen um die eigene Gefährdung, falls die Tagebücher den Nazis in die Hände fallen sollten, ebenso von der Ahnung der drohenden Spaltung Deutsch­lands, von der Furcht vor Übergriffen der Besatzungsmacht. Diese Texte wechseln sich ab mit Schilderungen gelegentlich empfundener Freude, wenn es beispielsweise gelungen ist, die Ernährung und damit das Überleben für die nächsten Tage zu sichern.
Ergänzt wird der Band durch einen umfangreichen Bildteil, der ausnahmslos bisher unveröffentlichte Farbfotografien aus Privatbesitz aus den Jahren 1939 bis 1948 enthält. Gerade in der Harmlosigkeit und Alltäglichkeit der Szenen im häuslichen Umfeld bilden die Aufnahmen einen starken Kontrast zum Kriegsgeschehen. Darüber hinaus haben Bürger aber auch das fotografiert, was die Propaganda so nie gezeigt hätte: das zum Schutz vor Luftangriffen bunkerartig verstärkte Schloss Sanssouci in Potsdam und zerstörte Häuser in den Kleinstädten.
Ein kurzes Geleitwort des Schriftstellers Günter de Bruyn, eine das Kriegsende in Brandenburg skizzierende Einleitung der Herausgeber und ein umfangreiches, die geschichtliche Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick nehmendes Nachwort des Publizisten und ehemaligen Herausgebers der Märkischen Allgemeinen Zeitung, Alexander Gauland, ordnen die Epoche, aus der die Dokumente stammen, in den größeren historischen Kontext ein. Da es immer weniger Zeitzeugen gibt, sind Bücher wie dieses sehr wichtig. Ein Buch, das den Leser fesseln kann, aber auch nachdenklich macht.
Frank Behne, in: geschichte für heute. zeitschrift für historisch-politische bildung, 4. Jahrgang (2012)

 

Selbst wenn bestimmte Geschichtsabschnitte gut dokumentiert und von den Historikern gründlich erforscht sind und deshalb gut bekannt zu sein scheinen, so wissen wir dennoch von den Erlebnissen, den Gedanken und Gefühlen jener, die im Strudel der Ereignisse Handelnde oder Leidende waren, oft nur wenig. Das gilt vor allem, wenn es um schlimme Zeiten geht, wie die Katastrophe, in die 1945 in Brandenburg Millionen von Menschen gestürzt wurden. Erklärlicherweise sind Tagebücher oder andere Aufzeichnungen aus diesem und den folgenden Jahren, die erhalten blieben und auch publiziert wurden, sehr selten, wie es auch die Literaturhinweise belegen. Schon aus diesem Grund ist der hier vorliegende Band eine Veröffentlichung, der man viele Leser wünscht.
Das Brandenburgische Literaturbüro und das Kurt Tucholsky Literaturmuseum starteten dafür im Frühjahr 2008 einen Aufruf in Zeitungen, in Funk und Fernsehen mit der Bitte, entsprechende Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich wurden Anfragen an Archive und andere Institutionen gerichtet. Die Suche ergab im Verlauf von zwei Jahren erstaunliche 120 Tagebücher bzw. Briefsammlungen, aus denen 32 ausgewählt wurden. Einige davon stellte das Brandenburgische Tagebucharchiv sowie das Archiv der Stiftung Haus Brandenburg zur Verfügung. Ihre Verfasser -unter ihnen Hausfrauen, Gewerbetreibende, Soldaten, Landarbeiter, KZ-Häftlinge, Inhaftierte in sowjetischen Speziallagern – erlebten den Einmarsch der sowjetischen Truppen an sehr unterschiedlichen Orten (drei jenseits von Oder und Neiße in Ostbrandenburg, andere vorwiegend östlich und westlich von Berlin) und in sehr unterschiedlicher Weise. Auch der Umfang der Niederschriften differiert sehr. Im Mittelpunkt stehen häufig die zahlreichen Selbstmorde deutscher Familien beim Heranrücken der Roten Armee; die Plünderungen, Willkürakte, Vergewaltigungen, Erschießungen deutscher Soldaten oder Zivilisten sowie Brandschatzungen durch russische, aber auch polnische Soldaten. Andere Schreiber erlebten hingegen »überraschende Akte von Hilfsbereitschaft«.
Die Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum vom 15. Februar 1944 bis 6. Oktober 1949, beschreiben also nicht nur das Kriegsende, sondern auch die Jahre danach, mit ihrem Flüchtlingselend, mit Hunger, Wohnungsnot, dem »radikalen Elitentausch«, der Bodenreform, dem beginnenden Wiederaufbau usw. Die beiden Herausgeber Peter Böthig (Germanist, Leiter des Kurt Tucholsky Literaturmuseums in Rheinsberg) und Peter Walther (Germanist, Brandenburgisches Literaturmuseum) entschieden sich für eine chronologische Wiedergabe nach Kalendertagen, an denen ein oder mehrere Schreiber zeitgleich von ihren Tageserlebnissen berichteten (z.B. 23. April 1945: Kleingewerbetreibende aus Rathenow, Lehrerin aus Cottbus, KZ-Häftling aus Sachsenhausen, Gaststätteninhaberin aus einem Ort bei Falkensee, ein namentlich Unbekannter aus Nauen). Damit werden Vergleiche möglich, die ansonsten nur schwierig zu bewältigen sein dürften. Durch das beigefügte »Verzeichnis der Einträge nach Personen« kann man die Aufzeichnungen einer bestimmten Person auch als Ganzes lesen. Soweit sie zu ermitteln waren, sind zu den Tagebuchschreibern biographische Daten angegeben. Historiker, Ortschronisten und Heimatforscher dürften das Ortsverzeichnis dankbar zur Kenntnis nehmen.
Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Aufzeichnungen stets die subjektive Sichtweise des jeweiligen Schreibers wiedergeben, können sie aufschlussreiche Beiträge zur Ortsgeschichte sein. Das Nachwort »Restauration oder Neubeginn? Deutschland nach 1945« stammt von Alexander Gauland, das Geleitwort von Günter de Bruyn. Ein überzeugender Kunstgriff ist die Wiedergabe von Farbaufnahmen, die auf Agfacolor-DIA-Material entstanden. Die Herausgeber weisen daraufhin, dass ihre Überlieferung ebenso zufällig ist wie die der Texte, und: »In ihrer Farbigkeit verbürgen die Fotos einen ähnlich authentischen Charakter wie die Tagebuch-Aufzeichnungen durch die zeitliche Nähe zum Geschehen.«
Günter Nagel, in Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 2011

 

