Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

wenn ich auf das alte Jahr zurückblicke, so war es unter anderem von guten Kon­zer­ten bestimmt.

Anfang April war ich selbstverständlich bei Bob Dylan in der Max-Schmeling-Halle, wenige Tage zuvor bei Lyle Lovett in der Passionskirche, und Anfang Juli fuhren Gudrun und ich gemeinsam mit guten Freunden ins thüringi­sche Rudolstadt zum dortigen Folk-Festival, wo es anders als befürchtet beileibe nicht nur dudelsackmäßig zuging und zottelige Typen zu Männerwerbetänzen herum­spran­gen, sondern wir uns binnen vier Tagen wohl anderthalb Dutzend Konzerte jeglicher Couleur antaten: von mesopotamischem Ethnojazz über palästinensische Stücke auf der Oud-Laute bis hin zu den fein gehauchten düsteren Liedern der englischen Unthank-Schwestern, vom kraftmeierischen Gipsy-Punk eines Gogol Bordello bis hin zu den nie schmalzigen Country-Stücken der lebensklugen Lady Lucinda Williams. Im herbstlichen Berlin folgten ein wie erwartet heftiger, ausgelas­se­ner Auftritt der Felice Brothers und der nach wie vor geniale Lärm von Sonic Youth. Das schönste und anrührendste Konzert jedoch war ein misslungenes. The Willard Grant Conspi­racy scheiterten im Kreuzberger Privatklub am miserabel abgemischten Sound und sangen und spielten ganz verzweifelt und wütend da­gegen an. Robert Fisher kämpfte um seine Lieder, brach ab, versuchte es erneut, die Musiker gaben ihr Bestes, der Geiger malträtierte sein Instrument oder auch eine singende Säge wie ein Berserker, aber es war alles vergebens. Ich stand offenen Mundes in der ersten Reihe und war ergriffen: Hier meinte es einer absolut ernst mit seiner Kunst. (Daher auch mein CD-Tipp: die beiden letzten von WGC »Paper Covers Stone« und »Pil­grim Road«.) Scheitern als Ausdruck und Folge von Kompromisslosigkeit und Serio­sität – dem fühle ich mich nahe. Misserfolg kann auf­regender sein und mehr Respekt verdienen als das Gelungene.

 

Auch die Verlegerei ist ja ein andauerndes Ankämpfen gegen das Scheitern. Ganz erfolglos ist Lukas Verlag dennoch nicht. Vom Umsatz her betrachtet war 2009 sogar das zweiterfolgreichste Jahr seit der Gründung. Susanne Werner und ich wer­den mit wirklich interessanten Projektangeboten überhäuft und müssen so manches ablehnen, was wir eigentlich gerne gemacht hätten; die Bespre­chungen unserer Bücher sind fast alle positiv; wir gehören zu den Guten, werden geschätzt und geachtet. Die beiden Kataloge zu Heiligengrabe: in jeder Hinsicht solide. Die zweite Auflage der Geschichte des »Mosaik« von Hannes Hegen: nahezu aus­ver­kauft (und eine dritte Auflage in Vorbereitung). Das 190 Euro teure Monu­men­tal­werk zur Ber­li­ner Druckgraphik: binnen weniger Wochen hoffnungslos vergriffen. Die in bewährter Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand publizier­ten Bücher über das Leben des Adam von Trott zu Solz sowie mit einer Auswahl von Pre­digten, die in der Gedenkstätte Plötzensee zum Gedenken an die dort Hingerich­teten gehalten wurden: sorgfältig ediert (übrigens mit Abbildungen des Plötzenseer Toten­tanzes des un­längst verstorbenen Alfred Hrdlicka) und wie alle Titel dieser »weißen Reihe« edel gestaltet.

Dennoch gibt es beträchtliche Ermüdungserscheinungen, knirscht es im Ge­triebe, war es ein durchwachsenes Jahr, das hinter mich gebracht zu haben ich froh bin. Die Probleme begannen schon im Früh­som­mer, als Susanne unter Zeitdruck ein Werk bearbeitete, dessen zwei institutionellen Herausgeber – vorsichtig formuliert – nicht an einem Strang zogen und manche beteiligte Personen – vorsichtig formuliert – etwas schwergängig waren. Es war eine einigermaßen neue Erfahrung, dass man sich eine so schöne Arbeit wie das Büchermachen wegen banaler Machtspiele wirklich vermiesen kann.

