Liebe Freunde, Autoren und Kollegen,

am 1. Dezember 2015 wird sich die Gewerbeanmeldung des Lukas Verlags zum zwanzigsten Mal jähren. (Weil die ersten beiden Bücher erst im Frühjahr 1996 das Licht der Welt erblickten, soll aber mit der Jubiläumsfeier noch etwas gewartet werden.) Bei der Gründung war ich fünfunddreißig Jahre alt. Ich wusste damals sehr wohl, was ich tat und worauf ich mich einließ, trotzdem war das ganze Unterfangen größenwahnsinnig und naiv.

Dass es immer mal wieder heftige Schwierigkeiten bis an die Grenze des Scheiterns geben könnte, musste ausgeblendet werden, um nicht gleich den (Über-)Mut zu verlieren. Heute, mit Mitte fünfzig, komme ich aus der mich auch erschöpfenden Nummer partout nicht mehr heraus und hadere zuweilen mit den dadurch zu wenig ausgelebten anderen Möglichkeiten des Lebens, weiß dabei aber immer, dass die Verlegerei zu den allerschönsten Tätigkeiten dieser Welt zählt und dass der Lukas Verlag im Laufe der Jahre zu einem der wirklich guten, renommierten im Lande geworden ist, weshalb der Stolz über das Erreichte den Missmut über das Nichterreichte deutlich überwiegt.

Größenwahnsinnig mag auch die Edition des im Sommer 2015 erscheinenden Werks »Gärten und Parke in Brandenburg. Die ländlichen Anlagen in der Mark Brandenburg und der Niederlausitz« scheinen. Dieser fünf große Bände umfassende, rund 2600 Seiten starke, an die zwanzig Kilo schwere, eventuell in China gedruckte Titel wird nicht nur in physischer Hinsicht der mit Abstand umfangreichste, gewichtigste und am dauerhaftesten gültige der Lukas-Geschichte sein. In gewisser Weise kulminiert in ihm unser von Anfang an verfolgtes kultur- und landesgeschichtliches Engagement für die brandenburgisch-berlinische Region. Es handelt sich um das grandiose Lebenswerk des 1937 geborenen Folkwart Wendland und seines Vaters Folkwin (1910–2006). Scherzhaft sagte ich einmal zu meiner Frau, dass das gewaltige Opus entweder einst auf meinem Grabstein eingemeißelt oder der Grabstein selbst sein wird. Sie mochte darüber nicht so recht lachen. Fakt ist, dass auch ich gehörigen Respekt vor der enormen finanziellen und logistischen Herausforderung habe. Jede einzelne Subskriptionsbestellung (320 statt 420 Euro!) vermag meine Sorge zu verringern, deshalb möchte ich Sie bitten, alles Ihnen Mögliche zu tun, um das Werk bekanntzumachen und zu bewerben!

Im letzten Jahr verantworteten wir über dreißig Neuerscheinungen: mehr als je zuvor und gewiss zehn mehr als vernünftig. Der Umsatz ging in Ordnung, und anders als 2013 gilt das glücklicherweise auch für den Ertrag. Ein gutes Drittel der Jahresproduktion widmete sich der Region Brandenburg und davon wiederum die Hälfte allein der Lausitz. Vier Titel befassten sich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, fünf mit der DDR-Geschichte. Ohne die übrigen Bücher geringer zu schätzen, möchte ich hier erwähnen das abwechslungsreiche, bisher recht erfolgreiche Stasiakten-Lesebuch »Genossen, wir müssen alles wissen!«, die Würdigung der bedeutenden Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß »brennzeiten«, die originellen Erinnerungen einer mutigen jungen Frau im Berlin der letzten Kriegsjahre »Über Mut im Untergrund«, Tilo Schöfbecks umfassende Darstellung »Mittelalterliche Kirchen zwischen Trave und Peene«, Gerd-Helge Vogels historischen Bilderbogen des Zwickauer Muldenlands »Von Stein bis Wolkenburg« oder auch »Die Nieder- und Oberlausitz im Bild historischer Karten«.

Im Oktober waren wir erneut mit einem Partnerstand der Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf der Frankfurter Buchmesse vertreten. Die Woche endete mit dem traurigen Entschluss, uns dort dauerhaft zu verabschieden. Nie zuvor habe ich die Messetage so bar jeglichen Interesses des Buchhandels, der Presse und des akademischen Fachpublikums erlebt wie diesmal. Nun bin ich gespannt und vorsichtig optimistisch, ob es im kommenden März in Leipzig anders sein wird. Was ich indes bereits weiß, ist, dass wir in Leipzig auch diesmal nicht den Kurt-Wolff-Preis verliehen bekommen werden. Es gibt halt zu viele andere unabhängige gute Verlage, die ihn ebenso verdienen wie wir, und leider ist unser Programm den Juroren wahrscheinlich auch nicht edel, nicht belletristisch-schöngeistig genug.