Der umfangreiche Sammelband mit Auszügen aus Aufzeichnungen und Briefen 1944–1949, der unter dem Titel »Die Russen sind da« von den beiden Germanisten Peter Böthig und Peter Walther erarbeitet wurde, ist von anderem Zuschnitt. Man fragt sich, warum in den 66 Jahren nach Kriegsende oder zumindest in den 22 Jahren seit dem Mauerfall noch niemand nach derart unschätzbaren Zeugnissen über »Kriegsalltag und Neubeginn 1945« (Untertitel) gesucht hat, und man wundert sich, dass nach so langer Zeit überhaupt noch solche Texte auffindbar waren. Insofern ist dieses Buch, dem ähnliche über Sachsen und Thüringen folgen sollten, ein einzigartiger Glücksfall und ein Meisterwerk dazu! Das Geleitwort stammt von dem Schriftsteller Günter de Bruyn (1926), der nach 1989 auch in Westdeutschland mit seinen autobiografischen Büchern »Zwischenbilanz« (1992) und »Vierzig Jahre« (1996) bekannt wurde.
In der klugen Einleitung sprechen die beiden Herausgeber, die die circa 120 Brief Sammlungen und Tagebücher ausgewertet haben, von der berechtigten Angst der Deutschen, den Soldaten der Roten Armee und später der Besatzungsmacht hilflos ausgeliefert zu sein: »In manchen Fällen endete (die Begegnung) mit überraschenden Akten von Hilfsbereitschaft. Häu­figer aber war sie mit Plünderungen, Misshandlung, Verhaftung, Verschleppung, zuweilen auch mit der Auslöschung ganzer Familien verbunden. Mädchen und Frauen wurden, wenn es ihnen nicht immer wie­der neu gelang, sich zu verstecken, regelmäßig Opfer von Vergewaltigungen.«
Die Fülle der Texte ist in drei Abschnitte gegliedert, vielleicht etwas überzogen, nach musikwissenschaftlichen Kriterien »Präludium«, »Cantus firmus« und »Coda« benannt, deren erster auf den 15. Februar 1944 datiert ist und deren letzter auf den 6. Oktober 1949, einen Tag vor der Gründung der DDR. Anerkennenswert ist, dass das jenseits von Oder und Lausitzer Neiße liegende Ost-Brandenburg, immerhin ein Drittel der einst preußischen Provinz, einbezogen wurde. So findet man Texte aus Landsberg an der Warthe, dem Geburtsort der Schriftstellerin Christa Wolf, aus Lebus an der Oder und aus Woldenburg/Neumark.
Das Nachwort stammt von Alexander Gauland, der leider nirgendwo vorgestellt wird und der vermutlich, wenn überhaupt, nur Brandenburgern als einstiger Herausgeber der »Märkischen Allgemeinen Zeitung« in Potsdam bekannt sein dürfte. Der Band schließt mit Anmerkungen, Verfasserbiografien und Literaturhinweisen.
Am ergiebigsten für den Historiker sind die Aufzeichnungen, die einen längeren Zeitraum umfassten wie die des Buchdruckers Ernst Grencku (1882–1947) aus Seddin bei Potsdam. Er war das Kind einer noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Polen nach Berlin eingewanderten Familie und sah den Untergang des »Dritten Reiches« aus kritisch-distanzierter Position: »Die deutsche Bestie beißt noch um sich, sie ist angeschlagen, aber noch lange nicht kampfunfähig. Sicher ist ein großer Teil kriegsmüde, aber nur deswegen, weil ihnen die Mühen und Entbehrungen langsam auf die Nerven gehen. Keiner sieht das grenzenlose Unrecht ein, welches dieses deutsche Räubervolk begangen hat und weiter begeht. Also werden auch wir wenigen Menschen, die den Krieg und das ungeheure Leid ver­abscheuen, noch vieles erdulden müssen (15. Februar 1944) Ein Jahr später wurden seine Voraussagen in schrecklicher Weise bestätigt: »Alle Landstraßen sind voll von Trecks: unglückliche Menschen, welche ihr Heim und zugleich ihre Existenz verloren haben, um vielleicht niemals dahin zurückkehren zu kön­nen, woher sie kamen. Die Nemesis, die Vergeltun; für das furchtbare Verbrechen, welche das deutsche Volk an der Menschheit begangen hat, findet mit ei­ner gerechten Sühne seinen Abschluss
Diese Einträge, die Grencku in kyrillischer Schrift vornahm, um nicht entdeckt zu werden, werden durch zwei Extrembeispiele ergänzt: durch Briefe Hans Münchebergs, seit 1940 Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Potsdam, der in jugendlicher Begeisterung auf den »Endsieg« wartet, an seine Mutter in Templin. Und in scharfem Kontrast Bazu stehen die Briefe von KZ-Häftlingen, die in den letzten Kriegswochen quer durch Deutschland getrieben wurden, wie der des Rostocker Beamten Rudolf Sundermann, der am 21. Mai 1944 aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen an seine Tochter schrieb.
Diese Sammlung authentischer Texte ist mitunter spannend wie ein Kriminalroman, besonders, wenn es sich um über Jahre fortlaufende Korrespondenzen oder Tagebucheinträge handelt, sodass man als neugieriger Leser bedauert, wenn ein Schreiber wie der Sozialdemokrat Ernst Grencku, der durch scharfe Bnalysen und bissige Kommentare auffiel, 1947 plötzlich verstummte: »Alle die Menschen, die sich heute so antifaschistisch gebärden, sind doch dieselben, welche noch vor kurzer Zeit voll und ganz nationalsozialistisch dachten und handelten, dieselben, welche meterlange Hitlerfahnen aus den Fenster hingen und in den Spendenlisten mit wahnsinnig hohen Beträgen verzeichnet waren. Die mich auf der Arbeitsstelle nur als ein böses Tier betrachteten und vielfach auch so behandelten. Sofern nicht alle diese sogenannten kleinen Nazis auch zur Rechenschaft gezogen werden. ist alle Hoffnung auf eine wirklich friedliche Entwicklung hier eine glatte Illusion.« (9. September 1945) So war ihm in den beiden Nachkriegsjahren, die Grencku noch zu leben hatte, immer wieder aufgefallen, wie wenig die angeblich antifaschistische Sowjetmacht gegen die alten Nazis in seiner Umgebung unternahm.
Es war die von Hoffnung erfüllte Übergangszeit vom Ende der einen Diktatur bis zum Beginn der anderen. Überall herrschten Hunger und Hoffnungslosigkeit, geplündert wurde Tag und Nacht, Frauen und Mädchen wurden massenweise vergewaltigt, Männer wahllos verschleppt oder erschossen. Wo es keine Zeitungen mehr gab, mussten unsinnige Gerüchte aufkommen wie: Die Russen zögen sich hinter Oder und Neiße zurück und die Amerikaner rückten ein! Das Denken aus der NS-Zeit war selbst bei jungen Leuten, die den Krieg miterlebt hatten, noch stark ausgeprägt. So schrieb die 1925 geborene Hanneliese Henow am 17. Mai 1945 aus Senzig bei Königswusterhausen in ihr Tagebuch: »Außerdem muss man viele Stunden anstehen und sich von einem Dorfpolizisten, diesmal einem ehemaligen Zuchthäusler, fortjagen lassen, wenn man schon vor der Geschäftszeit ansteht.« Dass es sich bei dem »ehemaligen Zuchthäusler« auch um einen politischen Häftling gehandelt haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
Aber es gab auch Beispiele für das konfliktfreie Überwechseln in andere Ideologien: Die Brüder Klaus und Hans Müncheberg, 1927 und 1929 geboren, waren als überzeugte Nationalsozialisten 1945 noch im Kampfeinsatz für den »Endsieg« und wurden schwer verwundet. Das politische Umdenken erfolgte in den ersten Nachkriegswochen. Sie wurden Mitglieder der Freien Deutschen Jugend, machten Abitur, studierten und stiegen auf der Karriereleiter rasch nach oben. Von Anna Seghers gefördert schrieb Hans 1972/74 für die Erzählungen »Agathe Schweigert« (1965) und »Das Schilfrohr« (1965) die Drehbücher der DEFA-Verfilmungen und veröffentlichte nach dem Mauerfall seinen autobiografischen Roman »Gelobt sei, was hart macht« (1991/2002). Klaus Müncheberg wurde Wirtschaftsfunktionär und war seit 1959 Mitglied der Staatlichen Plankommission. Beide Brüder schrieben im Herbst 1947 begeisterte Briefe über ihr neues Leben als FDJ-Funktionäre.
Willy Lorenz wurde als Landwirt am 22. Juni 1945 aus Lebus am Ostufer der Oder vertrieben und ging nach Reitwein im Oderbruch, später nach Bückwitz nordwestlich von Berlin, von wo aus er 1948/49 die Flugzeuge der »Luftbrücke« sehen und hören konnte: »Die amerikanischen Flugzeuge für Berlin fliegen Tag und Nacht, um Berlin mit Lebensmitteln zu versorgen. In der Nacht fliegen sie über unsern Hof, von dem Lärm der Motoren werde ich oftmals wach.« Bevor er 1956 nach Westdeutschland floh, konnte er noch einmal über die Oder in die alte Heimat schauen: »Von Tante Bertchen habe ich ein Fernglas mitge­nommen und habe mir von einem hohen Berg neben dem Friedhof meine alte Heimat angesehen. Durch das Glas konnte ich über die Oder fast alle Gehöfte der Nachbarn erkennen und konnte auch ganz deut­lich erkennen, dass dort schon Polen ansässig waren
Jörg Bernhard Bilke, in: Deutschland Archiv 44 (2011)

 

Sie haben gelitten, gehofft – und sie haben geschrieben: auf Kalenderblättern, Zetteln oder in ganzen Tagebüchern. Viele Menschen brachten in den letzten Kriegstagen und der ersten Zeit danach ihre ganz persönlichen Erlebnisse zu Papier – ungeschminkt und ohne Schnörkel, verfasst in Straßengräben oder schnell mal zwischendurch in einer der wenigen ruhigen Minuten in einer sonst so aufreibenden Zeit.
Peter Böthig und Peter Walther haben aus diesen Aufzeichnungen ein Buch gemacht. Es heißt »Die Russen sind da, Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in Tagebüchern aus Brandenburg«. Klaus Büstrin – von Hause aus Journalist – und Jochen Röhricht – ein ehemaliger Schauspieler – lasen am Donnerstagabend im Kapitelsaal des Klosters in Heiligengrabe aus dem Werk.
Die Texte spiegeln Furcht und Hoffnung zugleich wider. Sie malen ein Bild, das einerseits voller Leid, Tod und Grausamkeiten ist, gleichzeitig aber auch die unbändige Freude über die wiedererlangten scheinbar banalen Dinge des Alltags deutlich macht. Da werden »auf einer Strecke von sechs Kilometern zwölf Tote« gezählt, gleichzeitig wird aber auch berichtet, »dass wir heute Stangenbohnen gelegt haben« oder »dass ich heute zum ersten Mal wieder Spinat gegessen habe«.
Rund 120 Tagebücher liegen dem Buch zugrunde. Zusammengetragen wurden sie in etwa zwei Jahren. »Das war nicht leicht, denn wie kommt man überhaupt an private Tagebücher aus dieser Zeit heran?«, beschrieb Herausgeber Peter Walther die Anfänge. Veröffentlichungen in regionalen Tageszeitungen – auch in der MAZ – halfen, die Sache ins Laufen zu bringen. Außerdem mussten Menschen gefunden werden, die das Material aufarbeiteten und lesbar machten – eine schwierige Aufgabe. »Denn die Texte waren zum Teil nur noch schwer zu entziffern«, sagt Jochen Röhricht. In einem Fall waren sogar deutsche Worte mit kyrillischen Buchstaben geschrieben worden, um die Aufzeichnungen vor den Russen zu tarnen, berichtete Peter Walther.
Röhricht und Büstrin sorgten am Donnerstagabend dafür, dass die Stimmung jener Zeit wieder auflebte – als die Menschen vor der Entscheidung standen, vor den Russen zu fliehen oder zu bleiben, als das tägliche Leben mehr einem Überleben glich, als es darum ging, seinen ganz persönlichen Neubeginn irgendwie in den Griff zu bekommen.
Für die Lesung waren die Aufzeichnungen von vier Menschen herausgegriffen worden: Helene Parpart (1888-1964), eine Lehrerin aus Oehna bei Jüterbog; Elisabeth Buchholtz (1870-1964), Pfarrersfrau aus Neuruppin; Robert Burmeister aus Nauen und Reinhold Heinen (1894-1969), Journalist, evakuiert aus dem KZ Sachsenhausen bei Wittenberge.
Es war vor allem die klare und knappe Sprache, die den Zuhörern am Donnerstag auffiel. »Gestern bei Schmidts gewogen – 84 Pfund. So wenig hatte ich nicht vermutet. Da wog wohl Mütterchen mit 96 Jahren mehr. Ich aß eine Schinkenstulle bei Hanna und bei Bertholds zwei Birnen. Alles ungewohnte und gewiß einzige Genüsse«, schreibt zum Beispiel Elisabeth Buchholtz.
Björn Wagener, in: Märkische Allgemeine am 21.05.2011

 