Was danach kam, war bei weitem verstörender, empörender, auf­rei­ben­der und kraftzehrender und so überflüssig wie ein Kropf. Ich spreche natürlich von der Klage Katja Havemanns gegen Nicole Glockes Lebensgeschichte des Eugen Mühl­feit (vgl. die Presseerklärung des Verlages vom 30.8.2009). Ich habe bis heute nicht recht kapiert, was die Frau reitet, zugunsten eines weißgewaschenen Bild ihres Man­nes Robert in der Konsequenz ein Buch makulieren zu wollen sowie von der mitver­klagten Autorin und dem von deutschen Gerichten als Opfer anerkannten, in Folge seiner Haft gesundheitlich schwer angeschlagenen Sudetendeutschen Eugen Mühl­feit erst 50.000 Euro, dann 20.000 Euro »Schmerzensgeld« zu verlangen. Zwar ist die groteske Geldforderung inzwischen ganz vom Tisch, doch das unwürdige Gezerre hält an; der (erste?) Gerichtstermin wird Anfang Februar sein. Not­gedrungen habe ich viel gelernt bei der Sache, habe mich intensiv mit Stasi­akten­dreck und Juri­sterei befassen müssen, und mit der Birthler-Behörde, die sich in Teilen auf die Seite Frau Havemanns geschlagen hat, gibt es eine umfängliche Korrespondenz. Ich weiß selbst nicht genau, ob alles exakt so war, wie Eugen Mühl­feit berichtet hat, denn ich war ja nicht mit dabei, bin aber mit vielen guten Gründen davon überzeugt, dass Frau Havemann bewusst oder naiverweise Geschichtsklit­te­rung betreibt, wenn sie diese Erzählung im Kern bestreitet. Egal wie die ganze Sache am Ende aus­gehen wird – schon jetzt ist sehr viel verbrannte Erde und bei mir leider auch ge­schwun­dener Respekt vor einem Teil der ehemaligen Bürgerrechtsbewegung das bittere Ergebnis des Streits. Nicht einmal, dass das Buch nennenswert verkauft würde, kann auf der Habenseite verbucht werden.

Kaum hatte ich mich mit dem Rechtsstreit-Stress einiger­maßen arrangiert, trat neuer Ärger ins Haus. Er betraf das vom physischen Umfang her bisher gewaltigste Werk des Verlages. Da es nur durch enorme Eigenmittel des Autors zu finanzieren war, hatte es der Konstruktion einer eigens darauf zuge­schnit­­tenen GbR bedurft, was leider auch bedeutete, dass das klassisch-bewährte Verleger-Autor-Verhältnis mit seinen klar geregelten Verantwortlichkeiten nicht griff. Statt dessen kam es zu einem enervierenden, völlig unproduktiven Kompetenz­geran­gel und wohl auch zu einem Zusammenprall konträrer Mentalitäten und Sozialisatio­nen. Irgendwann eskalierten die Konflikte derart, dass ich aus dem eigentlich erfolg­reichen Pro­­jekt ganz ausstei­gen wollte. Wir machen jetzt in einer Art Vernunftehe irgendwie mit­ein­ander weiter, aber Liebe ist das nicht und Spaß macht es auch nicht.

Als ich mit dem Verlag anfing und dann über viele Jahre hinweg war die viele Arbeit von Lust und Freude und Kraft und Zuversicht bestimmt gewesen. Das strahlte positiv aus, und ich ver­mochte so, die dauernde ökonomische Un­sicher­heit und Selbstausbeutung gleich­sam in den Skat zu drücken. Heute, nach bald fünf­zehn Jahren, ist der Lukas Verlag bei aller Nischenhaftigkeit gut etabliert und funktio­niert mehr oder weniger routiniert, aber in die noch immer überreichliche Arbeit haben sich viele fremde Zwänge und Gereiztheiten gemischt. Das muss drin­gend anders wer­den. Ich denke da in verschiedene Richtungen. Zum einen werde ich voraus­sicht­lich mehr Manuskripte als bisher ablehnen, was keines­wegs immer gegen die Manu­skripte spricht, sondern einzig dem Bedürfnis geschul­det ist, das Geschäft weniger gehetzt zu betreiben. Das heißt, eine Option ist dessen bewusste Verkleinerung, damit es wieder übersichtlicher und beherrschbarer wird. Wohin die Gier nach stetem Wachstum führt, ist ja gerade im vergan­genen Krisenjahr deut­lich geworden. Zum anderen erwäge ich den allerdings riskanten Schritt einer per­so­nellen Verstärkung. Damit ich endlich wieder mehr mich selbst »meinen« Büchern widmen kann, möchte ich einen Gutteil der Vertriebs- und Öffent­lichkeits­arbeit an jemand Dritten abgeben. Wer das wo­mög­lich sein wird und ob es überhaupt finanzierbar ist, ist indes noch offen. Zum dritten schließlich möchte ich verstärkt auch solche Titel ins Pro­gramm nehmen, zu denen ich eine persönliche Bezie­hung habe. Eines der schönsten frü­he­ren Beispiele war 1999 die Samm­lung von Lebens­berichten »Durch­gangs­zim­mer Prenz­lauer Berg«. (Übrigens: Falls jemand jemanden kennt, der je­man­den kennt, der eine zweite Auflage dieses legendären Stan­dard­werks kofinan­zieren möchte, möge sich bitte melden!) Ich freue mich schon jetzt rasend auf das Projekt »Unerkannt durch Freundesland«, in dem es um unsere in den achtziger Jahren getätigten ille­ga­len Reisen durch die Sowjetunion gehen wird – eine von bestimmten Leuten damals vielfach praktizierte spek­ta­­kuläre Grenzüber­schrei­tung und Horizont­erweiterung, die wohl deshalb bis heute nahezu unbe­kannt geblieben ist, weil sie in so gar kein Ost-Klischee passt.