Zu erwähnen ist ferner, dass seit letztem Sommer Regina Vogel vom Büro Indiebooks unser Programm mit frischem Schwung in den Neuen Bundesländern und Hessen vertritt.

Wer als Autor oder Freund einmal in unseren bescheidenen, mittlerweile arg engen Büroräumen war, weiß, dass sie sich im Seitenflügelparterre eines genossenschaftlich organisierten Wohnprojekts befinden und dass der Verleger im selben Haus auch seine Wohnung hat. Diese Situation garantiert dem Verlag nicht zuletzt eine solide, langfristig planbare Mieten- und Raumsituation. Um so schockierender war, als im letzten Frühjahr bekannt wurde, dass der Eigentümer des Nachbarhauses dort den Neubau eines Seitenflügels plant, mit dem er nicht nur die überwiegend alten Mieter in seinem eigenen Vorderhaus aus ihren (öffentlich geförderten!) Wohnungen drängen will, sondern auch zahllose Fenster im Seitenflügel unseres (öffentlich geförderten!) Hauses brutalstmöglich schließen wird. Noch ist nichts entschieden, aber wenn der Investor mit seinen asozialen Plänen bei der Bauaufsicht durchkommen sollte, müssten drei äußerst wichtige Südseitenfenster des Verlages und vierundzwanzig weitere in zehn Wohnungen zugemauert werden – mit der Folge radikal verschlechterter Wohn- bzw. Arbeitsverhältnisse, die an schlimmste Berliner Zustände aus Zilles Zeiten erinnern. Unser genossenschaftliches Haus ist eines der wenigen im Kiez, wo es keinen achtzigprozentigen Bevölkerungsaustausch seit 1989 gegeben hat und wo die Mieten anständig geblieben sind. Es gibt per definitionem keine Kündigungen wegen Eigenbedarfs, ja es gibt nicht einmal Eigentumswohnungen. Wenn nun aber auch hier skrupellose Bauherren und Architekten kaltlächelnd ein letztes soziales Refugium zerstören können, frage ich mich schon mit einer gewissen Bitterkeit, ob es das war, wofür unsereins vor fünfundzwanzig Jahren begeistert demonstriert hatte. Wie hieß es einmal in einer Fußnote bei Marx? – »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv und waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

Ich wende mich wie üblich dem »Sonstigen« zu.

Gudrun und ich bereisten im Sommer den Süden Finnlands und die Ålandinseln und folgten dabei ein wenig den Spuren meiner Großeltern, die dort zwischen 1922 und 1934 gelebt und gearbeitet hatten. Weiter fort soll es uns voraussichtlich im Juni 2015 treiben, nämlich nach Georgien. Ich selbst war dort zuletzt im Sommer 1987, Gudrun jüngst im Herbst mitsamt ihres Frauenchors. Ich bin schon jetzt aufgeregt zu erfahren, in welchem Zustand dieses mir immer ungemein wichtige, beeindruckende, von den russischen Imperialisten und seiner eigenen Zerrissenheit gerupfte Land sich heute befindet und wie es den alten Freunden, die ich hoffentlich alle wiedertreffen werde, ergangen ist.

Unter den Filmen, die zu sehen ich nicht verpasst habe, fallen mir spontan drei als besonders interessant ein. Vom Thema her scheinbar völlig aus der Zeit gefallen, in der Erzählhaltung aber faszinierend frisch, irisierend, leidenschaftlich und freiheitlich ist Dominik Grafs Versuch über die nicht belegte, aber auch nicht unmögliche Ménage-à-trois zwischen Schiller und den Lengefeld-Schwestern. Man möchte den Film jener Generation, der neuerdings in Berlin sogar das Verbrechen angetan wurde, dass man ihr den Geschichtsunterricht in Klasse 5 und 6 strich, zur Pflicht machen, auf dass sie ein Gefühl dafür bekäme, wie unvergangen alles Vergangene sein kann. – Dasselbe gilt auch, wenngleich mit einer größeren Schwere und Strenge, für »Phoenix« von Christian Petzold (für mich seit je Fassbinders einzig legitimer Erbe). Das existentielle, dunkle Spiel zwischen Nina Hoss und Ronald Zehrfeld hat mit Auschwitz und seinen Folgen nur vordergründig zu tun. Auf einer anderen, tieferen, berührenderen Ebene geht es darum, wie Identität definiert und erzählt und erkannt wird. Auschwitz ist die Folie, auf der Liebe, Verrat, Ich-Bildung und Gedankenlosigkeit verhandelt werden, ohne dass es billig oder bemüht wirkt. Den Bedenkenträgern ins Stammbuch: Man darf das, und Petzold kann das! – Man darf und kann das genauso, wie Jim Jarmusch einen Vampirfilm drehen darf und kann, der sich der Klischees des Genres virtuos bedient und dabei zärtlich-poetisch eine Hommage an die dem Untergang geweihte Welt reiner Intellektualität bebildert. Der untote, aber lebensmüde Tom Hiddleston und die messerscharf kluge, ironische Tilda Swinton kreisen des Nachts leidenschaftlich und anspielungsreich um die ewiggültigen Maßstäbe der Kunst und bilden zugleich ein wunderschönes Modell, wie eine Liebe über Jahrhunderte voll Lebendigkeit, Fürsorge und Weisheit am Leben gehalten werden kann. Die vielen launischen Kunstverweise reizen den Verstand des Wissenden; die schöne Melancholie in der Ehe rührt das Herz des Fühlenden. Und schließlich – wie immer bei Jarmusch –, welch großartiger Soundtrack, der nicht aufgesetzt, sondern Teil der Story selbst ist! Vollkommen gebannt wie Adam und Eve, die Protagonisten des Films, erlebt auch der Zuschauer am Ende des Films den Auftritt der libanesischen Sängerin Yasmine Hamdan. Und bestellt sich noch am nächsten Tag deren Platte.