»Geschichte«, hat Voltaire gesagt, »ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.« Der Philosoph, der so scharfsinnig wie bissig sein konnte, hat das Feld der Geschichtsschreibung selbst intensiv beackert. Mit seinen jede übernatürliche Spekulation ausblendenden, kritisch hinterfragenden und über den Horizont enger personen-zentrierter Chronologie hinausreichenden Darstellungen ist er einer der Väter der modernen Geschichtsschreibung. Er hat ihr den Weg vorgezeichnet, sich nicht allein auf politische Verwerfungen zu stürzen, sondern ein Bild zu zeichnen, in dem Lebensverhältnisse, Kultur, Wissenschaft und Politik miteinander verschränkt werden. Zugleich aber hat er sich eingestehen müssen, dass das Ergebnis immer die Farben des Verfassers tragen wird. Die Wahrnehmung von Geschichte, das meint sein pointierter Satz, ist stets subjektiv. Und vor allem in ideologisch aufgeheizten Zeiten sehr anfällig dafür, besonders verzerrte Bilder zu liefern.
Als Paradebeispiel dafür kann die Aufarbeitung des Untergangs Hitler-Deutschlands gelten. Da war vieles lange ein Tabu, die Verstrickung der Wehrmacht in die schlimmsten Verbrechen des Dritten Reiches zum Beispiel oder die Karrieren, die ehemalige SS- und Gestapo-Angehörige, KZ-Wächter und Mitarbeiter des Volksgerichtshofs in der Bundesrepublik, aber auch in der sich immer antifaschistisch gebenden DDR machten. Olaf Kappelt hat Jahrzehnte über dieses Kapitel ostdeutscher Geschichte recherchiert. Sein »Braunbuch DDR« verschwand bis 1989 in Mielkes Panzerschrank. Seine Studie über den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten im SED-Staat erschien erst 1997.
Genauso wurden die Übergriffe sowjeti­scher Soldaten und die furchtbaren Mas­senvergewaltigungen deutscher Frauen lange totgeschwiegen. Als in den 1950er-Jahren ein Manuskript einer anonymen Autorin auftauchte, in dem sie das Mar­tyrium schilderte, das die Berlinerinnen nach dem Einmarsch der Roten Armee über sich ergehen lassen mussten, fand sich kein Verlag in der jungen Bundes­republik, der das Manuskript veröffentli­chen wollte. In der DDR hatte es ohnehin keine Chance. Nachdem es 1959 in der Schweiz erschienen war, blieb das Buch in beiden deutschen Staaten ohne Echo. Erst als Hans Magnus Enzensberger vor acht Jahren »Eine Frau in Berlin« herausgab, wurde der anonyme Bericht von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenom­men – und löste sofort Diskussionen aus. Nun sind solche Mitteilungen von Zeit­zeugen zwar die reinste Subjektivität, aber dennoch für die Nachgeborenen von unschätzbarem Wert, die sich anhand sol­cher Notizen ein eignes Bild der Vergangenheit und vom Alltag der Menschen machen können und das ohne die Filter, die bereits Voltaire kritisiert hat.
Solche Quellen der Allgemeinheit zugänglich zu machen, das haben sich das brandenburgische Litera­urbüro in Potsdam und des Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg mit dem Projekt »Zeitstimmen« zur Aufgabe gemacht. Dafür sammeln und archivieren sie Tagebücher von Branden­burgern, die auf der Internet­seite www.zeitstimmen.de veröffentlicht werden.
Diese privaten Aufzeichnun­gen umfassen einen Zeit­raum von fast 200 Jahren. Es beginnt mit den Notizen von Christiane Jacobi. Sie wurde um 1790 geboren, und von ihr sind Mitteilungen aus dem Jahre 1813 erhalten, die unter anderem

von den Aus­wirkungen der Befreiungs­kriege berich­ten, von Of­fizieren, die sehr freund­lich sind und die dem Volk auferlegten Lasten sehr be­dauern, um dann entschlos­sen zu requirieren, was Scheune und Bo­den hergeben.
Freiwild für Plünderer zu sein, darüber be­klagt sich zwei Jahrhunderte später auch die Hornoer Pfarrerin Dagmar Wellenbrink-Dudat. Sie erzählt von der Zeit, als die Homoer ihr Dorf verlassen mussten, bevor es wegen der Braunkohleförderung abgebaggert wurde. Wie »Leichenfledde­rer«, schreibt sie, seien die Menschen aus den umliegenden Regionen in das ster­bende aber noch immer bewohnte Horno eingefallen, um dort zu stehlen, was ih­nen irgend brauchbar erschien.
Für das Zeitstimmen-Projekt konnten nun auch etliche Tagebücher zusammen­getragen werden, die detailliert vom All­tag unmittelbar vor und nach dem En­de des Zweiten Weltkriegs berichten. Sie sind nicht nur im Internet zu finden, sondern jetzt in einem von Peter Böthig und Peter Walther herausgegebenen Buch er­schienen. »Die Russen sind da« heißt es. Die Aufzeichnungen beginnen ein Jahr vor Kriegsende. Es ist die Zeit als, sol­che in den »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« zurechtgebogenen Jugendlichen wie Hans Müncheberg noch euphorisch an Deutschland glaubten. Der Napola-Schüler wird sich nach 1945 den Sowjets andienen, um einen Studienplatz zu bekommen und sich später selbstkritisch mit seiner Vergangenheit aus­einandersetzen. Wer 1944 die Augen auf­macht, wie das der Seddiner Buchdrucker Erns Grencku tut, sieht Deutschland sich selbst sein Grab schaufeln. Vom »gren­zenlosen Unrecht« des »deutschen Räu-bervolkes« schreibt und sieht bereits die Rache voraus, die die Deutschen bald treffen wird.
Fassungslos erleben sie mit, wie der Krieg, den sie in die Welt hinausgetragen haben, nun zu ihnen zurückkehrt, wie die Neumark, Cottbus oder Landsberg an der Warthe plötzlich zum Kriegsschauplatz und völlig verwüstet werden, wie sich Flüchtlingsströme in das Land ergießen und die Menschen sich aus Verzweiflung in Massenselbstmorde stürzen.
Das Ende des Krieges erscheint da nicht als ein Akt der Befreiung, sondern als nahtloser Übergang vom Chaos zur Will­kürherrschaft, mit der die russischen Sol­daten Brandenburg überziehen. Sie plün­dern und vergewaltigen und töten auch wahllos. Sie werden besonders gefähr­lich und unberechenbar, wenn sie betrun­ken sind, und das sind sie regelmäßig. Es gibt natürlich auch die freundlicheren Russen, aber die Nachricht über sie sind weit seltener.
Die Skepsis den Siegern gegenüber ist groß, genauso wie die zu dem neuen System, das sie installieren, das nicht unbe­dingt von unten gewollt, aber von oben durchgesetzt wird. Bei der Wahl 1946, hält der Landwirt Willi Lorenz fest, ist es die CDU, die 65 Prozent der Stimmen er­reicht.
Es ist kein demokratischer Prozess, der der SED schließlich die Führungsrolle über­trägt, sondern ein diktatorischer Akt, der die Lethargie eines Volkes ausnutzt, dass sich in erster Linie um sein Überleben sorgt. Politik ist in dem zerstörten, ausgebluteten, »von Korruption und Betrug« – so berichtet Grencku – heimgesuchten Land zunächst zweitrangig. Als er sich die Frage stellt, wer in der Sowjetzone künftig »die Oberhand« haben wird, notiert Willy Lorenz im Mai 1949: »Wir überlassen es dem Schicksal. Wir können ja daran doch nichts ändern Am 6. Oktober 1949, einen Tag vor der Gründung der DDR schreibt die Rathenowerin Hildegard Muschan in ihr Tagebuch: »Eine Regierung ohne Volk, denn die 18 Millionen Deutsche werden nicht gefragt.«
Uwe Stiehler, in: Märkische Oderzeitung, Brandenburger Blätter Nr. 216, 18. Februar 2011

 

 

Am 5. März schreibt Bäckermeister Erich Klietmann aus Landsberg/Warthe:»Habe mich reichlich mit allem versorgt. Habe Lieges schon 3 x mit Marmelade und Essiggurken ausgeholfen, wenn ich die Sachen alle für mich behalten kann, habe ich keine Not zu fürchten. Fleisch u. Knochen haben wir von Paula Giebels reichlich. Fleisch habe ich bis jetzt immer sehr reichlich gehabt, esse gut und so viel ich kann.«
Ein unbekannter Unternehmer aus Cott­bus ist unterdessen mit Fluchtgedanken befasst. Am 6. März notiert er: »Wir wohnen noch bei Dr. Fischer und haben es geschafft, alle Möbel soweit gut untergebracht. Meine Angestellten sind alle weg, und die Stadt wird langsam richtig leer, doch wir wollen erst gehen, wenn es sein muss. Vielleicht wird Cottbus doch verschont und alles wird gut. Es gibt doch immer wieder Arbeit, da lässt sich alles ertragen. Breslau wird um­kämpft, Lauban, ach, das schöne Schlesien ist wieder mal dran
Von einem unbekannten Soldaten, gefal­len bei Klessin im Oderbruch, liest man die Notiz vom 10. März: »Furchtbare Kämpfe um den Ort! Ein Wunder, dass man noch lebt. Wir werden langsam weniger
Am 21. März greift auch der Tagebuch­schreiber aus Cottbus wieder zur Feder und gibt sich bedrückt: »Frühlingsanfang, ich habe Weidenkätzchen, doch es will diesmal die Sonne in unserem Herzen nicht schei­nen, man lebt in Angst, ob wir raus müssen, wie oft die Bomber uns besuchen werden, es ist schlimm um alles bestellt. Mutti hofft auch immer, nicht fort zu müssen, es wäre traurig, zu den Flüchtlingen zählen zu müs­sen. Hilmar ist in Boizenburg a. d. Elbe ge­landet, von Marienburg Westpr. 800 km marschiert, ein grausames Leben. Man lebt von Tag zu Tag und hofft, dass alles noch gut wird
Skepsis und Mutlosigkeit macht sich bei Ernst Grencku breit, Buchdrucker in Seddin bei Potsdam. Am 1. April 1945 schreibt er: »Ostern! Im Osten steht die Front noch im­mer an der Oder. Bald werden die Russen genügend Kriegsmaterial, Treibstoff und Reserven gesammelt haben, um Branden­burg mit Berlin zu erobern. Vielleicht dauert es noch einige Tage, aber dann ist es soweit, dass auch über uns hier die Vernichtung hereinbricht. Und selbst wenn man diesen Endkampf überleben würde, dann droht eine Hungersnot, welche ich und alle alten, nicht mehr arbeitsfähigen Menschen nicht überstehen würden. Dann ist eben der Le­benstraum ausgeträumt
Mit dem eigenen Schicksal hadernd, sin­niert Erich Grencku auch über die politische Zukunft: »Und doch geht es wohl nicht an­ders. Deutschland als politischer Faktor muss nach seinem zweimaligen Weltkriegs-