Zuletzt sei mir in guter alter Tradition die Weitergabe meiner kulturellen Bil­dungserlebnisse des verflossenen Jahres gestattet. Zur Musik habe ich mich bereits eingangs geäußert. An Büchern war keines darunter, das ich unbedingt auf die Insel mitnehmen müsste, aber das lag sicher auch an mir und der Tat­sache, dass ich zum Lesen gar nicht groß gekommen bin. Herta Müller zählt nicht, denn von deren Schrei­ben war ich bereits um 1995 herum schwer beeindruckt gewesen, als ich auf »Der Fuchs war damals schon der Jäger« stieß. Unter den paar Ländern, die unser­einer seinerzeit bereisen konnte, war Rumänien dasjenige, in dem ich mich (tram­pend, wandernd, radfahrend) am häufigsten und intensivsten aufgehalten hatte. Dass man das Leben in Ceausescus Destillat des Sozialismus in seiner reinsten und ärgsten Form auf so sprachmächtige wie poetische Weise zu großer Literatur zu machen vermag, hatte ich vor der Lektüre von Herta Müllers Büchern nicht glauben können. Nur bei Uwe Johnson, einem anderen meiner Säulenheiligen jüngerer deut­scher Literatur, habe ich bisher eine vergleich­bare Wucht und Feinnervigkeit erlebt. – Wer sich noch einmal quasi ab­schließend mit den politischen und kulturellen Vor­gän­gen in der DDR befassen möchte, dem kann ich Werner Mittenzweis (schon 2001 erschienene) souveräne Studie »Die Intellek­tuellen« empfehlen. Vieles weiß man natürlich, hat man es doch damals so oder so ähnlich mitbekommen (müssen), aber ich lese da auch manches, was ich bisher so noch nicht auf dem Schirm hatte.

Bei den Kinofilmen des Jahres 2009 muss ich nicht lange nachdenken. Dem formstrengen, eigensinnigen, verstörenden Werk »Das weiße Band« von Michael Haneke gebührt klar die Krone. In einer protestantisch-dörflichen Gesellschaft um 1914 voll (männlicher) Unterdrückung, Verdrängung und Verschweigen sucht sich die erlittene Gewalt einen Weg. Die Kinder des Dorfes, eigentlich Opfer, morden oder malträtieren zunächst ihre Peiniger, dann aber auch die Unschuldig-Schwächsten. In einigen Kritiken war zu lesen, hier seien die Vorbedin­gungen für den Nationalsozia­lismus beschrieben worden. Mir scheint solch ein nur historischer Blick zu eng. Wie stets bei großer Kunst weist die Geschichte über das unmittelbar Erzählte hinaus. Man könnte beim Nachdenken über den Film ebenso gut über die Kindheitsmuster von schwäbischen RAF-Terroristen, sächsischen Neo­nazis, islamistischen Atten­tätern oder normal-perversen Konsumenten von Splatterfilmen räsonieren.

Während ich diese Zeilen übers Jahresende ins Notebook schreibe, sitze ich in unserem schönen Haus in der verschneiten Prignitz. Rosenwinkel mit seinen Fel­dern und Wäldern und Freunden ist für mich zum dringend notwendigen Rück­zugs- und Ausstiegsort aus der zermürbenden beruflichen Überforderung und aus der Banalität des verprenzelten Prenzlauer Bergs geworden. Im Jahr 2010 werden Gudrun und ich neunundneunzig, unsere Ehe zehn, Lisa zwanzig Jahre alt, und den Hof haben wir dann auch schon fünf Jahre lang. Das sollten Gründe genug sein für ein mal wieder so richtig schönes Fest hier draußen, und zwar im Juli am Vortag des Endspiels der Fußball-WM. Wir sind derzeit auf der Suche nach der wildesten aller Com­bos, die in der Scheune zur allgemeinen Ergötzung aufspielen soll; die Ein­ladungen verschicken wir dann irgendwann im Frühjahr. Bis dahin verbleibe ich mit den besten Wünschen für das soeben angebrochene neue Jahr

Frank Böttcher