Womit ich bei der Musik wäre. Vor kurzem habe ich mir aus dem Vorerbe meiner Eltern endlich eine richtig gute Anlage zum Hören und Genießen derselben gekauft. Ob Monteverdi oder The Band, ob Pentangle oder PJ Harvey, jedes Mal höre ich neuerdings Dinge, die bisher im Klangbrei verloren gegangen sind. Und muss mich zwingen, die Stopptaste zu drücken und im Verlag meine Pflicht zu tun… Das Konzert des Jahres fand im Mai im Privatclub statt. Der bis dato mir völlig unbekannte Israel Nash Gripka und seine Band spielten beseelt alle ihre wundervollen Country-Rock-Titel. Sie klingen wie aus den Siebzigern, irgendwo wie vom besten Stones-Album »Exile On Main Street« oder von Neil Young, und doch auch wieder wie ganz aus dem Heute, vollkommen frisch und souverän. Fast hatte ich nicht mehr daran geglaubt, dass einer noch zu so runden, teils hymnischen, teils rockigen, teils elegischen Melodien fähig ist, und großartig war auch die ungemein dicht aufspielende Band. Und so wundert es nicht, dass meine CD des Jahres »Rain Plans« ebenfalls von Israel Nash stammt, und weil’s so schön war, muss man gleich noch den nicht minder starken Vorgänger »Barn Doors and Concrete Floors« einlegen, und dann das alles sofort wieder von vorn!

Es bleiben die Bücher. Eine große Überraschung war »Vor dem Fest« von Saša Stanišić. Der 1978 in Bosnien Geborene, im Alter von vierzehn Jahren nach Deutschland Geflohene gräbt sich mit enormer (deutscher!) Sprachmacht und poetischer Freude durch den heutigen Alltag und die abgründigen geschichtlichen Wurzeln einer fiktiven uckermärkischen Kleinststadt namens Fürstenfelde mit all ihren Originalen, Verlierern und Aufrechten. Hartz IV und Dreißigjähriger Krieg, Heimat und Auflösung derselben, Nüchternheit und Mythos durchdringen einander, dass einen warm ums Herz wird. – Kalt ums Herz wird einem bei der Lektüre von Andreas Altmanns Reisebericht »Verdammtes Land. Eine Reise durch Palästina«. Man mag des Autors (biographisch erklärbaren und im Prinzip nachvollziehbaren) antireligiösen Furor nicht immer teilen, zumal er ermüdend häufig und gar zu selbstgerecht zelebriert wird, aber die enorme Offenheit, mit der sich Altmann den verschiedensten menschlichen Begegnungen und Situationen stellt, beeindruckt und macht mehr als nachdenklich, was die Bewertung der Nachrichten aus dem permanenten Krisengebiet betrifft. Falls man je Sympathie für die aktuelle israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik oder für den ultra-orthodoxen Fundamentalismus empfand, so ist man nicht erst am Ende der dreihundert Seiten davon geheilt. – Obwohl gerade erst mit dem Lesen angefangen, bin ich jetzt schon begeistert von Lutz Seilers Hiddensee-, DDR-, Aussteiger- und Selbstfindungsroman »Kruso«. Vor allem die sinnlich-präzise Sprache zieht mich in einen Sog, wie ich ihn wohl schon jahrelang in der Literatur vermisst habe. Wenn ich in ein paar Tagen am 5. Januar wieder im Verlag sitze, will und werde ich das Buch mit Sicherheit ausgelesen haben. Für den zwischenzeitlich sich ereignenden Jahreswechsel und das ganze kommende Jahr wünsche ich allen, die dem Lukas Verlag oder/und mir persönlich gewogen sind, wie immer von Herzen viel Kraft, Gesundheit und Zufriedenheit sowie intellektuellen Zugewinn und aufwühlende Kunsterlebnisse!

Frank Böttcher