verbrechen von der Erde verschwinden, da­mit der Weg für die Vereinigten Staaten Eu­ropas frei wird. Genauso wie Japan, zum Se­gen und Frieden der friedliebenden Men­schen. (…)«
Und in pathetischem Ernst fährt er fort: »Ich will dieses Heft schließen mit dem Wunsch: Möge die Sühne, welche das deut­sche Volk und die deutschen Menschen für ihre ungeheuerlichen Verbrechen an den ei­genen Volksgenossen und an Millionen Menschen anderer Völker (…) treffen muss und wird, gerecht sein. Für jeden nach dem Grade seiner Beteiligung und Förderung. Das gebe der gerechte Tod
Mitte April geht es dann aber sehr amtlich zu. Ein unbekannter Autor aus Nauen schreibt: »Heute erschien der erste Mauer­anschlag, Tagesbefehl des russischen Mili­tärkommandos, Oberbefehlshaber der Bjelo-Russischen Front, Marschall der SU, G. Schukow, Marschall-Stelle über Deutsch­land (…)
Tagesbefehl Truppen der Bjelo-Russi­schen Front 15.4.45 Nr. 5 im Felde:
1. Das ehemalige deutsche Gebiet der Pro­vinzen Brandenburg und Pommern, das z. Z. von den Fronttruppen besetzt ist, ist frontnahes Gebiet.
2. Verwaltungsmacht in diesem Gebiet wird vom Militärkommando durch die Mili­tärkommandanten ausgeübt.
3. Durch die Militärkommandanten wird in jeder Stadt eine vollziehende Gewalt be­stimmt (Bürgermeister).
Aber es bleibt nicht bei amtlichen Mittei­lungen. Hildegard Muschan, eine Kleinge­werbetreibende aus Rathenow notiert am 29. April 1945: »Die Schießerei ist unerträg­lich. Mittags um halb 2 Uhr kommen viele Rus­sen und treiben uns aus dem Haus. 3 Koffer konnte ich mitnehmen, der wertvolle Ruck­sack blieb zurück Und einen Tag später schreibt sie: »Wir sind im Buchenweg bei Al­brechts. Die Nacht vom Sonntag war furcht­bar, 3 betrunkene Russen, 3 Schüsse fielen, Gott Lob passierte uns nichts. Wir sind 16 Personen in einem Zimmer. Nichts zu es­sen. Man möchte verzweifeln. Fritz schützt mich vor der Vergewaltigung. Ich klammere mich an ihn
Am 8. Mai 1945, dem Tag des Kriegsendes, weiß Helene Parpart, Lehrerin aus Oehna bei Jüterbog, noch nichts von der neuen Nach­richtenlage. »Ein Holländer erzählt, dass heute Nacht der Friede diktiert werde. Es gibt keinen Strom, deshalb kein Wasser, kein Radio. 2 Frauen erzählen sich an der Pumpe: in Jüterbog haben sich ja so viele das Leben genommen. Ja, sehr viele, aber das nützt einem ja auch nichts. Frauen, die von Cott­bus nach Zeitz unterwegs sind, wollen Quartier, ebenso Soldaten. Wir lehnen ab, denn es gibt genug Scheunen und Stroh­mieten
Die Bedürfnisse des Alltags werden nach Kräften organisiert, und die Angst vor den Russen geht über in ordnungspolitische Akte. Im Tagebuch der Diakonissen im Luise-Hen­rietten-Stift Lehnin heißt es am 25. Mai: »Ein russischer Oberleutnant kommt und teilt uns mit, dass unser Land von ihm verwaltet wird. Wir hatten nach Harnacks Tod unser verpachtetes Land in eigene Verwaltung ge­nommen auf Anordnung des Bürgermeis­ters. Die Müch von unseren Kühen muss jetzt in die Molkerei geliefert werden, da wir sonst keine Butter erhalten. Wir bekommen dann aber auch Magermilch für alle Menschen
Und Helene Parpart, die Lehrerin aus Jü­terbog, hat auch einige Informationen über das politische Tagesgeschehen. Am 27. Mai schreibt sie: »Der Tag verläuft bei uns ruhig, obgleich viele Russen unterwegs sind. In Jü­terbog ist Tanz. Junge Mädels von 17 bis 25 werden zugelassen. Herr Nickel ist in Berlin gewesen. In Berlin herrscht unter dem russischen Stadtkommandanten Ruhe. Es wird fleißig an der Beseitigung der Trümmer ge­arbeitet. Täglich gibt es 300 g Brot. Pgs (Par­teigenossen – d. Red.) kriegen Judenration. Das Geld gilt. Kinos, Theater, Cafes sind auf. Eine Tasse Bohnenkaffee und ein Buttercre­metortenstück ist für 3,50 RM zu haben. Drei Zeitungen erscheinen. Der Magistrat ist gebildet, Oberbürgermeister ein Dr. Wer­ner, der im Zuchthaus war. Rosenberg, Ley, Backe sind gefangen
Ein unbekannter Zeitungsleser stellt sich unterdessen so seine Fragen und gibt sich selbst Antworten. »Wenn auch die Zeitung nicht viel aus dem Reich bringt, sondern nur alles im russischen Sinne und Artikel über Russland, so ist doch immer etwas neues dabei. Wenn nun allerdings die geschilder­ten russischen Verhältnisse in Wirklichkeit so sein sollten, dann sind wir von der Hitler-Regierung allerdings sehr stark beschwin­delt worden. In dieser Besetzungszeit seit dem 24. 4. hat es sich ja schon gezeigt, dass die Angst vor der Roten Armee wirklich nicht nötig ist. Denn das Wenige, was in den ersten Wochen vorgekommen ist, ist noch kein Grund, alles im Stich zu lassen und die Flucht zu ergreifen
Die Todesfantasien Erich Grenckus, dem Buchdrucker aus Seddin, haben sich als un­begründet erwiesen. Lebensfroher ist er des­halb nicht geworden. Am 22. Juni schreibt er: »Die Lage hat sich in den letzten zwei Wochen nicht verändert. Die Gehässigkeit zwischen den Menschen ist nur noch grö­ßer geworden. Ursache: Der schon in der Nähe auftauchende brutale Kampf ums Dasein. Neuerdings tauchen wieder Ge­rüchte auf, dass dieses Gebiet doch von den Amerikanern besetzt werden soll. Was besser sein könnte, weiß man nicht. Für mich ist die Lage in Bezug auf meine Wei­terexistenz gleich hoffnungslos. Lebens­mittel vollkommen unzureichend. Ge­meinderat ist umgebildet, lauter Nicht-Pg’s; aber nicht die geringste Änderung er­kennbar.«
Ein knappes Jahr später notiert Erich Grencku am 1. Mai 1946:
»
Heute große Maifeier, russische Zone: neue SED genehmigt. Paris Friedenskonfe­renz betr. fünf deutsche Vasallenstaaten: zu­erst Italien. (…) Persönlich: Elend! Heute kein Stück Fleisch, Butter, Zucker im Hause. Nur Brot und Kartoffeln. In meiner Partei­angelegenheit rührt sich nichts.«
Harry Nutt, in: Berliner Zeitung Nr. 42, 19./20. Februar 2011

 

Selbst wenn eine Welt untergeht, stirbt die Hoffnung zuletzt. »In Oehna bleibt es ruhig«, notiert Helene Parpart am 20. April 1945 in ihr Tagebuch. Zwar fliegen »sehr schwere Bomberverbände« über das Dorf bei Jüterbog, auch hört die 57-jährige Lehrerin »starke Detonationen« und sorgt sich angesichts von Tieffliegern um ihre Verwandten.
Am selben Tag erlebt die junge Sekretärin Hanneliese Henow in Senzig, wenig südlich vom Berliner Ring bei Königs Wusterhausen, wie die Rote Armee zum Sturm auf die Reichshauptstadt ansetzt: »Die östlichen Vororte von Berlin werden überrannt, und nun beschießt feindliche Artillerie hauptsächlich Lichtenberg und Weißensee und von Bernau her Pankow. Wir hören den Kanonendonner Trotzdem versucht die gerade 20 Jahre junge Frau auch am folgenden Tag noch, zu ihrer Arbeit in einer kleinen Fabrik zu gehen.
Helene Moldenhauer dagegen, eine 33-jährige Kriegerwitwe mit zwei kleinen Söhnen, muss am selben Tag nördlich Berlins die Flucht antreten: »Um halb elf Uhr unter Tieffliegerbeschuss aus Bernau geflüchtet. Mit dem Auto (Wehrmacht) bis Oranienburg. Dann weiter mit Fuhrwerk bis Germendorf, dort übernachtet zweimal bei netten Leuten, im Bett geschlafen bei Frau Bürger«.
Drei Brandenburgerinnen, die alle denselben Tag beschreiben. Ein historisches Datum, denn dieser sonnige, mäßig warme Frühlingstag war zugleich der letzte Geburtstag des »Führers« Adolf Hitler und der Beginn des finalen sowjetischen Sturmangriffs auf die zur »Festung« erklärten und sinnlos gegen eine vielfache Übermacht verteidigten Reichshauptstadt Berlin. Von der Oder her waren Panzerkolonnen der Roten Armee im Norden und im Süden Brandenburgs um Berlin herum vorgestoßen. Zusammen mit der sowjetischen Hauptmacht, die sich auf dem direkten Weg von Frankfurt (Oder) an die östliche Stadtgrenze vorgekämpft hatte, sollten sie dem Dritten Reich den Garaus machen.
Die militärische Strategie und der Vormarsch der Truppen sind bekannt, auch viele Erlebnisse von Berlinern in diesen letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges.
Doch wie erlebten eigentlich die Brandenburger die entscheidenden Wochen zwischen dem blutigen Ende des Dritten Reiches und dem Beginn einer neuen Zeit? Wirklich als »Befreiung«, wie es die einzige zu DDR-Zeiten zulässige Darstellung in Brandenburg festlegte? Als »Katastrophe« und »Untergang«, wie Bernd Eichingers Film über das Ende in Berlin hieß? Oder hatten die Menschen, die im Frühling und Sommer des Jahres 1945 um ihr Überleben kämpften, vielleicht weder Zeit noch Geist, um über solche eher philosophischen Fragen nachzusinnen?
Ein neues Projekt des Brandenburgischen Literaturbüros Potsdam und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums Rheinsberg gibt spannende Antworten. Unter der Adresse www.zeitstimmen.de ist seit wenigen Tagen das erste Portal für historische Tagebücher im Internet aus Brandenburg seit 1813 zugänglich; der Schwerpunkt des Materials liegt auf den Jahren 1944 bis 1949. Zum Start haben Peter Böthig vom Tucholsky-Museum und Peter Walther vom Literaturbüro deshalb zusätzlich einen Auswahlband herausgegeben, der vor allem die sechs Monate zwischen Anfang April und Ende September 1945 behandelt, also Kriegsende und Neubeginn.
Das Prinzip ist nicht neu. Als erster hat der verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski ab 1993 in den zehn voluminösen Bänden seiner Reihe »Das Echolot« den Versuch unternommen, vergangene Wirklichkeit heutigen Lesern durch ein »kollektives Tagebuch« deutlich zu machen. Der Unterschied zu den üblichen, auch in Brandenburg zahlreichen Veröffentlichungen von individuellen Erinnerungen ist einfach: Statt Tagebücher gewissermaßen »am Stück« zu veröffentlichen, ordnete Kempowski alle seine Quellen nach dem jeweiligen Datum. Er beschränkte sich auf wenige kurze Zeiträume: Auf drei Wochen im zweiten Halbjahr 1941 (»Barbarossa '41«), die ersten acht Wochen des Jahres 1943 (»Das Echolot«), vier Wochen im Januar und Februar 1945 (»Fuga Furiosa«) und schließlich die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges vom 20. April bis zum 8. Mai 1945 (»Abgesang '45«).
Doch es reicht nicht, die gesammelten Tagebucheinträge einfach chronologisch zu ordnen; dieses relativ simple Verfahren führt noch nicht zu einer lesbaren Darstellung. Die wichtigste Leistung von Kempowski war daher die Komposition: Die jeweils ausgewählten Stücke mussten gemeinsam einen treffenden Eindruck des Tages vermitteln, einer inneren Dramaturgie folgen und durften den Leser nicht einfach mit Einzelerlebnissen überschütten. Nur wenn solche Sammlungen, die es inzwischen in Anlehnung an Kempowskis Idee reihenweise gibt, diesem Verfahren Kempowskis folgen, können sie den heutigen Lesern Vergangenheit nachvollziehbar machen.
In ihrem von der Bundesstiftung Aufarbeitung geförderten Projekt haben Böthig und Walther Kempowskis Idee ernst genommen - Auswahl und Anordnung der einzelnen in den Auswahlband aufgenommenen Tagebucheinträge zusammen ergeben die besondere Wirkung. Das vollständige Material, das durch weitere Schenkungen und Ankäufe auf Flohmärkten stetig ergänzt werden soll, wird im Internet präsentiert, erschlossen durch gleich mehrere Suchmöglichkeiten. Hier kann man sich Erlebnisse an einzelnen Tagen anzeigen lassen, die Tagebücher bestimmter Personen in ihrer ursprünglichen Ordnung lesen oder im Volltext nach bestimmten Begriffen forschen. Das Online-Portal ist ein mächtiges Instrument, um der Regionalgeschichte näher zu kommen - vor allem, wenn es noch um viele weitere Quellen ergänzt werden kann, was die Initiatoren hoffen. Schon jetzt aber erfüllt es den Anspruch, den der Schriftsteller Günter de Bruyn formuliert hat: »Diejenigen, die Geschichte machten und erlitten, sollen hier mit ihren Aufzeichnungen zu Wort kommen. So entsteht ein von den Brandenburgern selbst geschriebenes Geschichtsbuch.«
Doch das gelingt eben nur, wenn die Komposition stimmt. Der Auswahlband zeigt, wie es geht. Viele Tagebuchstimmen behandeln die Plünderungen durch die vorrückenden Soldaten, auch die Sorge von Frauen vor Vergewaltigungen. Hanneliese Henow notierte etwa am 26. April 1945 über die russischen Soldaten in ihrem Haus: »Immer, wenn sie die kleine Treppe herunter kamen, dachte ich: Jetzt, jetzt kommen sie und holen dich! Dann atmete ich jedes Mal auf, wenn sie über den Blechabtreter in den Vorbau gingen.« Helene Moldenhauer entkam dem Schicksal ebenfalls: »Nachher, als sie angetrunken waren, da wollten sie was von uns wissen. Ich und meine Schwägerin konnten entkommen, doch die Frau, wo wir wohnten, musste jedoch dran glauben
Die Lehrerin Christel Parpart schrieb am 4. Mai 1945: »Vor allem, werde ich an meinem Körper verschont bleiben? Der Oberleutnant von gestern gab mir den ,Vorgeschmack', noch blieb mir die Jungfernschaft. Die Eltern bewachten heute Nacht die Treppe und Oma mein Bett. Viermal gingen die Sowjets rauf und kehrten auf der Treppe wieder um. Zweimal kamen sie in die Stube, ließen es aber.« Dagegen notierten Frauen, die Opfer solcher Gewalt wurden, nur selten etwas darüber, beließen es bei Andeutungen.
Bemerkenswert ist auch, wie Tagebücher von ganz normalen Menschen politische Gerüchte dokumentieren. Schon am 28. Mai 1945 notierte Hanneliese Henow etwa: »Mister Churchill soll zurückgetreten sein und Amerika seine Gesandten aus London zurückgezogen haben. Es heißt auch, die Russen würden sich an der Elbe verschanzen, und sobald sich der Amerikaner rührt, würden sie schießen.« Das Hörensagen griff der Realität des beginnenden Kalten Krieges hier um mindestens sechs Monate voraus.
Im Sommer 1945 zeigte sich dann, dass trotz all der Belastungen, der Plünderungen und der Leiden an den Folgen von Hitlers Krieg das Leben weiterging - auch in Brandenburg. In den Tagebücher spiegelt sich auf Schritt und Tritt die verzweifelte Situation; Marianne Vogt, 31 Jahre, aus Rehbrücke südlich von Potsdam brachte es auf den Punkt: »Das eigene Leben und wie man es erhalten kann gilt, sonst nichts.« Die 75-jährige Pfarrersfrau Elisabeth Buchholtz aus Neuruppin genoss Anfang August ausnahmsweise eine »Schinkenstulle« und zwei Birnen: »Ungewohnte und gewiss einzige Genüsse.« Die Normalität sah anders aus, wie die täglichen Notizen des schon 72-jährigen Robert Burmeister aus Nauen zeigen. Im Juni 1945 vermerkt er fast Tag für Tag, dass »Personen über 60« täglich »einen halben Liter saure Magermilch« zugeteilt bekamen. Sein Enkel immerhin, ein Junge namens Heinerle, durfte sich an »einem halben Liter Vollmilch« laben. So knapp ist die Zuteilung, dass Burmeisters ganze Familie in den Wald und auf die Felder geht, um Beeren und Erbsen zu pflücken. In seinem Tagebuch spiegelt sich die zunehmende Verzweifelung über die Versorgungslage deutlich. Dagegen fasste die 18-jährige Gertrud Müller aus Diedersdorf, einem Ortsteil von Großbeeren, schon wieder Hoffnung. Seit Wochen musste sie helfen, die gröbsten Spuren des Krieges zu beseitigen, Granattrichter zuschaufeln, eilig verscharrte Soldatenleichen einigermaßen unter die Erde bringen und ähnliches. Dann, am 12. August 1945, einem Sonntag, erlebt sie eine große Überraschung: »Ich bin von den Socken! Heute nicht gearbeitet, und doch gibt es eine Tagesverpflegung! Oh, die Zeiten bessern sich
Sven Felix Kellerhoff, in: Berliner Morgenpost am 13.02.2011

 

»Der Krieg hat für Deutschland ein kritisches Stadium erreicht, dementsprechend sind auch die Wachsamkeit und das Misstrauen der Nazis gestiegen. Es ist zu gefährlich, dieses Heft in der Stube aufzubewahren«, notiert Ernst Grencku aus Seddin bei Potsdam am 15. Februar 1944 in sein Tagebuch. Der Buchdrucker schreibt in deutscher Sprache, benutzt jedoch kyrillische Schriftzeichen. So kann nicht jeder gleich entziffern, was in diesem Tagebuch steht. »Die deutsche Bestie beißt noch um sich... «, vermerkt Grencku. »Keiner sieht das grenzenlose Unrecht ein, welches dieses deutsche Räubervolk begangen hat und weiter begeht. Also werden auch wir wenigen Menschen, die den Krieg und das ungeheure Leid verabscheuen, noch vieles erdulden müssen
Die chronologisch geordneten Notizen von 36 Menschen versammelt das Buch »Die Russen sind da«. Im Zentrum stehen die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und die ersten Tage danach. Grenckus Worte befinden sich ganz vorn.
Der Buchdrucker sehnt die Ankunft der sowjetischen Truppen herbei – und sei es um den Preis seines eigenen Untergangs. Als es dann soweit ist, ärgert ihn maßlos, dass nur ein paar Nazibonzen für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden und die vielen kleinen Faschisten mit und ohne Parteibuch (seiner Meinung nach die große Mehrheit des deutschen Volkes) ungeschoren davonkommen. Diese Menschen betätigen sich als Schieber oder sitzen in der Verwaltung und fressen sich einen runden Bauch an, während er Not leiden müsse. Akribisch notiert Ernst Grencku, wie wenig Lebensmittel er und seine Frau erhalten. Er erwartet sein Ende. 1947 stirbt er.
Vom Nazi bis zum Widerstandskämpfer – im Buch ist alles dabei. Hans Müncheberg macht eine Wandlung durch. Als Zögling der faschistischen Erziehungsanstalt in Potsdam berichtet der Junge seiner Mutter in Templin begeistert, wie er mit seinen Kameraden ballern darf. Nach der Befreiung tritt er in die FDJ ein und schreibt seinem Vater 1948, er sei jetzt Angestellter der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion. Später wird Hans Müncheberg Dramaturg bei der DEFA und beim DDR-Fernsehen, er verfasst zahlreiche Bücher.
Der Satz »Die Russen sind da« markiert den Moment der Befreiung vom Faschismus. Doch viele Tagebuchschreiber sind deswegen keineswegs glücklich. Sie schimpfen über Uhrendiebstähle und Vergewaltigungen, klagen ahnungslos, nicht zu verstehen, womit Deutschland seine »Unterjochung« verdient habe. Andere sind nicht so naiv. Sie wissen oder ahnen zumindest, wie SS und Wehrmacht an der Ostfront und in ihrem Rücken brandschatzten und mordeten. So heißt es zum Beispiel auch, der neue Kommandant sei Jude und das bedeute sicher nichts Gutes nach allem, was den Juden von Deutschland angetan wurde.
Ein namentlich nicht bekannter Tagebuchschreiber registriert in Nauen den geordneten Durchzug sowjetischer Infanteristen mit sauberen Uniformen. Das Gerede von den russischen Horden erkennt er als Propagandalüge.
Eine Familie in Cottbus erwägt den Selbstmord, doch Bekannte raten ab. Man müsse nur ein oder zwei Wochen durchhalten. Der Russe sei im Prinzip gutmütig, seine Wut verständlich. Es werde sicher bald besser. Tatsächlich ist dann die Rede von freundlichen Soldaten, die den Kindern etwas zustecken. Es entwickeln sich Freundschaften. Der Landwirt Willy Lorenz muss seinen Hof in der Neumark aufgeben. Das Heimatdorf wird nun zu Polen gehören. Nach einer Irrfahrt durch Brandenburg gerät Lorenz nach Bückwitz bei Wusterhausen/Dosse. Dort erhält die Familie die Chance für einen Neuanfang. Sie bekommt Land durch die Bodenreform. Willy Lorenz arbeitet hart, verdingt sich zusätzlich bei einem alteingesessenen Bauern. Es fehlen zunächst Ackergeräte und Vieh. Aber langsam geht es aufwärts. Von jedem Weihnachtsfest sagt Lorenz, es sei schon besser gewesen als im Jahr zuvor. Er spricht schließlich davon, man habe genug zu essen, sogar ein reichliches Festmahl genossen.
Die Landwirte in Bückwitz küren Willy Lorenz zum Chef der örtlichen Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). Das sorgt für zusätzlichen Stress, etwa, wenn er unterwegs ist, um einen Traktor anzuschaffen. Aber Willy Lorenz hält zunächst durch. Er möchte seinen Teil zum Wiederaufbau beitragen. Damit ist die Geschichte aber nicht zu Ende. 1956 flieht die Familie in den Westen.
Immer wieder notieren die Tagebuchschreiber Gerüchte, wonach die sowjetischen Streitkräfte bald hinter die Oder abziehen und durch britische oder US-amerikanische Besatzungstruppen ersetzt werden. So subjektiv und oft auch falsch einzelne Einschätzungen sind, insgesamt ergibt sich ein realistisches Bild vom damaligen Alltag. Dadurch überzeugt dieses Buch.
Ganz zum Schluss kommt eine Eintragung von Hildegard Muschan aus Rathenow vom 6. Oktober 1949. »Zu heute hatte Friedel eine große Wäsche angesetzt. Ich half ihr beim Spülen und Aufhängen und hatte reichlich damit zu tun. Das Wetter war nicht gut und die Wäsche musste abends halbnass abgenommen werden«, schreibt Muschan einen Tag vor der Gründung der DDR. »In dem Ostsektor von Berlin bereitet sich die Ostregierung vor, an der Spitze Grothewohl und Nuschke sowie Pieck. Eine Regierung ohne Volk, denn die 18 Millionen Deutsche werden nicht gefragt Der Mann der Ladeninhaberin wurde im September 1945 verhaftet. Er starb 1947 im sowjetischen Speziallager in Ketschendorf.
Andreas Fritsche, in: Neues Deutschland am 14.2.2011

 

»In Lehnin ist Panik ausgebrochen, die Russen sind ganz dicht, alles flüchtet.« So ist es im kollektiven Tagebuch der Diakonissen des Luise-Henrietten-Stifts vom 23. April 1945 nachzulesen. Wenn Altoberin Ruth Sommermeyer heute durch die Jahrgänge der »täglichen Notizen« ihrer Vorgängerinnen blättert, ist sie fasziniert und angetan zugleich. Obwohl der Krieg Ende April 1945 bis ins Kloster dringt, lassen sich die Diakonissen nicht von ihrer Pflicht abbringen, das über sie hereinbrechende Chaos auf Papier zu verewigen.
»Es ist erstaunlich, wie es meinen Mitschwestern gelang, trotz des Elends bei den Tatsachen zu bleiben und persönliche Emotionen zurückzuhalten. Für mich sind diese Aufzeichnungen ein Geschenk der Geschichte«, sagt die 79-Jährige. Ruth Sommermeyer kam 1968 nach Lehnin und stand dem Diakonissen-Mutterhaus bis zum Eintritt in ihren Ruhestand 1997 als Oberin vor. Sie selbst führte noch bis Anfang der 90er- Jahre das Tagebuch der Diakonissen. Dann war es mit der 1917 begonnenen Tradition zu Ende. Seit damals haben die Ordensschwestern in zahlreichen Diarien gute 4000 Seiten mit den wichtigsten Ereignissen im Stift gefüllt.
Ein Bruchteil davon findet sich in dem gerade erschienen Band »Die Russen kommen« wieder. Die Diakonissen gehören zu den insgesamt 30 Autoren aus ganz Brandenburg, die über die schwere Zeit 1945 berichten. Und doch gibt es für Stefan Beier, Leiter des Museums auf dem Lehniner Stiftsgelände, einen wichtigen Unterschied. »In der Regel sind Tagebücher von persönlichen Erlebnissen geprägt. Bei den Notizen der Diakonissen handelt es sich um ein Zeugnis der kollektiven Erinnerung mit einer deutlich geringeren emotionalen Komponente«, findet Beier. Das macht die Aufzeichnungen aber nicht weniger spannend. Man möchte nicht aufhören zu lesen, was zwischen dem 12. April und 22. September rund um die Klosterkirche passierte.
Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro und Peter Böthig von der Rheinsberger Kurt-Tucholsky -Gedenkstätte haben das kürzlich in Potsdam vorgestellte Buch herausgegeben. Aus 120 gesichteten Tagebüchern wurde ein Teil ausgewählt: der begeisterte Napola-Schüler, der eingekesselte Soldat, der KZ-Häftling aus Sachsenhausen, die Lehrerin und eben auch die Diakonissen aus Lehnin.
Frank Bürstenbinder, in: Märkische Allgemeine am 9.2.2011

 

Tagebücher, Briefe und Fotos sind in bedrohlichen Zeiten von besonderem Wert. Für die, die sie anfertigen, um sich unmittelbar zu erleichtern. Und für Nachgeborene, die sich mit ihrer Hilfe ein authentisches Bild verschaffen können.
Denn Filme, Zeitungen und Romane in den Fängen einer Diktatur verzerren in der Regel die gesellschaftliche Wirklichkeit. Persönliche Aufzeichnungen aber, die sich keiner äußeren und inneren Zensur unterwerfen, bringen direkt und unverfälscht die Stimmungen, Redewendungen und Denkweisen ihrer Zeit zur Sprache.
Alle Jubeljahre um den 8. Mai herum brandet in Deutschland eine Diskussion auf, ob dieser Tag 1945 als Befreiung oder Niederlage erlebt wurde. Die Einlassungen der Historiker sind oft abgehoben und vereinnahmend, weil sie über die nicht geschichtsträchtigen Momente des Alltags hinwegsehen und die Vielfalt der Lebensperspektiven vernachlässigen.
Dieses Ungenügen hat den Romancier Walter Kempowski (1929–2007) keine Ruhe gelassen. Er entwickelte eine neue Gattung der literarischen Geschichtsschreibung, die das Individuum nicht länger marginalisiert und bevormundet. Ungezählte Schriftzeugnisse aus der Privat- und der öffentlichen Sphäre montierte Kempowski zu vielstimmigen Collagen, die er »Echolot« nannte. Sein letztes »kollektives Tagebuch« publizierte er 2005 mit dem Untertitel »Abgesang45«. Darin kommen in faszinierender Dichte neben Hunderten unbekannten Persönlichkeiten (von Ostarbeiterin über Wehrmachtssoldat bis zum Obergefreiten) auch viele Prominente zu Wort (etwa Hitler, Stalin, Ernst Jünger oder Thomas Mann).
Unter dem Datum 30. April 1945 blendete Kempowski auch 17 Zeilen von dem Potsdamer Schriftsteller Hermann Kasack (1896–1966) ein. Als dessen »Aufzeichnungen über das Kriegsende in Potsdam« 1996 veröffentlicht wurden, durfte man gespannt sein: Wie hatte dieser Vertreter der inneren Emigration, der den Nazis nie gewogen war, den Einmarsch der Russen erlebt? Die Antwort: voller Angst, aufs Schlimmste gefasst, niedergedrückt.
Peter Böthig und Peter Walther, zwei promovierte Germanisten aus Brandenburg, haben sich nun wiederum von Walter Kempowskis inspirieren lassen und mit dem Buch »Die Russen sind da« eine Art Echolot für Brandenburg herausgebracht. Durch Aufrufe in den Zeitungen (auch in der MAZ) und Stöbern in vielen Archiven förderten sie etliche Tagebücher und Briefkonvolute zu Tage. Unter Verzicht auf bereits veröffentlichte (prominente) Stimmen – etwa die von Hermann Kasack – erstellten sie ein kollektives Tagebuch, in dem eine Pfarrersfrau aus Neuruppin und ein Kleingewerbetreibender aus Rathenow, eine Sekretärin aus Diedersdorf und ein Unbekannter aus Xauen den Hergang des Kriegsendes und den Neuanfang quasi mitstenografieren. Die über den Kalender locker verstreuten Textbausteine ergeben eine »Geschichte von unten«, denn auf das Einblenden von Dokumenten aus den Reihen der nationalsozialistischen Entscheidungsträger verzichten Böthig und Walther.
Besonders eindrucksvoll – weil entschiedener und klarer als Hermann Kasack – sind die Notizen von Ernst Grencku, eines 1882 geborenen Buchdruckers, der in Seddin lebte. Dem sorgfältigen Anmerkungsapparat ist zu entnehmen, dass er sein Tagebuch »in kyrillischer Schrift mit deutscher Lautung« führte, um als Chronist unentdeckt zu bleiben: »Immer noch ist der große Teil der hiesigen Bevölkerung, soweit er nicht direkte Verluste erlitten hat, kriegslustig und voller Siegesbewusstheit«, notiert er im November ‚’44.
Von geradezu rührender Naivität sind die Briefe des 15-jährigen Napola-Schülers Hans Müncheberg (»Dein Hänschen«) an seine Mutter in Templin: »Mir passte die Uniform ganz gut, und ich kam mir ungeheuer fein vor. Gentlemanlike«, schwärmt er und beschreibt enthusiastisch die Truppenübungen in Potsdam. Angefügte Verse mit dunklen Todesmetaphern sprechen aber eine andere Sprache.
Am 4. Mai ’45 notiert Hannelies Henow, eine Sekretärin aus Senzig: »Wir haben kein Vaterland mehr! Niemand kann uns vor Raub und Vergewaltigung schützen Sie schildert auch, wie ängstlich sie Hakenkreuzfahne und Hitler-Bücher verbrennt. Ebenfalls am 4. Mai bemerkt Helene Parpart aus Oehna bei Jüterbog: »Keine Feinde im Hause und ganz ruhige Nacht.« In die unheimliche Stille hinein erinnert die Lehrerin dann einen Dialog der Dorffrauen an der Wasserpumpe: »In Jüterbog haben sich ja so viele das Leben genommen.– Ja sehr viel, aber das nützt einem ja auch nichts Am 5. Mai ’45 notiert Reinhold Heinen, ein frei gekommener Häftling aus Sachsenhausen: »Überall weggeworfene Gegenstände… Natur lacht und blüht.«
Wer mehr über das Erscheinungsbild der Siegerarmee oder über die Gerüchte, die damals kursierten, erfahren will, findet in diesem Buch viele Quellen. Wie es unter der roten Fahne weitergeht, wird auch schon angedeutet. Klaus Müncheberg, der als 18-jähriger Soldat ein Bein verlor und 1947 als FDJ-Funktionär durchs Land zieht, schreibt seinem Onkel: »Ich habe mich mündig erklären lassen, weil mir sonst die politische Einstellung meines Vaters Schwierigkeiten bereiten würde.«
Karim Saab, in: Märkische Allgemeine Zeitung 29./30. Januar 2011

 

Sie hat sich nicht versteckt, sie ist auch nicht geflohen. Christel Kersten hat in dem kleinen Ort Cammer bei Belzig ihre Stube saubergemacht. Dann hat sie sich geschminkt und einfach nur gewartet. Die heute 92-jährige Frau, die viele Jahre hörgeschädigte Kinder unterrichtete, kann sich noch gut an jenen 3. Mai 1945 erinnern. An dem Tag hatte das Warten ein Ende und auch dieses qualvolle »nicht wissen, was los ist«, wie sie sagt. »Auf der Straße vor dem Fenster stand plötzlich ein Russe mit ei­nem Maschinengewehr«, sagt sie. Dann ging auch schon ihre Tür auf und ein Offizier stand vor ihr. »Die Russen waren da.«
Christel Kersten hieß damals noch Parpart. Sie war 23 Jahre alt und Lehrerin in Cammer. Die Schule war seit kurzem ein Flüchtlingslager, die Flüchtlinge, die durch den Ort zogen, die einzige Informationsquelle für die Einheimischen. »Ab März wusste man nichts mehr. Man ahnte nur, dass etwas kommt, aber nicht, wann und wie. Es gab keine Zeitungen mehr und kein Radio«, erzählt die alte Dame, die heute in Eberswalde lebt.
Christel Kersten hat damals Tagebuch geführt. Sie hat Alltägliches aufgeschrieben in dieser extrem ereignisreichen Zeit, hat ihre Sorgen und Nöte zu Papier gebracht. Von der Angst vor Vergewaltigung geschrieben ebenso wie von heute ganz banal klingenden Dingen.
Auch Christel Kerstens Mutter Helene Parpart, die damals in Oehna bei Jüterbog lebte, schrieb das Erlebte auf – jeden Tag und ausführlicher als ihre Tochter. »Sie hat wohl gewusst, dass sie in diesen denkwürdigen Zeiten ganz korrekt und ohne Emotionen das aufschreiben muss, was ihr widerfahren ist«, erzählt Christel Kersten. Und so beschreiben die Aufzeichnungen von Helene Parpart den Irrsinn in einer unfassbaren Zeit. An einem Tag schrieb sie von einer Familie, die sich aus Angst vor den Russen das Leben genommen hat. Wenige Zeilen später schreibt sie vom Kirscheneinwecken und einer Taufe.
Die Aufzeichnungen sind Teil des außergewöhnlichen Projekts »Zeitstimmen« des Potsdamer Literaturbüros und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums in Rheinsberg. Seit zwei Jahren wurden dafür 120 Tagebücher zusammengetragen – das älteste stammt aus dem Jahr 1806, das jüngste ist von 2008. Entstanden ist ein kollektives Tagebuch, in dem sich der Wandel der Lebensverhältnisse in Brandenburg nachvollziehen lässt. Und entstanden ist daraus ein Buch – ein Psychogramm der Brandenburger in den letzten Kriegstagen und der Nachkriegszeit. »Die Russen sind da«, das Buch beschreibt den individuellen Kriegsalltag und den Neubeginn 1945.
Warum man ausgerechnet diese Zeit für eine Veröffentlichung gewählt hat, erklärt Herausgeber Peter Walther vom Literaturmuseum so: »Zwei Drittel aller Tagebücher, die uns zur Verfügung gestellt wurden, stammen aus der Zeit von 1939 bis 1945. Und die Hälfte davon aus den letzten Kriegsmonaten Die oft kleinsten Notizen von 30 Menschen – vom Landwirt, über die Sekretärin bis hin zum Hotelbesitzer – sind in dem Buch abgedruckt. Die Erlebnisse seien »mit existenzieller Wucht« niedergeschrieben worden, sagt Walther. Sie zeugten von einer Hoffnung auf Normalität, die es nicht mehr gab. »Je krasser die Ereignisse, desto häufiger griffen die Menschen zur Feder«, sagt Walther. Am meisten beeindruckt haben den Germanisten die Aufzeichnungen eines Soldaten, der im März 1945 in Klessin im Oderbruch eingekesselt wurde und dort offenbar gefallen ist, während er seine letzten Worte zu Papier brachte. »Er hat trotz seiner hoffnungslosen Lage Tag für Tag ein paar Zeilen geschrieben«, sagt Walther. So etwa am 10. März 1945: »Furchtbare Kämpfe um den Ort!! Ein Wunder, daß man noch lebt. Wir werden langsam we­niger Zwei Tage später ist zu lesen: »Wir sind eingeschlossen!! Ohne Verpflegung. Etwas ruhiger. Furchtbares Trommelfeuer Die Aufzeichnungen enden am 21. März mit drei unleserlichen Worten. Das Tagebuch stammt aus dem Nachlass eines Mannes, der nach dem Krieg als Kind die Notizen des Soldaten in einem alten Gehöft gefunden und bis zu seinem Tod aufbewahrt hatte.
Erstaunlich ist für Walther auch, wie die Gerüchteküche damals brodelte. »Es fehlten einfach Informationen«, sagt Walther. Das Ergebnis hört sich skurril an. »Immer wieder wird erzählt: z. B. im Juli 45. Es wird ein zweijähriges Heiratsverbot und ein mehrjähriges Alkoholverbot kommen«, schrieb ein Unbekannter auf. »Diese Gerüchte hielten sich hartnäckig«, sagt Walther.
Christel Kersten hat sich damals nach der Begegnung mit dem russischen Offizier bei den Nachbarn versteckt. Unter der Bettdecke, erzählt sie. Und sie erinnert sich noch daran, dass sie sich die Frage gestellt hatte, ob sie weiterhin als Lehrerin arbeiten darf. Sie war 23, als sie auf Wunsch des Vaters in die NSDAP eingetreten ist. Weil es für einen Beamten besser sei, war sein Argument. »Ich bin dann entnazifiziert worden«, sagt Christel Kersten. An das Verhör entsinnt sie sich noch genau. »Damals ist bei mir der Entschluss gewachsen, russisch zu lernen«, sagt sie.
Karin Bischoff, in: Berliner Zeitung Nr. 24, 29./30. Januar 2011

 

»Mit Siegfried im Kindergarten, für Montag angemeldet.« Das schrieb Hedwig Schob am 15. März 1945 in ihr Tagebuch. Fast täglich listete sie auf: Wie lange dauert der Alarm? Von wann bis wann war Strom da? Was gibt es zu essen?Was macht Siegfried?
Heute ist der kleine Siegfried ein grauhaariger Mann, der immer noch in Falkensee wohnt. Gestern Vormittag war er in die Potsdamer Villa Quandt gekommen, um dabei zu sein, wenn das Buch »Die Russen sind da« vorgestellt wird. Die Notizen seiner Mutter gehören zu diesem Buch, das den Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in Brandenburg aus ganz persönlicher Sicht aufzeigt. Die Falkenseerin Hedwig Schob kommt in dem Buch neben 29 anderen Frauen und Männern zu Wort.
Schon im Vorfeld dieser Präsentation hatte das Projekt für mediales Aufsehen gesorgt. Die Räume der Villa Quandt konnten gestern dem Ansturm der Besucher nicht gerecht werden.
Peter Walther vomBrandenburgischen Literaturbüro und Peter Böthig von der Rheinsberger Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte haben das Buch herausgegeben. Dazu hatten sie 120 Tagebücher gesammelt und gesichtet, mühsam wurden die oft in Sütterlinschrift gehaltenen Notizen übersetzt. Ein Viertel der Tagebücher wurde schließlich ausgewählt: der begeisterte Napola-Schüler, der eingekesselte Soldat, der KZ-Häftling aus Sachsenhausen, die Lehrerin aus Oehna bei Jüterbog, die Diakonissen im Luise-Henrietten-Stift Lehnin – ganz unterschiedliche Stimmen werden im Buch tageweise angeordnet. Dabei ganz dem großen Vorbild, dem »Echolot« von Walter Kempowski folgend, ist eine Sammlung entstanden, die in ihrer Unmittelbarkeit unter die Haut geht.
Einige wesentliche Beiträge stammen aus dem Havelland. So kommt Hedwig Luschei zu Wort, sie betrieb in Falkensee-Finkenkrug einen Lebensmittelladen. Zwischen Angst, Pflichtbewusstsein, Pragmatismus und Wut bewegte sich ihr Leben. Die Menschen stürmten ihren Laden, doch sie durfte nur gegen Marken verkaufen, am 23. April 1945 versuchte sie eine amtliche Freigabe zu erreichen, »Polizeiwache Finkenkrug – kein Mensch – keine Auskunft – kein Anschlag«, sie radelte zum Rathaus. »Die Straßen sind tot und leer, wie ausgestorben. Unheimlich Im Rathaus keinMensch.»Mich überläuft es eiskalt und packt mich dabei eine unheimliche Wut. So sieht es also aus! Als wehrlose Frau sucht und rennt man um einen Rat – da findet man dann nach vielem Hin und Her im Bunker hinter Schloss und Riegel die Herren! Angst haben sie, weiter nichts als Angst!«
Flucht oder Bleiben? Angst hatte auch jener Mann aus Nauen, dessen Name nicht überliefert ist. Akribisch hatte der Unbekannte sein Tagebuch geführt. Genau notierte er, wie viele Fahrzeuge, Menschen, Kühe auf der Straße vor seinem Haus vorbeizogen. Wütend war er über fremde und einheimische Plünderer. »Mit nichts sind alle als Fremdarbeiter gekommen, mit voll beladenen Wagen schleppen sie das Eigentum der Deutschen heraus«, notiert er am 27. April 1945.
Der 8. Mai 1945 ist ein Dienstag. »Wir hören Hurrarufe der Russen. Der furchtbarste Krieg aller Kriege ist zu Ende. Armes Vaterland, wie wird es dir nun ergehen?«, fragte sich Hildegard Muschan, die einen Handarbeitsladen in Rathenow betreibt. Ihr Mann war Jurist, wurde im Mai 1945 als Staatsanwalt eingesetzt, aber dann verhaftet; sie sah ihren Fritz nie wieder, er starb in einem sowjetischen Speziallager.
30 Tagebücher, 30 Sichten. Auch auf die Russen: Die einen der Soldaten streicheln den Kindern über den Kopf, die anderen plündern und vergewaltigen. Selten ist da ein Tagebuchschreiber, der den Krieg und die Schuld der Deutschen reflektiert.Der tägliche Überlebenskampf überdeckte auch das.
Marlies Schnaibel, in: MAZ, Der Havelländer 31. Januar 2011

 

»Ostern! Im Osten steht die Front noch immer an der Oder. Bald werden die Russen genügend Kriegsmaterial, Treibstoff und Reserven gesammelt haben, um Brandenburg und Berlin zu erobern. Vielleicht dauert es noch einige Tage, aber dann ist es soweit, dass auch über uns hier die Vernichtung hereinbricht Mit diesem Tagebucheintrag des in Seddin lebenden Buchdruckers Ernst Grencku vom 1. April 1945 begann am Dienstagabend in der voll besetzten katholischen »Arche« die Vorstellung eines außergewöhnlichen Buches.
Vor knapp zwei Jahren starteten Peter B
öthig vom Rheinsberger Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum und Peter Walther vom Brandenburgisehen Literaturbüro in Potsdam ein »Zeitstimmen«-Projekt: Idee war die Sammlung privater Tagebücher, Briefwechsel und anderer Dokumente als Materialbasis für ein kollektives Tagebuch, das die Geschichte des Landes aus der Alltagsperspektive erzählt.
Bislang kamen laut Walther rund 120 Tageb
ücher zusammen, das älteste von 1813, das jüngste von 2008. Auffällig sei bei dieser fast 200 Jahre umfassenden Zeitspanne eine besondere Häufung von Erinnerungen aus Umbruchszeiten. Sehr viele Einsendungen betrafen laut Walther das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit, aber auch die Zeit der Wende 1989.
Vorgestellt wurde am Dienstag mit dem Buch »Die Russen sind da« ein erster, 500 Seiten umfassender Extrakt dieser Sammlung mit 30 Tageb
üchern, die vom 15. Februar 1944 bis zum 6. Oktober 1949 von »Kriegsalltag und Neubeginn in Brandenburg« erzählen. Die Notizen sind datumsweise zusammengefasst. In der Mitte des Buches finden sich mehrere Seiten mit Privatfotografien in Agfacolor, darunter auch eine Aufnahme des zum Schutz vor Bombenschäden zugemauerten Schlosses Sanssouci. Aufzeichnungen aus Potsdam sind nicht dabei, weil es laut Walther für diese Zeit aus Potsdam keine Einsendungen gab.
Auf Mutma
ßungen aus dem Publikum, nach denen die chaotischeren Umstände in Berlin und Potsdam zum Kriegsende keine Zeit für private Notizen ließen, antwortete Walther mit dem Beispiel anderer, gleichfalls unter extremen Umständen angefertigter Zeugnisse: So notierte ein Häftling des KZ Sachsenhausen die Umstände des Todesmarsches nach der Evakuierung des Lagers, ein Soldat schrieb wohl unmittelbar vor seinem Tod Beobachtungen auf zwei Kalenderblätter, die später von spielenden Kindern gefunden wurden.
Die offizielle Buchpräsentatioh ist am Sonntag, 30. Januar, um 11 Uhr in den R
äumen des Brandenburgischen Literaturbüros in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Dann soll unter der Adresse www.zeitstimmen.de zugleich das erste deutsche Internet-Portal für historische Tagebücher freigeschaltet werden. Laut Walther können dort zunächst 4000 Einträge nach Orten, Themen, Datum oder Zeitraum recherchiert werden. Das Portal soll für weitere Einsendungen offen bleiben.
Das n
ächste »Zeitstimmen«-Buchprojekt kündigte Walther in der »Arche« schon einmal für das Ende dieses Jahrzehnts an, wenn der 30. Jahrestag des Mauerfalls ansteht.
Volker Oelschläger, in: Märkische Allgemeine vom 13.01.2011

 

 

Am Sonntag, 30. Januar, wird um 11 Uhr in der Villa Quandt Große Weinmeisterstraße 46/47, das Buch »Die Russen sind da – Kriegsende und Neubeginn 1945 in Tagebüchern und Briefen aus Brandenburg« vorgestellt.
Das Buch geht vielf
ältigen Fragen auf den Grund: Wie sah der Alltag der Menschen in den letzten Wochen und Monaten vor Kriegsende und in den ersten Jahren des Neubeginns aus? Wie wurden die geschichtlichen Ereignisse wahrgenommen? Die in dem Buch erstmals publizierten privaten Tagebuch- und Briefaufzeichnungen aus den Jahren 1944 bis 1949 vermitteln aus der Perspektive von mehr als dreißig Verfassern Tag für Tag ein authentisches Bild vom Überleben in einer Zeit, in der die Bedrohung der Existenz zum Alltag gehörte. In ihnen spiegeln sich zugleich die Erfahrungen der Menschen beim Umgang mit zwei Diktaturen.
Klaus Büstrin und Jochen Röhrig lesen eine Auswahl aus den Aufzeichnungen, die in den vergangenen Jahren vom Brandenburgischen Literaturburo und dem Kurt Tucholsky Literaturmuseum zusammengetragen wurden.
Zugleich geht mit der Veranstaltung am 30. Januar das erste deutsche Portal f
ür historische Tagebücher ans Netz. Unter der Adresse www.zeitstimmen.de kann in über 4.000 Einträgen nach Orten Themen Datum oder Zeitraum recherchiert werden. Die Aufzeichnungen beziehen sich räumlich auf das Land Brandenburg das älteste Tagebuch stammt aus dem Jahr 1806, das jüngste aus dem Jahr 2008. Das Portal bleibt offen für weitere Einsenungen.
Die Buchvorstellung »Die Russen sind da« ist eine Veranstaltung vom Brandenburgischen Literaturbüros und des Kurt Tucholsky Literaturmuseums mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Der Eintritt zur Buchpremiere kostet sechs, ermäßigt vier Euro.

BlickPunkt Wochenzeitung für Brandenburg am 07.01.2011